Der 17. Juni 1953 im
Seydaer Pfarrhaus.
Eine Recherche nach 50
Jahren.
„Ich bin ein Fremder gewesen, und Ihr habt mich aufgenommen... Was Ihr getan habt einem von diesen meinen geringsten Brüdern, das habt Ihr mir getan.“
Jesus
Christus, nach Matthäus 25,35.40
1953:
Das war eine schwere Zeit! Nach Nazi-Diktatur, Krieg, Zusammenbruch kam der
„Kalte Krieg“, und er wurde auf beiden Seiten mit äußerster Härte und oft auch
mit größter Brutalität geführt. Die Kirchengemeinde in Seyda war mittendrin in
diesen Zeiten, und es wurde ihr geschenkt, dass durch sie an einer Stelle das
Licht des Evangeliums leuchten konnte wie ein Stern in der dunklen Nacht.
„Nun aber bleiben: Glaube, Hoffnung, Liebe: Diese drei. Aber die Liebe ist die Größte unter ihnen.“
(1 Kor 13,13 - Pfarrer Hagendorf in seinem letzten Brief nach Seyda)
Den
tapferen Frauen
im
Seydaer Pfarrhaus
in
Dankbarkeit gewidmet
Ruth
Hagendorf
Gertrud
Lent
Renate
Mauer
Waltraud
Schlauraff
Christel
und Lotti Podstawa
Nach
der Niederschlagung des Aufstandes vom 17. Juni 1953 fanden Streikführer aus
Wolfen und Bitterfeld Zuflucht im Seydaer Pfarrhaus. Einer von ihnen war
Wilhelm Fiebelkorn. Er lebt heute als Lehrer im Ruhestand in Hessen. Von ihm
konnte ich erfahren, was sich damals zutrug. Zunächst folgen seine schriftlich
niedergelegten „Erinnerungen an die Vorgänge des 17. Juni 1953“. Daraus wird
deutlich, um was es ging. Dann hat er mir mündlich erzählt, wie er nach Seyda und
von dort in die Freiheit gelangt ist. Dieser Bericht schließt sich an. Deutlich
davon abgesetzt habe ich Ergänzungen aus anderen Quellen.
Herzlichen
Dank an Familie Fiebelkorn für ihre Auskünfte!
Thomas Meinhof, Pfarrer
in Seyda
1.12.2003
Wilhelm
Fiebelkorn berichtet:
Vorgeschichte
Es
ist der 16. Juni 1953. Ein frühsommerlicher Nachmittag. Meine schulischen
Vorbereitungen habe ich erledigt. Um mich zu entspannen, unternehme ich eine
Radtour von Bitterfeld nach dem 5 Kilometer entfernten Friedersdorf. Meine Frau
mit den beiden Kindern hält sich dort bei ihren Eltern auf. Ich schlendere in
Begleitung eines Bekannten durch das Dorf. Ein mir bekannter Handwerksmeister
spricht mich an: „Herr Fiebelkorn, wissen Sie schon das Neueste?“ Ich verneine.
Was soll es schon Neues geben nach Stalins Tod? Die Regierung hat nachgegeben
in Punkto Kirchenfragen, eine Sache, die uns alle bewegte, denn wir sahen die
beiden Kirchen als das Bollwerk gegen den Bolschewismus an. Auf der anderen
Seite waren die Preis-, Steuern- und Normschrauben wieder angezogen worden.
Auf Protest der Arbeiter wurde die Normsteigerung wieder zurückgenommen. Ich
schaute den Fragenden wartend und mit der Schulter zuckend an. „Was ist?“
fragte ich. „In Berlin streiken die Bauarbeiter der Stalinallee. Der RIAS (Rundfunk Im Amerikanischen Sektor, aus
West-Berlin) hat das gemeldet. Alle Stunden gibt er Berichte.
Der nächste ist um 17 Uhr fällig.“ Ungläubig hörte ich ihn an. „Komm mit“,
wurde er vertraulich, „der RIAS läuft bei mir. Er geht nicht mehr aus.“ Ein
Schauer von Gefühlen durchzog mich. „Ich kann es gar nicht glauben! Das muss
ich hören! Eher geht die Welt unter, als dass der deutsche Arbeiter streikt,“ warf ich ein, um nur etwas zu sagen. (Ein Zitat von Lenin. Er spottete, die
deutschen Revolutionäre würden bei der Besetzung eines Bahnhofs vorher eine
Fahrkarte lösen.) Dann waren wir bei ihm. Im Zimmer befanden
sich seine Frau und Kinder sowie auch noch einige mit der Familie befreundete
Nachbarn. Dann kam die Meldung. Ich war wie betäubt von der in mir
aufsteigenden Begeisterung. Ich war glücklich: „Seit heute morgen um 10 Uhr
streiken die Bauarbeiter der Stalinallee. Sie gingen auf die Straße und
protestierten gegen die Normerhöhung. Auf dem Marsch zum Ostberliner Ministerium
schlossen sich im Nu Tausende und Abertausende von Menschen an. Ihre Teilnehmer
werden auf Zehntausende geschätzt. Aus diesem Proteststreik ist eine
Volkslawine geworden. Aus der Unzufriedenheit über die Normerhöhung wurden in
Sprechchören auch Unmutsäußerungen gegenüber der Regierung in Ostberlin laut.
Einige Forderungen der Sprechchöre: ´Spitzbart, Bauch und Brille sind nicht des
Volkes Wille! Wir fordern den Rücktritt des Ulbricht-Regimes! Wir fordern ein
Ende der Norm, Steuern- und Preisspirale!´“
So ähnlich kam damals die
Meldung durch den RIAS. Ich konnte es nicht fassen. Wir sprachen noch etwas.
Was, weiß ich nicht mehr, vielleicht so: „Dazu sind die mitteldeutschen
Arbeiter gar nicht imstande. In West-Berlin herrscht Freiheit. Da erlauben sich
die Menschen mehr. Das färbt ab.“ Einige Zeit später verließ ich den
Handwerksmeister, schickte ein Kind mit meinem Fahrrad zu den Schwiegereltern
und suchte im Dorf das Gespräch mit den Leuten. Mehr oder weniger hatte es sich
schon herumgesprochen. Ich fragte den einen und den anderen: „Wie wollt Ihr
Euch verhalten? Wollt Ihr Euch nicht solidarisch mit den Bauarbeitern erklären?
Die wollen morgen weiterstreiken!“ Achselzucken war alles. Ein bisschen in Rage
sagte ich denen: „Dann meckert mir in Zukunft nicht die Ohren voll. Dazu
spreche ich Euch das Recht ab.“ Einige wenige meinten: „Wollen sehen, was
morgen im Betrieb los ist. Allein können wir nichts machen.“ – „Ich rufe Euch
dann an und höre.“
Zu Hause erzählte ich begeistert die Neuigkeit. Schwiegermutter und Frau sahen mich betroffen an und baten mich, meinen Mund zu halten.
Der
17. Juni, vor dem Unterricht
Am
anderen Morgen stand ich sehr früh auf. Um sechs Uhr fuhr ich schon los. Ich
war hochgestimmt und erwartete, dass die Arbeiter wie auf ein Kommando die
Arbeit niederlegen und nach Bitterfeld marschieren würden. Ich führte beim
Hausmeister, den ich unter einem Vorwand abschieben konnte, mehrere Telefonate
mit dem EKB und AGFA-Wolfen. Die Antworten waren nicht gerade so, dass sie
meine Begeisterung steigern konnten; im Gegenteil. Missmutig gab ich meine
Bemühungen auf. Dann trafen die ersten Lehrer ein. Ich sprach sie an, erzählte
ihnen von den Vorgängen in Ost-Berlin; alle waren wenig gesprächig. Man ließ
mich stehen. Das war ihnen ein zu gefährlicher Gesprächsstoff. Ein Kollege
meinte zu mir im Weggehen: „Willi, des Brot ich eß´, des Lied ich sing!“
In
der Klasse
Enttäuscht
und resigniert ging ich in die Klasse. Nach der ersten Begrüßung kam die jeden
Morgen von mir gestellte Frage: „Was gibt es Neues?“ Mit dieser täglichen Frage
wurden wichtige Tagesereignisse kurz besprochen. – Keine Antwort. Die Schüler
waren nicht nur verschlossen, sondern abwehrend still. Eine Haltung, die ich
von ihnen nicht gewohnt war. Wir hatten ein offenes Verhältnis miteinander. Sie
wussten, wie ich mich für jeden von ihnen einsetzte bzw. eingesetzt hatte. Ich
dachte in diesem Augenblick an Gernoth, den ich aus dem Gefängnis geholt hatte,
in dem er sich aber frei bewegen konnte. Man hatte ihn dort untergebracht, weil
seine Mutter wegen Republikflucht zu 1 ½ Jahren Zuchthaus verurteilt worden
war. Jürgen hatte wohl von zu Hause die strikte Anweisung, auf keinen Fall über
die Vorgänge in Berlin zu sprechen. Ich stellte die Aufgabe, einen Aufsatz über
Gerhard Hauptmanns „Die Weber“ zu schreiben. Selbst hatte ich nicht die innere
Sammlung zum Unterrichten. Immer wieder schaute ich sinnend zum Fenster hinaus.
Gegen 8.30 Uhr kam ein kleiner Zug FDJ-ler mit Schalmeien-Spielmannszug.
Verbittert drehte ich mich um und dachte: „Der Deutsche ist zum Streik nicht
fähig.“
9.30
Uhr, die Arbeiter kommen
Dann
aber, es war so gegen 9.30 Uhr, schob sich eine schwarze Wand wogend vorwärts
über die Bahnüberführung dicht an unserer Schule. Die Arbeiter kamen! Vor
Erregung schlug mein Herz bis zum Hals. Ich sah, dass die Arbeiter sich
gegenseitig untergehakt hatten. Ein jeder zog und schob jeden. Die Fühlung, die
Masse, machte sie stark und mutig. Vor der schwarzen Menschenmasse ging ein
einzelner Mann: Paul Othma.
Mit gepresster Stimme
rief ich den Schülern zu: „Eure Väter, die Arbeiter, kommen. Sie streiken!“ Im
Nu sprangen alle auf und standen an den Fenstern. Darauf rief ich: „Für heute
ist der Unterricht zu Ende. Läutet die Feuerglocke! Alle sollen es hören!
Schreit durch die Gänge: Die Arbeiter streiken! Dann geht nach unten. Da lernt
Ihr heute mehr Geschichte als sonst!“
Ich
war wie in einem Rausch. Zuerst stand ich an der Hoftür. Schüler stürmten aus
der Schule. Fenster wurden aufgerissen. Einige Lehrer standen plötzlich neben
mir. „Machen wir mit?“ fragte ich sie. Sie standen da, offenbar von dem
Ereignis völlig überrascht, unfähig, etwas zu sagen. Vielleicht dachten sie in
diesem Augenblick weiter als ich. Sie blieben passiv.
