„Wir sind Lutheraner“

Auf den Spuren Luthers

in und um Seyda.

 

Herzlichen Dank an Frau Katharina Körting, Reformationsbeauftragte des Kirchenkreises Wittenberg, für ihren freundlichen Besuch und die Anregung zu diesem Heft. - Das Bild ist von Jasmin Lindemann, Seyda, in der 1. Klasse gemalt worden.

 

Seyda, 4.2.2016 und 15.4.2016.

 

Arnsdorf                                Seiten 7 und 8

 

Elster                                     Seite 9

 

Gadegast                                Seiten 14, 17, 19, 20, 21

 

Gentha                                   Seiten 10, 11, 19, 23, 24

 

Mark Zwuschen                    Seiten 23 und 25

 

Mellnitz                                 Seiten 5 und 23          

 

Morxdorf                               Seite 15

 

Naundorf                               Seiten 19, 23, 24

 

Ruhlsdorf                               Seiten 7, 18, 21

 

Seehausen                             Seite 15

 

Seyda                                      Seiten 3 bis 9, 11 und 12, 14, 16 und 17, 21 bis 23 und 26

 

Zemnick                                 Seite 19

 

 

Seit dem 31. Oktober 1517 nannte sich der Mann, der die Reformation maßgeblich auslöste, Luther. Erstmals hat er so sein Thesenblatt unterschrieben und ist damit der damals verbreiteten Sitte gefolgt, den eigentlichen Namen zu gräzisieren, wie es beispielsweise sein Freund Melanchthon tat, der vorher „Schwarzerd“ hieß. „eLeUTHERia“ heißt auf Griechisch „Freiheit“. Freiheit brachte seine Erkenntnis der Heiligen Schrift: Die Freiheit, die davon lebt, dass Gottes Gnade mir gilt; dass ich damit allen anderen Autoritäten trotzen – und in der Liebe tätig sein, froh und getrost leben kann. (Vgl.  Kaufmann, Thomas: Geschichte der Reformation 2009, 186.)

 

Die Reformation fand in unserer unmittelbaren Nachbarschaft statt – Seyda liegt genau zwischen Jüterbog, wo Tetzel seine Ablassbriefe verkaufte, und Wittenberg, wo der Thesenanschlag „Gegen den Ablass“ als Reaktion darauf stattfand. Sie hat hier ihre unmittelbaren Auswirkungen gehabt: In der Reformationszeit, aber auch in der Zeit danach, - bis heute, 500 Jahre später.

Martin Luther kannte Seyda, beim Predigen in Wittenberg hat er das Städtchen erwähnt, als Entfernungsangabe, etwa so: „Stellt Euch vor, liebe Gemeinde, der Mose ist da so weit gezogen wie etwa nach Seyda…“ (WA 25,473,15). Er hat sich auch um die Besetzung der Pfarrstelle persönlich gekümmert. Sein Freund Bartholomäus Rieseberg war der erste evangelische Pfarrer in Seyda und wirkte hier 1527 bis 1540. Er kam auf Anraten Luthers hierher, nachdem er als reformatorischer Prediger in Hessen kurz zuvor dem Scheiterhaufen entgangen war.

Am 13. November 1528, „Freitag nach Martini“, soll Martin Luther anlässlich der ersten evangelischen Kirchenvisitation persönlich in Seyda gewesen sein – so steht es in einem „Tagebuch“, in dem das Leben Luthers Tag für Tag aufgeschrieben worden ist (Buchwald). Zehn Jahre nach der Reformation ging es in dieser ersten evangelischen Kirchenvisitation im „Kurkreis“ darum, was in den Gemeinden von der reformatorischen Botschaft angekommen war. Die Visitationskommission machte – nicht in Seyda, denn dort war ja schon Pfarrer Rieseberg tätig, aber an anderen Stellen -, erschreckende Erfahrungen. Manchmal konnte nicht einmal der Pfarrer das Vater Unser. Zum Pfarrer-Sein reichte es, lesen zu können, „die Messe lesen“ eben.

Die Visitatoren ließen sich auch in Seyda zunächst genau über die Verhältnisse unterrichten, bevor sie ihre Ratschläge gaben. Für Seyda wurde verfügt, eine Schule und ein Hospital zu bauen. Ein „Gemeiner Kasten“, also eine Kasse für die Allgemeinheit, insbesondere auch für die Armen, sollte eingerichtet werden.

Labetz, kirchlich damals Seyda zugehörig - wurde gegen Schadewalde, was zu Wittenberg gehörte, getauscht. Der Pfarrer von Mellnitz, der aufgrund des kleinen Ortes nicht genug Einkommen hatte, wurde nach Seyda verfügt. Noch heute kann man an der kleinen Feldsteinkirche in Mellnitz die „Gemeindepforte“ und die „Priesterpforte“ an der Südseite entdecken und dabei selbst feststellen, dass der Pfarrer dort jedenfalls immer sehr schlank gewesen sein muss, wenn er da hindurch passte.