Mit einem inneren Ruck
löste ich mich aus der Lehrer- und Schülerschar, trat auf die Spitze des Zuges
zu und rief der ersten Reihe entgegen: „Ich bin auch einer von Euch! Ich denke
wie Ihr! Ich erkläre mich mit Euch solidarisch! Ich will mit Euch marschieren!“
„Lehrer sind 100%ige!“
rief einer. Othma rief mir zu: „Reihe Dich ein!“ Ein anderer rief: „Gleich in
die zweite Reihe! Wenn es knallt, dann bist Du auch dran!“
Ich beteiligte mich an den Sprechchören. Als ich merkte, dass diese sich wiederholten, formulierte ich neue. Das war die Aufgabe, die ich mir nun selbst stellte. Wir kamen an der Feuerwehr vorbei. Arbeiter rissen die bolschewistischen Embleme ab. Ich sah es mit innerer Genugtuung. In diesem Augenblick formulierte ich die erste gegen die Regierung gerichtete Forderung: „Wir fordern den Rücktritt des Ulbricht-Regimes!“ Eine Stimme erscholl von hinten: „Nicht so scharf! Wir streiken gegen die Norm-, Preis- und Steuerschraube!“ Mich kümmerte das nicht. Die Begeisterung riss mich mit. Ich schrie meinen angestauten Zorn gegen die korrupten kommunistischen Funktionäre heraus. Sie sollten weg. Ganz weg! „Rücktritt der SED-Regierung!“ Kaum ein Fenster der Wohnstraßen blieb geschlossen. Alle waren offen. Frauen warfen Blumen auf die Streikenden. Viele winkten, da die Taschentücher zu klein waren, mit Bettlaken. Von dieser Flut der Begeisterung wurden alle angesteckt. Die Bitterfelder Einwohner reihten sich ein. Geschäfte schlossen, die Besitzer und Angestellten gingen mit. Die Stadt befand sich in einem Begeisterungstaumel. Nicht nur von mir, sondern von allen Seiten wurden nun politische Forderungen erhoben, von den Sprechchören angenommen und durch die Straßen geschrieen. Othma, der vorher rückwärts gegangen war, um den Zug im Auge zu behalten, ging nun selbst vorwärts. Er führte den Zug der Streikenden auf die Binnengartenwiese.
Auf
der Binnengartenwiese, 10.30 Uhr
Ein
Lautsprecherwagen der AGFA stand uns zur Verfügung. Othma sprach. Er redete
u.a. über diesen erhebenden Tag, der eine einzigartige Solidarität der Arbeiter
zeigte.
Was war nun weiter zu
tun? Wie sollte es weiter gehen? Der nächste Schritt bahnte sich an. Ein
Streikender sagte plötzlich neben mir: „Im Rathaus befindet sich der Anschluss
für den Stadtfunk.“ Das teilte ich Othma mit und bat ihn, die Menge ein wenig
hinzuhalten. Ich hätte die Absicht, den Stadtfunkanschluss zu holen. Mit zehn
Mann liefen wir zum Rathaus. Die Tür war verschlossen. Wir pochten dagegen.
Eine Frauenstimme hinter der Tür fragte nach unserem Begehr. Wir forderten das
Öffnen des Rathauses und die Herausgabe des Anschlusses für den Stadtfunk. Das
wurde uns verweigert. Ich rief: „Dann brechen wir die Tür auf!“ Darauf die
Frau: „Wir haben Kinder für unseren Schutz als Geiseln eingeschlossen!“ Ich:
„Passiert denen etwas, geht es Euch schlecht!“ – „Wir machen nicht auf!“
schallte es zurück. „Dann holen wir alle!“ Aufgrund dieser Drohung wurde uns
geöffnet. „Wo sind die Kinder?“ war meine erste Frage. „Das haben wir nur aus
Angst gesagt“, antwortete die Frau. Man händigte uns den Stadtfunkanschluss
aus, und ab ging es zum Platz. In ein paar Minuten war der Anschluss
hergestellt. Das Mikrofon wurde auf das Dach eines Traktors gestellt. Othma und
andere sprachen zu den Menschen. In der Zwischenzeit schrieb ich mir eine
Rededisposition auf. Als ich auf den Traktor steigen wollte, drängte sich der gerade
herabsteigende Sowada an mich und sagte: „Gib her! Ich erledige das sofort für
Dich!“ Ich lehnte das ab mit den Worten, ohne Böses zu denken: „Ein jeder muss
das, was er heute sagt, selbst verantworten.“
Als ich dann auf den
Traktor stieg, wusste ich: Ich spiele mit vollem Einsatz. Siegen wir, dann ist
alles in Ordnung. Bleibt der Russe und das Ulbricht-Regime an der Macht, dann
ist Heimat, Arbeit, Freiheit, unter Umständen das Leben in Gefahr. Dann gibt es
nur noch eines: Flucht nach West-Berlin. Das waren meine tatsächlichen
Gedanken, als ich vor dem Mikrofon stand.
Ich überlegte mir die
Anrede. „Genossen und Genossinnen“ konnte ich selbst nicht mehr hören. Darum
begann ich mit gepresster Stimme, weil ich selbst nicht wusste, was richtig
wäre, mit folgenden Worten: „Deutsche Schwestern und Brüder! Seit acht Jahren
warten wir auf die versprochene Einheit und Freiheit, auf ein demokratisches
Deutschland. Statt der Demokratie erleben wir eine Neuauflage der Diktatur.
Statt der braunen herrscht heute die rote. Nur die Farbe, nicht aber die Art
hat sich verändert. Die Angst lastet auf uns. Heute nun sind wir endlich frei.
Heute haben wir unsere Geschicke selbst in die Hand genommen. Heute sind wir
frei und wollen frei sein. In den Schulen soll nicht mehr der Marxismus,
sondern auch der Idealismus gelehrt werden, damit sich die heranwachsende
Jugend ihr eigenes Weltbild aufbauen kann. Wir wollen nicht mehr für die
Zukunft arbeiten, wir wollen nicht mehr für die Zukunft unserer Kinder
arbeiten, wir wollen für uns arbeiten. Wenn es uns gut geht, dann geht es auch
unseren Kindern gut, dann ist auch die Zukunft gesichert. Wir erheben die
folgenden Forderungen:
Über alle Punkte wurde
einzeln abgestimmt, weil ich der Meinung war, dass die Menschen wissen sollten,
was gefordert wurde. Sie sollten bewusst die Hand heben. Meine Forderungen
wurden einstimmig mit der Zustimmung der rund 45.000 Menschen verabschiedet.
Danach
forderte ich die Streikenden auf, Gruppen zu bilden, die in andere Städte
fahren sollten. Sie sollten dort mit den Betrieben Kontakt aufnehmen, damit der
für den 18. Juni geplante Generalstreik Erfolg hätte. Insbesondere sollten sie
unseren Forderungen den richtigen Nachdruck verleihen. Anschließend wurde von
mir die Anweisung erteilt: das Krankenhauspersonal, das E-Werk-, Wasser- und
Gaswerkpersonal sowie das Versorgungspersonal bleiben in Arbeit. Die
Belegschaften übernehmen die Betriebe. Es wird weiter gestreikt. Während dieser
Anweisungen gab es den ersten Zwischenfall: Der Kulturdirektor Hellwig vom EKB
hatte sich mit Gewalt an den Traktor gedrängt und wollte über das Mikrofon zur
Menge reden. Ich lehnte sein Ansinnen mit den Bemerkungen ab: „Herr Hellwig,
wir kennen uns doch. Bei der letzten geheimen Wahl haben Sie aus 32% Ja-Stimmen
68 2/3 % gemacht. Sie haben acht Jahre lang gelogen, Sie haben die Wahl
gefälscht, Sie sind ein Wahlfälscher! Für solche Arbeiterlumpen und
Arbeiterverräter ist hier oben kein Platz mehr.“
Einige
Männer packten ihn und wollten ihn durchprügeln. Das unterband ich mit den
Worten: „Wer ein Verbrechen begangen hat, soll vor ein ordentliches Gericht
gestellt werden. Wir machen uns an einer solchen Kreatur nicht die Finger
schmutzig. Acht Jahre lang haben wir auf die Demokratie gewartet. Demokratie
bedeutet Humanität und Toleranz, aber auch Freiheit und Recht. Wir wollen nicht
mit Blut beginnen. Hitler begann mit Blut und endete unter Mitnahme von
Millionen im Blut. Macht eine Gasse und lasst ihn laufen!“
Um die Forderungen auch
zur Durchführung zu bringen, musste ein Streikkomitee gewählt werden. Ich
schlug vor, dass der Führer Paul Othma ins Komitee gewählt werden sollte.
Begeistert fand er die Zustimmung aller. Die einzelnen Betriebe sollten einen
Mann nach vorne schicken, der dann gewählt werden sollte. Ich wollte mit dieser
Schauwahl verhindern, dass sich trübe Elemente einschlichen. Othma übernahm die
weitere Wahl. Zu den Männern gehörte auch Sowada. An irgendeiner Stelle wurde
auch ich von Paul Othma hochgerufen, vorgestellt, vorgeschlagen und gewählt. 18
waren es insgesamt.
Eine
Polizeiaktion führt zur nicht geplanten Wende
Nachdem
ich das Deutschlandlied zu unserer Nationalhymne erklärt hatte, sangen wir sie
jetzt. Darauf wollte ich die Streikkundgebung gerade beenden, als sich ein Zwischenfall
ereignete. Irgend jemand rief: „Man verhaftet am Rande
des Platzes Streikteilnehmer!“ In diesem Augenblick standen Göricke, Sowada und
Othma hinter mir auf dem Dach des Traktors. Göricke wandte sich mit einer
Spontanforderung an mich: „Die holen wir raus! Die befreien wir!“ Ich teilte
den Tausenden dieses Ereignis und die Forderung mit und fragte sie: „Wollen wir
zulassen, dass man unsere Brüder verhaftet? Wir holen sie raus! Wir befreien
sie!“ Ich wusste, dass ich mit dieser Forderung jetzt gegen die bestehende
Staatsmacht vorging. Diese sahen wir aber alle schon schwinden. Wir glaubten an
unsere gerechte Sache. Jubelnder Beifall, wütende Zustimmung war die Antwort
der Menge. Ich gab dann den Einsatz: „Die links auf dem Platze Stehenden
marschieren zum Kreispolizeiamt!“ Sowada zu mir: „Ich übernehme die Führung.“
Der Menge rief ich zu: „Der Streikführer Sowada übernimmt das Kreispolizeiamt.
Ich übernehme das Gefängnis. X übernimmt das SSD-Gebäude (Staatssicherheitsdienst)
rechts am Bahnhof.“ Beim Runtersteigen vom Dach sagte Othma zu mir: „Ich gehe
mit zum Polizeiamt.“ Seine Gründe nannte er nicht. Erst viel später erfuhr ich,
warum er mitgehen wollte. Sowada war früher einmal bei der Polizei gewesen. Es
sagte mir aber nichts. Die Lawine rollte. Die Menschenwogen wälzten sich ihren
Zielen entgegen. Als ich in die Leninstraße (früher Lindenstraße) kam, kippten
Arbeiter einen Polizeibereitschaftswagen um. Einige Polizisten verschwanden in
voller Ausrüstung. Sie wurden von keinem Arbeiter irgendwie belästigt. Ich
eilte, so schnell wie nur möglich, zum Gefängnis.
Sturm
auf das Gefängnis
Die Toreinfahrt zum Gefängnis stand offen. Der Hof hatte eine rechte Winkelform; etwas zurück lag der Eingang zum Gefängnisgebäude. Im Abstand von fünf bis sieben Metern standen wir nun. An der Rückseite kletterten einige die Mauern hoch. Das konnte ich nicht sehen. Zwischen uns und einer von der Gefängnisverwaltung vorgeschobenen Inhaftierten, an ihren beiden Seiten standen Gefängnisbeamte mit angelegtem Gewehr, entspann sich folgender Disput: Frau: „Wenn Ihr nicht verschwindet, soll ich Euch sagen, dann wird geschossen. Die Gefängnisverwaltung will auch so alle Inhaftierten freilassen.“ – „Es werden nur wenige getroffen, dann kann ich für deren Leben, das so nicht in Gefahr ist, nicht mehr garantieren!“ rief ich hoch. Schnell gab ich einigen kräftigen Männern die Anweisung, vorzuspringen. Dann befänden sie sich im toten Winkel der Gewehre. Auf ein Zeichen sprangen sie vor. Von rückwärts kamen da schon einige mit Brechstangen an, und die Tür wurde aufgebrochen. Die Masse strömte herein.
(mündlich
erzählte Herr Fiebelkorn es so: „Und ich hab das Gefängnis übernommen,
die wollten nicht aufmachen, da habe ich gesagt: „Gut!“ Von hinten, dann mit
aller Gewalt, mit unserer Körperkraft, drückten wir die Tür ein. Und als wir
dann am Gefängnis dran waren, da sagten sie: „Wenn Ihr noch weiterkommt,
schießen wir!“ Sag ich: „Ist gut: Einige werdet Ihr von uns treffen. Ich werde
am Anfang mit dabei sein. Aber dann seid Ihr dran. Und dann sterbt Ihr!“ – Die
haben nicht geschossen.“
Als
ich das Gefängnis betrat, trat mit ein Gefangenenaufseher entgegen mit der
Bemerkung, dass man ihn geschlagen und am Kopf verletzt habe. Er sah mir aber recht gesund aus. Als man auf meine Anweisung den
Verband abnahm, hatte er eine kaum sichtbare Schramme. Er muss wohl gegen etwas
gestolpert sein. Dann betrat ich das Büro. Einige Streikende hatten Stricke mit
Schlingen in der Hand. Flugge, der Staatsanwalt, den ich von anderen Dingen her
kannte, erkannte mich und rief: „Herr Fiebelkorn, helfen Sie mir und uns. Wir
haben nur unsere Pflicht erfüllt. Mord ist doch nicht in Ihrem Sinne!?“ – Mit
einem Satz war ich auf dem Schreibtisch, unterband Übergriffe. Die Stricke
wurden verschlossen, dann sagte ich zu Herrn Flugge: „Verstehen kann ich die
Arbeiter, Mord wollen wir aber nicht.“ Flugge: „Die Strafakten habe ich hier
schon geordnet. Hier sind drei Stapel: Der erste enthält, die zur Entlassung
kommenden, der zweite die Zweifelsfälle und der dritte die, die bleiben
sollen.“ Es waren insgesamt 86 Akten. Ich blätterte mit einigen Streikenden die
Akten durch, und wir entschieden die Entlassung von 80 Häftlingen. Sechs
sollten bleiben, denn diese waren wegen krimineller Delikte eingesperrt. Es gab
bei den Betroffenen bittere Tränen. Sie erklärten sich für unschuldig. Sie
mussten vorerst in ihre Zellen. Zweiunddreißig andere blieben in meiner
Erinnerung. Es waren zwei Gruppen. Die erste sollte am 17. Juni eine 15jährige
Zuchthausstrafe in Waldheim antreten, die andere Gruppe von Männern sollte am
19. Juni nach Workuta. Der Streik hat ihren Abtransport verhindert. Sie hatten
sich in einer Gastwirtschaft mit einem Funktionär erst gestritten und dann
geprügelt. Der Funktionär gab in der Gerichtsverhandlung an, dass diese die
Partei und die Funktionäre beleidigt hätten. Da er diese verteidigte, seien sie
über ihn hergefallen. Ergebnis: 15 Jahre Waldheim. Die Gründe für die
Verurteilung der anderen: Beleidigung der UdSSR.
Sie alle fielen sich vor Freude und weinend um den Hals. Einer fragte, was er nun machen solle. „Bin ich frei? Kann ich nach Hause?“ – „Fahrt nach West-Berlin und wartet ab“, war meine Antwort. Streikende kamen und berichteten, dass die Zellen alle auf und leer seien. Flugge unterschrieb die bereits vorbereiteten Entlassungsurkunden. Dann kam der Gefängnisdirektor und meinte, dass die Versorgung der sechs Kriminellen nicht sichergestellt sei. Man solle sie beurlauben. Man wolle sie, wenn sich alles beruhigt habe, wieder zur Strafverbüßung holen. Plötzlich fiel mir das Frauenzuchthauslager gegenüber dem EKB ein. Ich forderte Flugge auf, telefonisch die Entlassung der Frauen anzuordnen. Flugge kam dieser Aufforderung sofort nach. Streikende fuhren auf meine Anweisung sofort dort hin. Das Überraschende ist hier, dass die Frauen nicht gingen, obwohl sie es durften. Sie wollten von Flugge unterschriebene Entlassungspapiere haben. Wie ich später erfuhr, sind die Frauen drei Tage später ordnungsgemäß entlassen worden. Es handelte sich um Berlinfahrerinnen, die Lebensmittel eingekauft hatten und wegen Devisenvergehen verurteilt worden waren. Die Waffen, zwei Gewehre und einige Pistolen, kamen unter Verschluss. Dann verließ ich das Gefängnis. Den Beamten wurde kein Haar weiter gekrümmt.
(Bei seinem mündlichen Bericht erzählte Herr
Fiebelkorn auch von den Umständen in den Zellen: Gefangene mussten im Wasser
stehen!)
Am
Tor kletterte ich auf den Pfeiler und verkündete, dass das Gefängnis geräumt
sei. „Die Insassen sind vom Staatsanwalt Flugge selbst entlassen worden. Die Kriminellen
hat die Gefängnisverwaltung von sich aus nach Hause geschickt.“ Inhaftierte
Streikende waren nicht im Gefängnis. Bei den letzten Worten werde ich an der
Hose gezupft. Ein Arbeiter spricht zu mir herauf: „Du sollst ins Rathaus
kommen!“ Das bedeutete, dass die Streikenden das Rathaus besetzt hatten.
Im
Rathaus, ca. 13.30 Uhr
Als
ich dort erschien, war das Rathaus voll von Menschen. Am T-Tisch saßen die
gewählten Kreisstreikführer. Es herrschte eine unruhige Atmosphäre. Wie ich gar
bald erfasste, ging es um die Wahl eines Vorsitzenden. Ich trat an den Tisch
und gab bekannt, dass das Gefängnis geöffnet sei, dass die Gefangenen
ordentlich vom Staatsanwalt Flugge entlassen worden seien und dass er auch
verfügt habe, die Insassen des Frauenzuchthauslagers zu entlassen. Das wurde
mit großem Beifall aufgenommen. Ich hatte meinen Bericht kaum beendet, da
schlug mich der Kreisstreikführer Heinz Göricke zum Vorsitzenden und Sprecher
des Kreisstreikkomitees vor. Ich war völlig überrascht. Man stimmte ab, und ich
war gewählt. Wie ich merkte, war meine Wahl eine Lösung für alle. Ich nahm
meinen Platz am Rednerpult ein und sagte u.a.: „Ich bin glücklich, das
Vertrauen zu besitzen. Ich sehe meine Stellung aber nicht als die eines über
alles bestimmenden Führers an, sondern als die eines Gleichberechtigten unter
18.“ Einige im Saal Befindliche, darunter der ehemalige Schulrat Selle,
quittierten meine Wahl mit unverhohlener Begeisterung.
Nachdem sich die Erregung
ein wenig gelegt hatte, ging ich zur Tagesordnung über. Da waren die auf dem
Platz erhobenen Punkte, die auf eine Realisierung warteten. Meine erste
Amtshandlung war die Bekanntgabe, dass sich der zweite Bürgermeister zur
Verfügung gestellt habe. Er wurde im Amt belassen. Da ich ihm aber nicht das
Vertrauen entgegenbringen konnte, wurden vier sachkundige Streikende bestimmt,
die ihn überwachten. Dann schlug ich vor, einen provisorischen
Oberbürgermeister zu wählen. Ich schlug Herrn Selle vor. Das Komitee beschloss
einstimmig seine Einsetzung, Er nahm an. Zum provisorischen Landrat wurde Herr
Lieber gewählt. Er war im Finanzamt tätig. Dann warf ich die Frage auf, wie wir
mit den anderen mitteldeutschen Städten in Verbindung treten könnten, denn ein
Telefonat sei nicht der richtige Weg. Herr Geye von der Bauunion meldete sich
zu Wort und sagte, dass sie über einen großen Wagenpark verfügten, und dass
Streikende mit den Autos nach Halle, Leipzig, Magdeburg, Leuna und Dessau
fahren könnten. Gleichzeitig schlug er eine motorisierte Stadt-Warnsicherung
vor. Geye übernahm die Durchführung dieses Einsatzes. Lieber, Streikführer vom
Finanzamt, schlug vor, mit einigen Streikenden zur Zeitung zu gehen, um ein
Streikblatt drucken zu lassen.
Eine große Gefahr sah ich
im Alkoholkonsum. Deshalb schlug ich dem Komitee vor, ein generelles
Ausschankverbot zu erlassen. Daneben wurde auch die Schließung der Banken bis
auf weiteres beschlossen. Viele notwendige Verordnungen sind mir entfallen. Es
waren aber solche, die der Sicherheit und Ordnung dienten. Alle Verordnungen
wurden sofort über den Stadtfunk bekannt gegeben. In der Zwischenzeit hatte
sich die Menschenmenge im Sitzungssaal merklich gelichtet. Man hatte einen
Überblick über die Anwesenden. Eine wichtige Frage hing über unserem Tun und
Vorhaben: Wie verhält sich der Russe? Wir betrachteten den Streik als eine
innerdeutsche Angelegenheit, die in keiner Weise die Interessen der
Besatzungsmacht berührte. Um auch hier Klarheit zu schaffen, um einige Bedenken
aus dem Wege zu räumen, verfasste ich verschiedene Telegramme. Ihr Wortlauf war
sinngemäß folgender:
An die Regierung der DDR,
Berlin-Ost-Wilhelmstraße
Im Auftrage der
Bevölkerung von Stadt und Kreis Bitterfeld teilen wir Ihnen mit, dass Sie für
abgesetzt erklärt worden sind. Die Verwaltung übernimmt eine noch zu wählende
provisorische ostdeutsche Regierung.
Das Kreisstreikkomitee
des Kreises Bitterfeld
gez. Fiebelkorn,
Vorsitzender und Sprecher
Hohen Kommissar der UdSSR
Eure Exzellenz!
Wir, die Werktätigen,
haben heute die Regierung der DDR abgesetzt, weil diese die Interessen der
arbeitenden Menschen nicht vertritt. Unser Streik richtet sich nicht gegen die
UdSSR. Wir erwarten, dass Sie sich mit den fortschrittlichen Arbeitern der DDR
solidarisch und zur Zusammenarbeit bereit erklären.
des Kreises Bitterfeld
gez. Fiebelkorn,
Vorsitzender und Sprecher
Gleichlautende Telegramme
gingen an die Hohen Kommissare der USA, Frankreichs und Großbritanniens:
Eure Exzellenz!
Wir bitten Sie, sich bei
Ihrer Regierung zu verwenden, dass diese gegenüber der UdSSR und in der UNO
ihren Einfluss geltend macht, dass unser Streik keine faschistische Erhebung
ist, sondern ein demokratisches Begehren der mitteldeutschen Bevölkerung. Sie
will die Einheit in Freiheit, auf die sie seit acht Jahren wartet und die ihr
vorenthalten worden ist.
des Kreises Bitterfeld
gez. Fiebelkorn,
Vorsitzender und Sprecher
Die
Besorgung dieser Telegramme übernahmen Sowada, Beyer und Göricke. Als sie
zurückkehrten, teilte uns Sowada mit, dass er erst Schwierigkeiten zu
überwinden hatte. Die Telegramme sind durchgegeben und ihre Annahme ist
bestätigt worden. Gleichzeitig habe er die Post besetzen lassen. Damit wir auch
von der Bahnseite keine Überraschung erlebten, schlug ich die Besetzung des
Bahnhofes vor. Eisenbahner erklärten sich für diese Aufgabe bereit. Sie
richteten auch eine Nachrichtenstafette ein, falls das Telefon unbrauchbar sein
sollte. Ihre Order lautete, den Verkehr sofort stillzulegen, wenn Truppen mit
der Eisenbahn transportiert werden sollten. Alle Signale sollten auf Halt
gestellt werden. Dazu ist es aber nicht gekommen, denn die Russen kamen später
mit Panzern.
In einem weiteren
Telegramm wurde auch der UNO-Präsident gebeten, sich für die Freiheit der
mitteldeutschen Bevölkerung bei allen Regierungen zu verwenden. Die
Übermittlung übernahm Herr Lieber. Alle Telegramme fanden die Zustimmung der
Anwesenden, jetzt aber nicht mehr vollzähligen Kreisstreikführer. Diese waren
zum Teil im Einsatz, organisierten und griffen, wo es notwendig war, an verschiedenen
Stellen der Stadt und in den Betrieben ein. Sie beauftragten z.B.
Betriebsstreikführer, dafür zu sorgen, dass besondere Öfen nicht ausgingen usw.
Nachdem die anstehenden hauptsächlichen Forderungen und einiges mehr erfüllt
waren und die Dinge liefen, trat eine gewisse Entspannung ein. Man war
beruhigter und wartete ab.
Um diese Zeit gab es
einen Zwischenfall. Ich bemerkte eine Frau, die bei uns am Tisch saß und alles,
was wir beschlossen oder besprochen hatten, mit protokollierte. Sie stellte sich
als Frau Schrepel vor. Ich fragte sie: „Von wem haben Sie den Auftrag?“ – „Von
niemand. Es muss aber doch einer da sein, der alles schriftlich festhält, denn
es kann vieles in Vergessenheit geraten.“ Das leuchtete mir ein. Es war
richtig. Mein Misstrauen war aber da. Ein wenig später trat sie an mich heran
und wies auf zwei an der Tür sitzende Männer und sagte: „Die zwei sind vom SSD.
Sie spionieren!“ Gleich ging ich auf die Männer zu. „Was wollen Sie hier?“ –
„Ich denke, es herrscht Freiheit der Person. Wir sind hier, um uns zu
orientieren. Dass wir Agenten sind, das hat Ihnen die blonde Russenhure, die
NKWD-Agentin, gesagt“, verteidigte sich einer. Ich dachte: Auch gut. Wenn wir
die Macht haben, dann räumen wir mit diesem gefährlichen Spuk auf. Die beiden
Männer verließen den Saal. Frau Schrepel musste alle ihre Unterlagen abgeben.
1957 sollte ich als Zeuge in Lüneburg diese politischen Krähen wiedersehen.
Frau Schrepel hielt sich noch eine Zeitlang im Rathaus auf und ist dann, von
keinem bemerkt, verschwunden.
Gegen
15.30 Uhr erschien eine Delegation aus einem der Wolfener Werke. Ein
Angestellter stellte sich und die Delegation vor und sagte: „Ich komme im
Auftrage der Verwaltung und der Ingenieure unseres Werkes und teile Ihnen mit,
dass auch wir uns mit den Streikenden solidarisch erklären. Wir erwarten von
Ihnen sofort und laufend Anweisungen, damit wir unsere Arbeit aufeinander
abstimmen können.“ Diese Delegation wurde von mir über alle getroffenen
Maßnahmen unterrichtet. Dann fuhr sie ins Werk zurück, um die dort Wartenden zu
unterrichten. Ein wenig später kam ein Streikender mit der Frage: „Ein Russe
fragt an, ob er mit dem EKB telefonieren dürfe.“ Er bekam die Erlaubnis mit der
Einschränkung: „Ja, aber nur in deutscher Sprache.“ Der Streikführer wiederum
bekam den Auftrag: „Überwachung des Gesprächs. Sobald es gefährlich wird,
sobald der Russe einen für die Streikenden gefährlichen Auftrag gibt, dann
unterbrich das Gespräch.“
Gleich darauf gab es eine
Bewegung am Eingang. Es wurde laut und erregt. Ich fragte nach der Ursache. Die
Antwort:
Ausnahmezustand
für Berlin und die ganze SBZ erklärt!
Wer
dagegen verstoße, habe mit harten Strafen zu rechnen. Alles war wie gelähmt.
Der Sitzungssaal füllte sich wieder mit den Kreisstreikführern. Ich besprach
mit Paul Othma die neue Situation. Was wir sagten, weiß ich heute nicht mehr.
Ich war bedrückt und erkannte die auf uns zukommende Gefahr. Mit unterdrückter
Erregung analysierte ich die neu entstandene Lage und unterbreitete den
Streikführern folgenden Vorschlag: „Wir müssen aufgeben. Es gibt für uns nur
noch einen Weg, wenn wir nicht nach Sibirien oder an die Wand gehen wollen:
Flucht nach West-Berlin!“ – Schweigen. Dann stand betont langsam der
Kreisstreikführer Heinz Göricke auf und sagte: „Wenn Gefahr droht, dann kneift
die Intelligenz, dann lässt sie den Arbeiter im Stich, denn dann haben sie vor
Angst die Hosen voll! Wir streiken weiter!“ – Ich antwortete: „Das soll keiner
von mir sagen. Ich bleibe im Rathaus, bis der Russe kommt. Ich erwarte aber,
dass alle Kreisstreikführer mit mir ausharren!“ – Ein irrationaler Beschluss:
Warten auf den Henker, warten, dass er uns alle abführte. Ich kann mir
vorstellen, dass Göricke den Ernst der Lage nicht richtig einschätzte. Den
meisten war diese bestimmt klar. Ich schlug eine Pause vor. Wir wollten
abwarten und sehen, wie sich die Lage veränderte. Kuriere wurden ausgeschickt
mit dem Auftrag, die Stadtwachen von der neuen Lage zu unterrichten. Diese
sollten auf anrollende Panzer achten und uns, falls sie kämen, sofort im
Rathaus Nachricht geben. Dann stand plötzlich Sowada auf und ging aus dem
Sitzungssaal, um gleich wieder zurückzukehren mit dem Vorschlag: „Es muss einer
nach West-Berlin fahren, um dem RIAS Mitteilung von den hiesigen Vorkommnissen
zu machen.“ Ich war gar nicht damit einverstanden. Ich wollte, dass er sich an
den unmöglichen Beschluss hielt: Alles bleibt, bis der Russe kommt.
Paul Othma stieß mich an
und sagte: „Lass ihn fahren. Ihn hältst Du sowieso nicht. So hat er den legalen
Auftrag und kann nach West-Berlin fahren.“ Da sprach aber schon Sowada: „Ich
habe ein Motorrad. Ich bin schnell da. Dann kann ich über den RIAS oder Leute
vom RIAS selbst den Generalstreik für die ganze Zone durchgeben.“ Er bekam mit
Zustimmung der übrigen Streikführer den Auftrag, als Kurier nach West-Berlin zu
fahren.
Das war gegen 16.35 Uhr.
Da Sitzungspause war, unterhielten sich die Anwesenden in kleinen Gruppen. Ich
benützte die Zeit, um Othma klar zu machen, dass die von mir erhobene
Forderung: „Alles bleibt hier!“ reiner Selbstmord wäre. Ich schlug ihm vor, die
Streikführer in die Betriebe zu schicken. Sie sollten die Arbeiter dort über
die neue Lage unterrichten. Im Werk, in der Masse, seien sie sicherer. Mir ging
es darum, die Streikführer aus dem Rathaus zu bekommen. Othma willigte ein. Die
Streikführer bekamen den Auftrag, in die Betriebe zu gehen, den Arbeitern die
neue Lage zu schildern und neue Order abzuwarten. Der neue Vorschlag wurde mit
Zustimmung angenommen. Die Kreisstreikführer verließen den Sitzungssaal, um in
ihre Betriebe zu gehen. Vier von ihnen blieben bei mir zurück. Othma
verabschiedete sich von mir: „Dann bis morgen!“
Kurz darauf erschienen
einige Kriminalbeamte. Allerdings nicht, um jemand zu verhaften. Sie wollten
nur die Ausweise und die Erkennungsmarken wiederhaben. Einer von ihnen sagte,
dass ein Streikender ihn erkannt und ihm diese Dinge abgenommen hatte. Die
Gegenstände lagen bei mir auf dem Pult. Ich hatte sie schon ganz vergessen und
händigte sie nun den Beamten aus. Was sollte es noch? Es ging, das fühlte ich
untrüglich, seinem Ende zu. Die Beamten aber gingen nicht, sondern blieben.
Arbeiter waren genügend da. Angst vor einer Verhaftung brauchten wir nicht zu
haben.
17
Uhr: Die sowjetischen Panzer kommen
Gegen
17 Uhr kam dann die Mitteilung: „In Bitterfeld rollen Panzer und
Mannschaftswagen ein. Der Russe besetzt Bitterfeld.“ Dann überschlugen sich die
Meldungen: „Der Russe hat den Bahnhof besetzt! Der Russe hat das Gefängnis
besetzt! Auf dem Dach des Gefängnisses sind MG postiert. Der Russe biegt mit
seinen Panzern auf den Rathausplatz ein!“ Innerlich aufgeregt, äußerlich ruhig,
gab ich meine letzten Anweisungen an die vier noch ausharrenden Streikführer:
„Haut ab! Hinten über die Mauer! Lasst Euch nicht vom Russen schnappen!“ Dann
ging ich. Hinter mir zwei Kriminalbeamte. Die anderen beiden mit Dienstausweis
und Erkennungsmarke waren inzwischen gegangen. Einer fragte: „Warum laufen die
denn so?“ Gemeint waren die vier Streikführer. „Ihnen tut doch niemand etwas!“
Ich wusste nicht, woran ich war und erwiderte: „Ich kann es verstehen.
Wahrscheinlich laufen sie um ihre Freiheit und das Leben!“
Ich ging die Treppe
hinunter. Im ersten Stock ein Krach und Auflauf. Ein sowjetischer Offizier
(Major?) sieht mich, schreit mich an: „Was, Du Schwein hier? Du Schwein raus!“
Erleichtert ging ich die Treppe weiter hinunter. Was tun? Die beiden Beamten
gingen hinter mir. Wollten die mich unten vor der Tür verhaften? Am Portal
blieb ich stehen. Ich tat so, als ob ich auf die Proklamation des
Ausnahmezustandes hörte. Ich war so unentschlossen, so unfähig, einen klaren
Gedanken zu fassen, so regten mich die beiden Beamten, die wie Kletten an mir
hingen, auf. Dann plötzlich erscholl wieder die schreiende Stimme des
Offiziers: „Wo sein Fiebelkorn? Wo sein der Chief?“ Wir, die Beamten und ich,
guckten uns an. Wortlos drehten sich die beiden um und gingen nach oben, und
ich stieg die Rathausvortreppe hinunter.
Vor dem Portal standen
zwei Mannschaftswagen, voll besetzt mit Sowjetarmisten. Auf dem Vorplatz des
Rathauses saßen die Arbeiter im Schneidersitz auf dem Boden. Still waren sie
und ruhig und – wie ich es damals sah – herausfordernd still. Ich ging durch
die Arbeiter und verließ den Platz. Mein erster Gedanke war: „Zur Schule, das
Fahrrad holen, nach Hause und umziehen und dann versuchen, nach Berlin
durchzukommen.“ Ich holte das Fahrrad und fuhr von der Schule in Richtung
Anhaltsiedlung, die Dessauer Straße entlang. Als ich an die Bahnüberführung
kam, hielt kreischend ein Auto. Es war mit Streikführern besetzt. Schnell
teilte ich ihnen mit, dass der Russe das Rathaus besetzt und Soldaten und
Panzer an besonderen Punkten postiert habe. Außerdem habe der Russe den
Auftrag, mich zu verhaften. Sie forderten mich auf, einzusteigen. Ein Junge,
der mich kannte, und der wusste, wo ich wohnte (Nestler), brachte mein Fahrrad
nach Hause. Ich stieg in den Wagen und fuhr mit den Streikführern, die
eigentlich zu mir ins Rathaus kommen wollten, nach Wolfen. Hier traf ich Othma
wieder. Ich erstattete ihm Bericht. Othma: „Ist das alles?“ – „Ja“, war meine
Antwort.
Dann riet ich allen
anwesenden Streikführern dringend, aufzugeben und sich nach West-Berlin
abzusetzen. Othma entgegnete: „Unsere Forderung war und ist: Streik! Weiter
streiken! Wir bleiben! Ich habe als 12jähriger in Schlesien den Männern, die da
kämpften, die Munition gebracht. Ich habe da auch nicht gekniffen. Hier ist das
noch etwas anderes. Hier kämpfen wir nicht mit Waffen, sondern mit Geist. Was
will der Russe? Das ist eine deutsche Angelegenheit. Wir haben mit ihm nichts
zu schaffen. Wir schaden ihm ja nicht als Besatzungsmacht!“ Davon war ich nicht
überzeugt. Ich fragte: „Wie soll es weitergehen?“ Othma entgegnete: „Wir
streiken in den Betrieben. Hier sind wir in Massen. Die Masse gibt uns Mut!“
Ich war nicht so optimistisch. Leider sollte ich recht
behalten. Gegen 20 Uhr fuhr ein Streikauto nach Bitterfeld. Der Autofahrer
behauptete, dass er eine wichtige Angelegenheit zu erledigen habe. Othma sagte:
„Willi“, gemeint war ich, „fahre mit, damit er, der Fahrer, keine Dummheit
macht, und komme dann mit ihm wieder heraus.“ Ich nickte. Othma tat mir leid,
aber auch die anderen. Hier enttäuschte ich ihn. In der Anhaltsiedlung hielt
der Fahrer. Er sagte, dass er bald wiederkäme. „Gut“, sagte ich, „warte auf
mich, wenn Du eher da bist als ich. Ich will schnell essen.“ Mein Gedanke war
nur: Umziehen! Andere Kleider an, dass man mich nicht so schnell identifiziert.
Das Umkleiden muss sehr schnell vor sich gegangen sein. Übereilt verließ ich
das Haus. Die Hauswirtin hörte ich noch rumoren. Dann war ich weg. An Brot habe
ich nicht gedacht. Die Erregung ließ keinen Hunger aufkommen. Ich steuerte auf
das Auto zu. Ich sah es noch da stehen. Hatte ich überhaupt noch die Absicht,
mit zurück zu fahren? Sah ich schon Gespenster? Am Ende der Straße tauchten
Männer auf. Sie liefen auf das Auto zu und zogen den Fahrer heraus. Ich sprang
schnell in eine Hausnische und verschwand. Nicht über die Hauptstraße, sondern
über einen Feldweg, ging ich in die Stadt zurück. In einer Querstraße der Feldstraße
suchte ich ein mir bekanntes Rentnerehepaar auf. Dort wollte ich übernachten.
Als die beiden von meinem Ansinnen erfuhren, lehnten sie es ab mit dem Hinweis:
„Das können wir nicht machen. Wir sind auf unsere Rente angewiesen.“ Es war
20.50 Uhr. Ich stand wieder vor der Haustür. „Wohin?“ dachte ich. Die Straßen
waren menschenleer. Ich war unfähig, das Nächstliegende zu denken. Plötzlich
hörte ich das Knattern eines Motorrades. Ich drückte mich in den Türschatten.
Auf dem Krad saßen ein Mann und eine Frau. Es hielt vor der Tür, vor der ich
stand. Da erkannte ich Sowada. Eine Frau, Kochhilfe im EKB, stieg ab. Sowada
wollte wieder losfahren. „Nimm mich mit!“ bat ich. „Steig auf!“ sagte er.
„Wohin willst Du?“ fragte ich. „Ich weiß selbst nicht, wohin!“ antwortete
Sowada. „Sieh zu, dass wir erst einmal aus Bitterfeld in Richtung Wittenberg
herauskommen. Wir können beide bei Freunden übernachten.“ Die Muldebrücke war
noch nicht gesperrt. Wir kamen unbehelligt rüber und übernachteten in Mühlbeck.
Ein Freund und seine Eltern nahmen uns auf. Zuerst bekamen wir Essen
vorgesetzt. Anschließend wurden die Ereignisse des Tages noch einmal
durchgesprochen. Es stellte sich heraus, dass mein Freund auch dabei gewesen
war. Die nächste Frage war natürlich: „Wie geht es nun weiter?“ Ich sagte: „Wir
müssen den Morgen abwarten.“ Gegen 23 Uhr trennte sich Sowada von uns. Er
wollte bei einem Bekannten in Friedersdorf übernachten. Wir legten uns zur
Ruhe. Ich fühlte mich erleichtert und sicher. Zu einer durchschlafenen Nacht
sollte es jedoch nicht kommen. Gegen 3 Uhr früh klopfte es an die Tortür.
Erschreckt wachte ich auf. Die Mutter des Freundes rief, dass man an das Tor
poche. Ich nahm meine Sachen, um durch ein Loch in der Dachgiebelwand zu
entkommen. Da rief aber schon mein Freund: „Bleib, es ist Horst Sowada!“
Atemlos und erregt kam er ins Zimmer. „Ich bin durch das Hinterfenster in den
Garten entwischt. Man ist hinter mir her!“ Angst stieg auf. Gespannt warteten
wir auf jedes Geräusch. Ist Horst den Verfolgern unerkannt und ohne Spur
entkommen?
Mit der Morgendämmerung
des 18. Juni legte sich die Erregung. Die ersten Arbeiterbusse fuhren. Sie
waren mit Arbeitern besetzt, die zur ersten Schicht fuhren. Ein Funke glomm in
mir auf: Weitermachen! Gegen 6 Uhr fuhr mein Freund in die Stadt. „Ich will
erst einmal die Lage peilen. Dann könnt Ihr Euch entscheiden, was Ihr tun
wollt“, sagte er. Gegen 8 Uhr kam er zurück. Ernst sah er aus. „Willy, Du musst
weg! Der Stadtfunk plärrt alle paar Minuten Deinen Namen. Er fordert die
Arbeiter, aber auch die Kinder, auf, sich an Dich zu klammern, wenn sie Dich
sehen. Sie sollen diesen `anglo-amerikanischen Agenten und Faschisten, der im
Dienste des westdeutschen Kapitalismus steht, der die Jugend schon einmal in
den Tod geführt und diese nun ein zweites Mal in den Tod führen will, ergreifen
und der Polizei übergeben. Ergreift ihn! Führt ihn der gerechten Strafe
entgegen!`“ So sinngemäß habe ich das wiedergegeben.
Mich beruhigte nur eines: Hier in Mühlbeck suchte man mich nicht. Man vermutete
mich in Bitterfeld. Gleichzeitig wurde meine Gewissheit bestätigt, dass es für
mich wie für alle Streikführer nur eine Chance gab, unsere Freiheit und unser
Leben zu behalten: Wir mussten nach West-Berlin fliehen. Ich hoffte sehr, dass
die anderen ebenso dachten und diesen Weg gehen würden. Ganz besonders dachte
ich an Othma. Hoffentlich würde sein kluger Menschenverstand an die Stelle des
Heroismus treten!
Die Mutter des Freundes
machte uns Brote. Es hatte angefangen zu regnen. Die Kirchturmuhr in
Friedersdorf schlug neunmal, als wir uns auf das Motorrad setzten. Ich dachte
an die Frau, die Schwiegermutter und die Kinder. Es stieg heiß auf. Ich wusste
jedoch sehr genau, was ich tat. Ich musste den Weg gehen. Einen Blick noch
schickte ich in die Richtung meiner Angehörigen. Ich sagte innerlich: „Auf
Wiedersehen!“, dann stieg ich auf das Motorrad, und ab ging es. Es ist ein
Glück, dass man nicht weiß, was einem unterwegs alles so begegnet. Wir
gedachten, am Abend in West-Berlin zu sein, auch wenn wir Nebenwege, das heißt
Feldwege, benutzen wollten. Die Hauptstraßen wollten wir meiden. Aber erst am
28. Juni um 16.59 Uhr sollten wir schließlich die Mitte der Glienicker Brücke
in Richtung West-Berlin überschreiten.“
Am
25. November 2003 konnte ich Herrn Fiebelkorn und seine Frau in seinem Haus in
Hessen besuchen. Wir saßen gemütlich im Wohnzimmer, bei Kaffee und Kuchen, und
sie erzählten mir von den Ereignissen:
(Frau Fiebelkorn:) Mein
Mann war nicht immer Lehrer, er ist erst 15 Jahre zur See gefahren.
(Herr Fiebelkorn:) Vom
Schiffsjungen zum Kapitän, Deutschlands jüngster Kapitän! Und dann wurde ich 44
im Sommer zur Marine eingezogen, ich war vorher in Kiel, Seenot-Rettungsdienst,
wir mussten abgeschossene Flugzeugbesatzungen, die sich per Fallschirm gerettet
haben, herausfischen, ob Deutsche oder Briten, spielte keine Rolle.
Herr Fiebelkorn erzählte, wie er das Kriegsende überlebte als Kapitän eines Schiffes auf der Ostsee, wie er für seine gesamte Besatzung in Flensburg Entlassungspapiere besorgen konnte und heil nach Hause kam.
Wie
sind Sie damals auf Seyda gekommen?
(Frau Fiebelkorn:) Wir
haben vorher Seyda nie gesehen.
(Herr Fiebelkorn:)
Sowada und ich trafen uns am 17. Juni abends vor einem Haus in Bitterfeld, er
kam mit dem Motorrad, darauf saß eine Frau, und die hat er da am Haus
abgesetzt, da sag ich: „Da kann ich ja bei dir hinten aufsteigen!“ Da sagt er:
„Wohin?“, sag ich: „Naja, erst mal bis Mühlbeck, und da können wir übernachten,
da hab ich Bekannte“, weil ja der Ausnahmezustand war.
Um 20 Uhr durfte kein
Deutscher mehr auf der Straße sein, wer auf der Straße war, wurde erschossen.
Aber die hatten alle mit sich selbst zu tun, wir kamen gut über die Brücke, es
war noch kein Posten da, und übernachteten in
Mühlbeck. Und von Mühlbeck, da sagte der Bekannte. „Ihr könnt nicht zurück: Du
wirst schon (gemeint war ich): Du wirst ständig ausgerufen: Die Kinder sollen
sich an Dich klammern, Du bist ein Faschist, Du wolltest sie wieder in den
Krieg führen.“
So sind wir dann mit dem
Motorrad losgefahren Richtung Wittenberg, nicht auf der Hauptstraße, sondern
die Landwege gefahren
(Frau Fiebelkorn:) Rechts
und links waren ja die russischen Kasernen an der Elbe!
(Herr Fiebelkorn:) Wir
setzten dann über. Ist da die Schwarze Elster? Etwa 30 oder 40 Km östlich von
Wittenberg.
Ein Fährmann, der dort
die Leute übersetzte, und als wir ihn bezahlen wollten, winkte er ab: „Ihr
braucht das Geld für viel Wichtigeres als für mich!“ Und dann sind wir mit dem
Motorrad weiter gefahren, und dann war der Tank leer. Und dann sagte Sowada:
„Vielleicht können wir von einer LPG Benzin holen!“ Und die guckten uns an und
guckten das Motorrad an und sagten: „Wir haben kein Benzin!“ Da mussten wir das
Motorrad stehen lassen – das heißt also: Die wollten billig zu einem Motorrad
kommen.
Und da gings zu Fuß
weiter.
Da sagte ich: „Gut! Gehen
wir erst mal auf Richtung Seyda, immer nach Norden, damit wir an Ost-Berlin
herankommen, da ist die Kontrolle wahrscheinlich nicht so groß.“ Und da sagte
dann Sowada zu mir: „Das können wir nicht. Wir müssen unterwegs irgendwo
unterkommen!“ - denn der Ausnahmezustand galt ja für die ganze Sowjetzone!
Und da sagte ich: „Weißt
Du, wer uns Obdach geben muss! Direkt muss! Ein Pfarrer! Und wenn es nur für
eine Nacht ist. Das hat Jesus verlangt!“
Und uns überholte ein
Pferdefuhrwerk, und ich rief ihn an, er sollte mal halten. Und fragte, wohin er
führe, ob er uns mitnehmen wollte: Hinten Schweinehälften drauf. Dann haben wir
zwischen den Schweinehälften gelegen, und wir fuhren bis Seyda. Er sagte: „Ich
fahre nur bis Seyda.“ Ich sagte: „Dann fahren Sie bis zur Kirche.“ Da guckte er
erst so und sagte: „Aber kein Geld! Ihr braucht das Geld wichtiger als ich!“
„Vergiss, dass Du uns
gefahren hast! Meinetwegen in 10 oder 12 Tagen kannst Du darüber reden!“
Und dann sag ich: „So!
Jetzt gehen wir zum Pfarrer!“ Hagendorf, etwa ihre Größe, ein bisschen breiter,
und betrieb Landwirtschaft – das wissen Sie.
Und ich drängte ihn
direkt rein und sagte ihm: „Wir werden gesucht! Mein Name ist so, und das ist
der...“ Naja, dann hat er einen Amtsbruder in Bitterfeld angerufen, und der
bestätigte, dass Fiebelkorn gesucht wird und dass auf seinen Kopf 50.000
West-Mark stünden; vor allem, ich sollte am 20. Juni mittags 12 Uhr zur
Abschreckung öffentlich standrechtlich erschossen werden. Wusste ich aber
vorher nicht, auch nicht das mit der Belohnung.
Und da sagte er: „Ich
traue Ihnen nicht. Ich bin Vater von 6 Kindern!“ Da mussten wir auf der Bibel
schwören, dass ich ich bin. Und dann hat er sich mit einem Pfarrer in
Verbindung gesetzt, der Verbindung mit West-Berlin hatte, und der sagte: „Da
brauchen wir Passbilder von ihnen!“ Und da schickte er einen, der von uns die
Passbilder holte, und die wurden dann in neue Ausweise in West-Berlin geklebt.
Dieser gehörte zu einer Gruppe, die nannte sich die Kampfgruppe Marlies. Sie
kämpft nicht mit Waffen, sondern gegen das System, und hat sich zur Aufgabe
gestellt, Flüchtlinge nach West-Berlin zu bringen. Das war dieser Kampf gegen
das System. Und das dauerte insgesamt 10 Tage. Zwischendurch bekam Pfarrer
Hagendorf doch kalte Füße, als am 22. Juni ein Flüchtling aus Bitterfeld im
Norddeutschen Rundfunk in Hamburg gesendet wurde: „Ich habe mit anderen von
einem gewissen Abstand gesehen, wie Fiebelkorn mit vier oder drei anderen
Männern und zwei Frauen hinterm Rathaus erschossen worden ist.“
Und da kam Pfarrer
Hagendorf noch mal an, und ich sagte: „Um Gottes Willen! Ich bin ich!“ Und da
mussten wir noch mal schwören auf der Bibel, und dann erst – ach so, da hatte
der andere Pfarrer gesagt: „Schmeiß die raus, die wollen dich reinlegen!“ – und
dann hat sich der Pfarrer breitschlagen lassen von Hagendorf und hat noch
einmal einen von der Kampfgruppe Marlies nach West-Berlin geschickt, und dann
erst – so lange hat das gedauert, dann erst kamen die neuen Ausweise. Und die
brachten sie zu uns, und da wurde festgelegt: Die Kampfgruppe Marlies übernimmt
die Einschleusung nach Berlin.
Mit dem Fahrrad – Pfarrer
Hagendorf besorgte auch Fahrräder, mit dem Fahrrad fuhren wir dann los – mit
einem Korb mit Heidelbeeren und Obst – mit zwei Motorrädern. Ein Motorrad fuhr
voraus, und das andere kam dann zurück, und stellte es ab und die Vorderreifen
in die Richtung, in die wir dann fahren sollten. Die hatten keinen Kontakt
weiter mit uns. Und wenn wir dann eingebogen sind, dann war der andere schon
voraus und zeigte den neuen Weg und fuhr dann weiter. Und so wurden wir dann
bis kurz vor Berlin, ein Vorort von Berlin, wo die S-Bahn aufhört, geschleust,
und dann mussten wir in einen Zug steigen. Und da wurde dann gesagt: „In dem Zug
bleibt Ihr sitzen bis zur Glienicker Brücke. Es steigen nachher in Ost-Berlin
die West-Berliner Arbeiter, die in Ost-Berlin in den Osram-Werken arbeiten,
ein, und mit dem Schwarm geht ihr dann an den Posten vorbei, zeigt bloß eure
Ausweise, und so sind wir dann in dem Schwarm der West-Berliner Arbeiter nach
West-Berlin gekommen.
Aber
– die West-Berliner Gruppe, die nicht wussten: leben wir, oder leben wir nicht,
sind wir Agenten, oder sind wir keine Agenten, haben dann an den Posten auf der
Westseite – amerikanischer Sektor, einen Flüchtling gestellt, der uns wirklich
kennen wollte, und wenn der den Posten anstößt, das heißt: Wir sind wir! Tut
er’s nicht: Und jetzt kommt das Haarige: Wir wären keine 500 Meter in
West-Berlin reingekommen, dann hätten sie uns umgelegt. Das war damals so
üblich.
Also
wir sind dann heil nach West-Berlin reingekommen, na ja, und dann waren wir da.
Die haben aber auch ihre Leute dagehabt, im Auffanglager, ich war noch nicht 3
Tage da, da setzte der erste Entführungsversuch ein. Und sechs Wochen später in
Charlottenburg –
(Frau Fiebelkorn:) Es
war alle drei mal eine Buchhändlerin von Bitterfeld,
die sowjetischer Spion war und ihr Mann auch, und auch DDR-Spion – und als die
am 17. im Rathaus saßen, da hat die stenographiert...
(Herr Fiebelkorn:)
...und alle Namen aufgeschrieben, die zum engeren und erweiterten Kreisvorstand
des 17. Juni gehörten.
(Frau Fiebelkorn:) Und
dann sind die Tage später von der SED festgenommen worden und verhört worden
und bestraft worden, bestraft in sofern, dass sie eben noch eine Chance hat und
noch mal nach Berlin fahren muss und Fiebelkorn ob tot oder lebend in den
Ostsektor bringt. Und das hat wieder nicht geklappt. Und dann hat mein Mann
aber Angst gekriegt und hat sich ausfliegen lassen nach Hamburg.
(Herr Fiebelkorn:) In
Hamburg wurde dann wieder versucht, mich zu entführen, ich habe dann
unterdessen meine Bewerbung geschrieben, aber im Allgemeinen wollten die
Kultusminister der einzelnen Länder nicht viel mit uns zu tun haben.
Geantwortet haben damals Hessen, und als ich dann schon in Hessen war,
Nordrhein- Westfalen...
Und in Hessen, in
Weilburg, versuchte das aus Thüringen ein Ehepaar, im Auftrag, mich zu
entführen. Und die Schrepel ist dann irgendwie, durch irgendeine Sache
eingesperrt worden, auch ihr Mann...
(Frau Fiebelkorn:) Die
Schrepel war nun hier drüben, sie hat drüben ihre Sache abgesessen, und war nun
hier mir ihrem Mann und ihrem kleinen Sohn. Und die waren sonntags mit einem
kleinen VW unterwegs und mussten tanken. Und kamen an eine Tankstelle bei
Lüneburg, und da ist ein Tankwart, den sie kennt, den sie verraten hat am 17.,
der deshalb ins Gefängnis gekommen ist! Und dann hat sie meinen Mann als Zeugen
angegeben, dass sie am 17. selber gearbeitet hat, hat das umgedreht. Ach, da haben
wir Angst gehabt. Da wurde bundesweit Fiebelkorn gesucht... Und wir wussten
nicht, warum. Ich habe gesagt: Das kann eine alte Sache sein...
Jedenfalls wurden der
Frau Schrepel die zwei Jahre in Halle angerechnet, sie wurde aber nicht als
Flüchtling anerkannt.
(Herr Fiebelkorn:)
Dann hatte ich meine Ruhe, das war das letzte.
(Frau Fiebelkorn:) Das
ganze hat aber ein Jahr gedauert, und ich konnte erst nach einem Jahr mit den
Kindern flüchten.
(Herr Fiebelkorn:) Sie
stand ja unter Aufsicht.
(Frau Fiebelkorn:) Ich
hatte Untersuchungsverhandlungen, 14 Tage, meine Kinder waren bei meinen
Eltern. Die Tochter war damals 7 Jahre, der Junge 2. Nun konnten wir auch nicht
flüchten, sondern nur die Ferien nützen. So sind wir in den Osterferien dann
geflüchtet, mein Bruder hat eine Fahrkarte von Leipzig geholt, nach Rügen, da
ist die Patentante von unserer Tochter. Da habe ich gesagt, wenn es klappt,
fahren wir nach Rügen, und dann eben wieder zurück. Und dann hat es schon auf
der Hintour geklappt. Ich habe sehr große Angst gehabt. Die S-Bahn fuhr noch
durch ganz Berlin. Da war keine Mauer, das war ja 54, 61 ist die Mauer erst
gebaut. Naja, und dann kamen wir da ins Lager, was ganz furchtbar war, eine
Fabrikhalle mit 12 Doppelbetten, unten die Mütter mit Kleinkindern, oben die
größeren Kinder. In der ersten Nacht fiel unsere Heike schon von oben runter,
die anderen waren ja schon ein Vierteljahr und länger dort, und die hatten sich
alle Bretter besorgt, dass sie da ein bisschen anstellen konnten. Es war ja
nichts. In der zweiten Nacht hat sie gefroren, da habe ich ihr meinen
Pelzmantel hochgegeben, den hat sie mir dann ganz bebrochen, und das war alles
noch in West-Berlin nicht so geordnet wie heute... Ich hatte noch einen kranken
Fuß, der operiert werden musste. Da bin ich mit Pelzmantel und in Hausschuhen
geflüchtet, anders ging´s nicht, dann bekamen wir so 20 Mark, da habe ich mir
als erstes ein paar richtige Hausschuhe gekauft, und nachher kamen wir in das
neue Lager, da waren zwar auch 6 Betten drin, aber wir drei hatten´s nur
belegt. Überall in den Lagern gab´s
keine Milch, und der Junge war noch gewöhnt, eine Flasche Milch am Tag zu
trinken. Also beide Kinder hatten Magenverstimmung, und uns ging´s auch so
nicht gut, und das musste ich aber verhindern, dass das rauskam, denn vor dem
Flug wurden wir untersucht, und wenn ich das gesagt hätte, wären wir nicht
weggekommen.
(Herr Fiebelkorn:)
Übrigens, was vielleicht für Sie interessant sein kann, betreffs Niemöller...
Ich sollte durchfallen...
Und Frau Prof Dr. Riemeck fragte: Steht der Student Fiebelkorn zur Prüfung oder
der Sowjetzonenflüchtling? Und meine Arbeit wurde vom ersten mit 6 zensiert,
und von einem anderen mit 1...
Ich sollte mit aller
Gewalt durchfallen. Weil ich den Niemöller als Mitglied des roten Priestertriumvirats
bezeichnet hatte...
(Martin Niemöller war Pfarrer in Berlin und stand im Widerstand gegen Hitler, später wurde er Bischof in Westdeutschland, trat gegen die Atombewaffnung auf und pflegte gute Kontakte mit den Regierenden in der DDR und in der Sowjetunion. In der Lehrerprüfung zum Fach Religion hatte er mitzureden; vorher war er in einer Versammlung mit Herrn Fiebelkorn zusammengeraten, weil er andere Ansichten über den Aufbau in der DDR und den 17. Juni hatte. Der Ausdruck „rotes Priestertriumvirat“ bezeichnete den „moskaufreundlichen“ Bischof von Canterbury, den Patriarchen von Moskau und Bischof Niemöller. – Frau Prof. Riemeck hat Ulrike Meinhof großgezogen.)
(Frau Fiebelkorn:) Das
heißt, uns ging es ganz dreckig. Der Junge 3 Jahre, das Mädchen 7, kein Pfennig
Geld. Kriegten wir Fürsorge.
Und wie er dann fertig
war mit Studieren, stand er dem Arbeitsmarkt zur Verfügung, dann musste meine
Fürsorge zurückgezahlt werden...
(Herr Fiebelkorn:) Und
die Studiengebühren... Wir hatten zum Leben im Monat netto, nach Abzug der
Miete 35 Mark!
(Frau Fiebelkorn:) Wir
hatten aber immer einen großen Garten... Ich habe beim Bauern gearbeitet, Milch
dafür bekommen.
(Herr Fiebelkorn:) Der
Schulleiter sagte: „Frisch geschlachtetes darfst Du nicht annehmen, das ist
Bestechung!“ Machte ich es auch so. Am nächsten Tag sagte mir der Schulleiter:
„Bei mir ist das was anderes: Ich dirigiere den Gesangverein!“
(Frau Fiebelkorn:) Das
konntest du nicht!
Aber
wie kommt es, dass Sie die Streikleitung „dirigiert“ haben?
(Frau Fiebelkorn:) Das
war alles ganz spontan.
(Herr Fiebelkorn:) Ja.
(Frau Fiebelkorn:) Wir
hatten Gott sei Dank keine Verbindung mit dem Westen. Also, die haben ja ewig
meine Wohnung kontrolliert, meine Eltern kontrolliert, aber da war nicht eine
Ansichtskarte vom Westen da.
(Herr Fiebelkorn:) Am
16. Juni kam das über den Rundfunk, RIAS, dass die Bauarbeiter in Ost-Berlin
gestreikt haben...
Und da habe ich gesagt.
Wenn die Arbeiter des Elektrochemischen Kombinats Bitterfeld streiken, dann
werde ich mich beteiligen...
Viertel nach Neun: 37000
Menschen schoben sich über die Brücke...
(Er erzählt in Kurzfassung die Ereignisse, wie sie hier bereits berichtet worden sind.)
...Um halb vier etwa
wurde dann Ausnahmezustand verkündet. Über die ganze sowjetische
Besatzungszone. Dann kam die Ausgangssperre, die ich ja schon eingangs erwähnt
hatte, und damit war das mit dem 17. Juni vorbei....
10 Tage Heulen und Zähneklappern. Da habe ich wieder gelernt zu beten. – Es ist
vorbei.
Übrigens:
die Bevölkerung vielleicht bis auf
1,2,3,4 Mann – in Seyda stand restlos hinter ihrem Pfarrer. Und die haben
verteilt die wichtigsten Bücher nach West-Berlin gebracht, als er im Gefängnis
saß, und als die Beerdigung von seinem Vater war, da haben die Frauen sich die
Kinder aufgeteilt, als ihre eigenen ausgegeben, und sind dann über Ost-Berlin
nach dem Westen gefahren.
(Frau Fiebelkorn:) Die
älteste Tochter, Meike, hat im Kreis Weilburg (in Westdeutschland)
einen Bauern geheiratet und hat auch zwei Söhne gehabt. Sie ist bei einem
Autounfall tödlich verunglückt.
(Herr Fiebelkorn:) Die
älteste hat für uns immer die Zigaretten geholt. Hat dann die eine Verkäuferin
gesagt: „Nanu, der Herr Pfarrer raucht also jetzt neuerdings?“ - „Ja!“ hat sie gesagt. Sie hat darüber
weiter kein Wort verloren... Dicht gehalten.
Wer
ihn verraten hat, ist und bleibt weiterhin offen.
Hat einer aus West-Berlin
das verraten, der zwar im Widerstandskampf stand, aber eingeschleust war? Ist
möglich. Der „Untersuchungsausschuss Freiheitlicher Juristen“ war durchsetzt.
Möglich ist: Einer der
Kampfgruppe Marlies, als sie ihren Erfolg feierten, hat seinen Namen erwähnt.
Oder hat einer unbewusst
in Seyda selbst darüber gesprochen...
Es kann auch sein, dass
Sowada ganz ungewollt den Namen Hagendorf bei irgendwelchen vielen Interviews,
die er gegeben hat, gefallen worden ist.
Es kann auch von uns
gekommen sein.
Sowada ist seit 7 Jahren
tot. – Den kann man nicht mehr befragen...
Die
Frau von Hagendorf, die war ja sehr tapfer. Wer hätte das alles riskiert, wenn
man sich das heute überlegt!
Wo
waren Sie genau in Seyda untergebracht?
Wenn
wir reinkamen, rechts, da ist gleich die Bibliothek gewesen.
Und dahinter muss auch
noch ein Raum gewesen sein. In dem Raum haben wir gewohnt: Sowada und ich...
Pfarrer Hagendorf bat
auch darum, dass wir nicht in die Bücherei kommen sollten, weil ja viele kamen,
um sich Bücher auszuleihen.
Und einmal war Sowada
drüben, wollte sich Bücher abholen, und da kamen zwei Frauen rein, und das war
dem Hagendorf sehr peinlich, er hatte sich aber in der Gewalt gehabt und sagte:
„Haben Sie denn nun das Nötige gefunden, das sie mitnehmen können für den
Vortrag? Wir werden uns nach her noch unterhalten, jetzt will ich erst mal die
Frauen abfertigen.“ So hat er die Klippe umrundet.
Frau
Hagendorf hat gekocht?
Wir sind normal verpflegt
worden, ganz normal. Das einzige, was sie mit Sorge betrachtete, war der
Zigarettenkonsum.
Das
wird eine sehr schwere und bedrückende Zeit für Sie gewesen sein! Wenn man
nicht weiß: Geht die Tür auf, kommt jemand, was wird? Und für Sie erst, Frau
Fiebelkorn!
(Frau Fiebelkorn:)
Für mich, mit den
Kindern! Kein Geld, alles war gesperrt. Die katholische Kirche hat uns
unterstützt. Mein Mann hatte sich einmal an der Schule für den
Religionsunterricht eingesetzt... Sie kamen dann auch einmal zu ihm von der FDJ
und sagten, an den Toilettentüren, da hätte es Hakenkreuz-Schmierereien
gegeben, es hieß gleich: Das sind Nazis! Mein Mann hat sich dann hingestellt
und hat aufgepasst, und als sie wiederkamen, da waren es alles welche von der
FDJ...
Verhört worden bin ich
von der Polizei, die Kinder hatte ich weiter weg, bei der Mutter, kein Geld –
aber ich kann nicht klagen, die Eltern haben uns ja mit allem versorgt, mit
Essen, auch mit Anziehen, wir hatten auch einen riesengroßen Garten, wir waren
auch Selbstversorger... Ich selber bin schwer kriegsbeschädigt, am Kopf und am
rechten Arm...
Wir hatten das
Schlafzimmer im 1. Stock, da haben wir wochenlang mit der Wäscheleine
geschlafen, weil wir dachten: Wenn sie kommen, dann durchs
Fenster runter. War ja Dummheit, wenn zwei zu uns in die Wohnung kamen, waren
bestimmt zwei an der Tür...
Die
Streikleitung von Wolfen und Bitterfeld – kann man das so sagen, war das
zusammen, eine Gruppe?
(Herr Fiebelkorn:) Das
schloss sich zusammen, dafür sorgte ich, ich war ja auch direkt in Wolfen. Aber
nur kurz.
Wolfen - da waren die
Ingenieure vorsichtig: Sie sagten: „Wolfen ist Eigentum der Sowjetunion.“ Bis 1953 haben sie für 72 Millionen Mark West
Sachen herausgeholt. Sie haben uns natürlich Brot und Getreide geliefert, damit
wir nicht verhungerten. Wissen Sie, woher sie das Getreide genommen haben? Das
war die Ablieferungsquote an die sowjetische Armee. Die wurde dann Richtung
Russland, an die polnische Grenze gefahren. Dort kam dann die sowjetische
Sprache – neue Anweisung von einem Ort in der Sowjetunion: Spende nach z.B.
„Leipzig - Spenden“. Die Bahner sangen dann: „Nach meiner Heimat zieht´s mich
wieder“...
Pfarrer
Hagendorf – konnten Sie sich mit ihm unterhalten, abends...
Er
ist ein viel in Anspruch genommener Mann gewesen. Er musste sich die Zeit für
uns direkt stehlen.
Der Kontakt mit der
Gemeinde! Als wir da waren, ganz besonders. Das es ihn
innerlich nicht berührt hat, kann man sich vorstellen, aber er war ein Mann,
der sich das nicht anmerken ließ.
Bei 50.000 DM Belohnung,
dass sich da kein Judas gefunden hat!
-
Auskunft über die Ereignisse gibt auch die Geheimdienstakte, die über Pfarrer Hagendorf geführt worden ist. Am 10. August 1953 wurde sie angelegt, Operation „Äther“, und befasst sich mit einer „Spionagezentrale Blank“ in West-Berlin.
Die Beziehungen, die
Pfarrer Hagendorf hatte, werden aufgedeckt: Pfarrer Köhler aus Klöden war sein
Freund. Diesen sprach im Mai 1953 bei einer Kirchturmreparatur in Klöden ein
Uhrmachermeister aus Wittenberg an, ob er sich nicht an einer „feindlichen
Tätigkeit“ mit dieser Organisation beteiligen wolle. Der Pfarrer lehnte ab.
Im vorläufigen
Ermittlungsergebnis heißt es am 17.9.:
„Nachdem diese Verbrecher
bereits zwei Tage bei Hagendorf verbracht hatten, setzte sich dieser mit dem
Pfarrer Köhler, wohnhaft in Klöden, in Verbindung...“ Am 20. Juni, eben zwei
Tage, nachdem die beiden Streikleiter in Seyda Zuflucht gefunden hatten, suchte
Pfarrer Köhler den Uhrmachermeister auf und bat um Hilfe, sie nach West-Berlin
zu bringen. Ende Juni kommt dann ein Brief mit 4 Ausweisen – so steht es in dem
Geheimdienstbericht – Pfarrer Köhler hat also scheinbar noch zwei anderen zur
Flucht verholfen. Der Pfarrer besuchte die Passbilder – und nach dem Bericht
klebte der Uhrmachermeister sie ein.
Pfarrer Hagendorf
„brachte dann verabredungsgemäß die zwei Personen“.
Am 24. August heißt es in
einem Schreiben der Staatssicherheits-Bezirksverwaltung Magdeburg an das
Ministerium des Inneren in Berlin, Staatssekretariat für Staatssicherheit
(Abteilung – IV -): „Nach Rücksprache mit dem Genossen Instrukteur sollen beide
Pfarrer festgenommen werden. Um Genehmigung der Festnahme wird gebeten.“
Pfarrer
Köhler kam gegen Abend mit seinem Auto nach Hause und sah, dass er gerade „abgeholt“
werden sollte. Geistesgegenwärtig kehrte er um, die Geheimdienstleute
verfolgten ihn. In Gorsdorf fuhr er auf einen Bauernhof, machte das Tor zu –
seine Verfolger fuhren vorbei. Er schaltete das Licht aus und fuhr ihnen
hinterher. Sie dachten, er wolle nach West-Berlin, und fuhren deshalb in diese
Richtung. Sie kamen nicht auf die Idee, dass er ihnen hinterherfahren könnte!
So konnte er fliehen.
Die Verhaftung von Pfarrer Hagendorf erfolgte am 17. September 1953. In den Vernehmungen gab er zu, zwei Männer versteckt zu haben. Immer wieder gab es Verhöre. Von einem anderen Beschuldigten heißt es zum Beispiel bei einem wiederholten Verhör, er habe „bisher verschwiegen“, „nähere Einzelheiten über die Verbrechen der vier Personen, die er mit Hilfe der Pfarrer Köhler und Hagendorf nach West-Berlin gebracht hat“, zu nennen. Sie hätten sich in Bitterfeld „aktiv an dem Putschversuch beteiligt, das Rathaus in Bitterfeld mit anderen Personen gestürmt, sowie an Plünderungen und Zerstörungen teilgenommen“. Über die zwei anderen, die nicht in Seyda waren, wird gesagt, sie hätten „Zerstörungen“ an der MTS in Klöden vorgenommen.
Bei gelungener Flucht
sollte Pfarrer Hagendorf eine Postkarte erhalten mit dem Inhalt: „Die zwei Uhren sind repariert.“
„Wesentliche
Ergebnisse der Ermittlungen“: „...Niemals aber wären die amerikanischen
Eindringlinge und Okkupanten und ihre neofaschistischen Banditen in
Westdeutschland in der Lage, diese verbrecherische Politik durchzuführen, wenn
sie nicht von Vaterlandsverrätern, deklassierten, bezahlten Elementen
unterstützt würden...
Der Beschuldigte hat
durch seine verbrecherischen Handlungen Provokateuren der gerechten Bestrafung
entzogen und damit seine feindliche Einstellung gegenüber der Regierung der
Deutschen Demokratischen Republik und der friedliebenden Werktätigen aktiv
unter Beweis gestellt und nicht zuletzt sein christliches Amt als Pfarrer
gröblichst missbraucht.“
„In
der obengenannten Strafsache hat am 30. und 31.3. sowie am 2.4.1954 Termin zur
Hauptverhandlung vor dem I. Strafsenat des Bezirksgerichts Magdeburg
stattgefunden... Die Hauptverhandlung wurde unter Ausschluss der Öffentlichkeit
durchgeführt, jedoch wurde durch Beschluss des Gerichts zwei Konsistorialräten
der evangelischen Kirche als Vorgesetzte des angeklagten Pfarrers Hagendorf die
Anwesenheit bei dessen Vernehmung (nur bei dessen Vernehmung) gestattet...“
Während für einen anderen
in dem Verfahren die Todesstrafe verhängt wurde, waren für Pfarrer Hagendorf 4
Jahre Zuchthaus beantragt. Verurteilt wurde er zu 2 Jahren und 6 Monaten
Zuchthaus. Eine Berufung wird abgelehnt: Er ist „zwar nicht zum Teilnehmer an
dem Verbrechen anderer geworden, wohl aber Teilnehmer an einer gegen unseren
Staat gerichteten Verschwörung. Er hat Boykotthetze gegen unsere staatlichen Einrichtungen
sowie Propaganda für nationalsozialistische und militaristische Kräfte, die
hinter allen Angriffen gegen den Staat der Arbeiter- und Bauernmacht stehen,
getrieben.“
Die „Strafnachricht“
erreichte seine Ehefrau erst Ende August 1954, darin steht, dass er „wegen
Verbrechen... zu zwei Jahren und sechs Monaten Zuchthaus“ verurteilt wurde.
Die
Amnestie zum 5. Republikgeburtstag soll Pfarrer Hagendorf im Herbst 1954 die
Entlassung geschenkt haben. Jedoch soll er mit einem Redeverbot belegt worden
sein, so dass er seinen Beruf nicht mehr ausüben konnte. Aus Anlass eines
Sterbefalls durfte er „in den Westen“ reisen und blieb dort, er wurde Pfarrer
in Westfalen. Er schrieb an einen Mellnitzer Bauern eine Postkarte: „Gottes
Güte ist unendlich. Er schenkt uns heute einen Sohn.“
1993
schrieb er seinen alten Konfirmanden, die sich zur Goldenen Konfirmation trafen, einen Gruß: „`Nun
aber bleibet Glaube, Hoffnung, Liebe: diese drei. Aber die Liebe ist die Größte
unter ihnen.`“ (1 Kor 13) Ich habe mich immer bemüht,
den Konfirmanden das doppelte Liebesgebot Jesu: Gottesliebe und Nächstenliebe,
zu aktualisieren. Und wenn es geschenkt wurde, dass dieses Gebot konkretisiert
wurde, ist das Ziel erreicht.“
Anmerkungen zur Lage in Seyda um den 17. Juni 1953:
Goldkonfirmand
Manfred Bloch erzählt (2003) über seinen Vater Gerhard Bloch, 1950 bis
Januar 1955 Leiter der Arbeiterkolonie
(„Diest-Hof“): Der Vater stand im Kampf mit dem Staat um Land, was in die LPG
sollte, er brauchte es aber, um die vielen Bewohner des Heimes zu ernähren. Er
wurde eingesperrt, vor dem 17.6. ist er freigekommen, weil sie ihm nichts
nachweisen konnten. Die Kolonie wurde zeitweise verstaatlicht, eine Leiterin
eingesetzt. In einer Nacht, als kein Mann da war, haben die Jungs die drei
Fahnenmasten mit dem Hackbeile vor dem 1. Haus abgehackt. – Nach dem 17.6. war
Ausnahmezustand, die Eltern waren zur Geburtstagsfeier bei Förster Richter
eingeladen. Sie überschritten die Sperrzeit, und schlichen sich durch das
Kartoffelfeld. Die Russen entdeckten sie und schossen auf sie (vgl. sein
Tagebuch, in der Mitte).
In der Berufsschule in den Baracken hinter dem Schützenhaus hat sich folgendes zugetragen: Der Lehrling Paul Wenzel kommt in die Klasse und ruft: „Jetzt hat der Spuk ein Ende!“ Er nimmt die Bilder von Pieck, Grotewohl u.a. ab. Beifall der Klasse. Ein Lehrer versucht die Jugendlichen zu beschwichtigen. Nach 14 Tagen ist er verschwunden, in den Westen.
Aus der Seydaer Schulchronik, von Lehrer Schmalz
geschrieben: „Am 15. und 16. Mai 1949 fand die Wahl der Delegierten zum 3.
Volkskongress in Seyda und der Ostzone statt. Die Wahl wurde in der Schule
eingehend behandelt. Die Schüler der oberen Klassen verfassten Aufsätze und
Niederschriften, die von den Lehrern korrigiert und den Eltern zur Unterschrift
vorgelegt wurden. (Auftrag) In Seyda hatte die Wahl folgendes Ergebnis:
Sonntag, den 15. Mai 1949
Seyda: zur Wahl erschienen:
Erwachsene: 1070 von 1070 Wahlberechtigten.
Jugendliche 56 von 61 Wahlberechtigten
Ja-Stimmen: Erwachsene 596, Jugendliche 34
Nein-Stimmen: Erwachsene 376, Jugendliche 12.
Ungültige Stimmen: Erwachsene: 108, Jugendliche:
10.
Nach angeordneter Revidierung der Stimmen nach
Wahlschluss am 16.5.49 ergab sich folgendes Ergebnis:
Ja-Stimmen: 692 Nein-Stimmen:
434 Ungültig:
40.
...
Am 15.10.1950 Wahl. Wahlbeteiligung 99,14%. 100%
davon gaben ihre Stimme den Kandidaten der Nationalen Front.“
Viele Menschen auch aus unseren Orten sind in diesen Tagen nach West-Berlin geflohen, insbesondere Bauern. Es gab auch welche, die aufgrund der schlimmen Verhältnisse in den Lagern dort wieder umkehrten und zurückkamen, jedoch war das eher die Ausnahme.
Frau
Hagendorf organisierte einen LKW, mit dem etliche Seydaer 1954 zum Kirchentag
nach Leipzig gefahren sind. Er stand unter der Überschrift: „Seid fröhlich in
Hoffnung“. – Ein Gemeindeglied soll
Pfarrer Hagendorf im Zuchthaus das Essen gebracht haben (als Gefängniswärter).
In
Jessen gab es – eine Besonderheit am 17. Juni – eine Bauernerhebung. 1.500
Bauern aus der Elbaue zogen nach Jessen. Auch hier wurden Gefangene befreit.
Transparente
auf dem Seydaer Markt wurden entfernt.
Nachzulesen
sind die Ereignisse, insbesondere in Bitterfeld und Wolfen, auch in dem Buch von Hermann-Josef Rupieper
(Hrsg.): „...und das Wichtigste ist doch die Einheit.“ Der 17. Juni 1953 in den
Bezirken Halle und Magdeburg. Münster, Hamburg, London 2003.
Mehr
über Pfarrer Hagendorf kann man im 7. Band der Seydaer Kirchengeschichte
erfahren, vgl. auch im Internet unter www.seyda.de.
Brich dem Hungrigen dein Brot.
Die im Elend wandern,
führe in dein Haus hinein!
Trag die Last der andern.
Brich dem Hungrigen dein Brot,
du hast´s auch
empfangen.
Denen, die in Angst und Not,
stille Angst und Bangen.
Der da ist des Lebens Brot, will sich täglich geben,
tritt hinein in unsre Not, wird des Lebens Leben.
Dank sei dir, Herr Jesu Christ,
dass wir dich noch haben
und dass du gekommen bist,
Leib und Seel zu laben.
Brich uns Hungrigen dein Brot,
Sündern wie den Frommen,
und hilf, dass an deinen Tisch
wir einst alle kommen.“
(Evangelisches Gesangbuch
Nr. 418,
von einem Seydaer
Pfarrerssohn gedichtet).
Überliefert
ist, dass nach dem niedergeschlagenen Aufstand vom 17. Juni 1953 die
Streikleitung von Wolfen und Bitterfeld im Seydaer Pfarrhaus eine Zuflucht
fand. Ihre Flucht gelang. Der Pfarrer wurde einige Wochen später eingesperrt
und zu 2 1/2 Jahren Zuchthaus verurteilt.
Hier kann man erfahren,
was sich in Bitterfeld und Wolfen ereignete, wie die Flüchtenden nach Seyda
kamen, was sich im Pfarrhaus zutrug und wie sie frei kamen; was mit Pfarrer
Hagendorf geschah. Den Hauptteil bildet der Bericht von Wilhelm Fiebelkorn, der
selbst unter denen war, die damals in Seyda Schutz und Hilfe fanden.
Spenden für dieses Heft
sollen dem
Christlichen Verein
Junger Menschen Seyda e.V.
zu Gute kommen.
Tagebuch Gerhard Bloch
Leiter der Arbeiterkolonie Seyda (vgl. S. 39)