In Seyda wurde eine Superintendentur eingerichtet: Ein Superintendent sollte fortan über Bildung und Amtsführung von zehn Pfarrern wachen. Die Superintendentur in Seyda hatte bis 1877 Bestand, und Seyda hatte so bis 1919 zwei Pfarrstellen: Einen Superintendenten, später „Oberpfarrer“, und einen „Diakon“, Kirchplatz 1 und Kirchplatz 2. Das jetzige Pfarrhaus wurde jedoch erst 1846 neu gebaut.

Nachdem Luther in Seyda war, schrieb er die Katechismen, um dem Notstand an Bildung abzuhelfen. Kurz und präzise werden die wichtigsten Stücke des christlichen Glaubens erklärt: Für „Haus, Schule und Kirche“ im Kleinen Katechismus – bis heute steht er im Gesangbuch, in dialogischer Form, also im Frage-Antwort Prinzip. Der „Große Katechismus“ war zuerst für die „Pfarrherren“ bestimmt und gab entsprechendes Hintergrundwissen, zum Beispiel: „Was ist Gott?“ - „Woran Du Dein Herz hängst!“

Über Jahrhunderte wurden und werden diese Katechismen gelehrt – eben in „Haus, Schule und Kirche“; lange Zeit gab sonntags früh einen Gottesdienst und am Nachmittag eine Katechismuspredigt. Es war dann selbstverständlich, dass – wie Luther schreibt – „ein Kind von sieben Jahren weiß, was die Kirche sei“.

Diese Visitation blieb nicht die letzte, immer wieder wurde nun danach gesehen, ob es in der Gemeinde ordentlich zuginge. So stellte man fest, dass zwar eine Schule, aber kein Hospital errichtet worden war. Die Seydaer entschuldigten sich: Dafür hätten sie etwas für das Zahnaer Hospital dazugegeben.

Die Visitation zeugt von dem klaren Gestaltungswillen der Reformatoren, der seinen handfesten Niederschlag in den Ortsgemeinden fand. Wie behutsam die Reformation auf der anderen Seite auch mit Traditionen umgehen konnte, zeigen die Kirchen in Ruhlsdorf und Arnsdorf noch heute. Ein Schnitzwerk der „Heiligen Familie“, über 500 Jahre alte, findet man in Ruhlsdorf. Es zeigt neben Maria und Josef, die wir aus der Heiligen Schrift kennen, dazu die heilige Anna – die Großmutter von Jesus, Mutter der Maria. Sie hat Jesus auf dem Schoß und ist deutlich „unter der Haube“, also verheiratet. Im Hintergrund sind ihre drei Ehemänner zu sehen, die sie nacheinander gehabt hat (sie starben jeweils). Diese Heiligen verloren mit der Reformation ihre Bedeutung als Heilsmittler („Heilige Sankt Anna, hilf, ich will ein Mönch werden!“ – so hatte der junge Martin Luther in Todesangst noch gerufen). Sie wurden aber nicht gänzlich aus der Kirche verbannt, sondern einfach aus dem Zentrum gerückt. Noch deutlicher ist das in der Kirche in Arnsdorf zu sehen, wo das Mittelteil des Altars mit Heiligenfiguren herausgenommen wurde und an der Wand seinen Platz fand, in die Mitte aber eine Kanzel eingebaut wurde: Das Wort Gottes sollte in der Mitte stehen, Jesus Christus.

Lang ist die Kette der lutherischen Pastoren, die in Seyda Dienst taten, oft sehr gelehrte Menschen mit guten Beziehungen zur Wittenberger Universität. Vor Augen ist uns Johannes Zacharias Hilliger, der 45 Jahre lang im Dienst war, 1725 bis 1770, und auf dem großen Ölbild in der Kirche zu sehen ist. Seine Gelehrsamkeit zeigt sich in den zahlreichen Büchern im Hintergrund. Er selbst hält ein aufgeschlagenes Buch in der Hand, in dem in drei Sprachen (Hebräisch, Latein und Griechisch) geschrieben steht: „Befiehl dem Herrn deine Wege, und auch, wenn es Dir schlecht geht: Der Herr sieht Dich doch!“  (Vgl.: „Die Vorgänger. Seydaer Pfarrer zwischen stabilitas loci und peregrenatio.“ www.seyda.de/2014-5.htm )

Die Gemeinde in Elster, schon durch ihren Namen in die Reformationsgeschichte eingegangen (am Elstertor, also am Wittenberger Stadttor Richtung Elster verbrannte Martin Luther am 10.12.1520 die Bannandrohungsbulle), bekam durch Luther ihren Pastor, Valentin Schwan, eingesetzt – und auch das, was viele befürchtet hatten und was das Zölibat gerade verhindern sollte: Das „Vererben“ von Pfarrstellen, trat hier ein, dreimal „Schwan“ steht in der Reihe der evangelischen Pfarrer Elsters zu Beginn. (Vgl. www.seyda.de/elster.htm.)

1521 stand Luther „vor Kaiser und Reich“ in Worms, mutig widerrief er nicht, sondern berief sich auf die Heilige Schrift und die Vernunft. Ein dänischer Prinz war dabei, Christian, und er war so begeistert von diesem Bekenntnis, dass er lutherisch wurde und hernach, als König von Dänemark war, Bugenhagen drei Jahre zu sich einlud, um lutherische Kirchenordnungen für sein Königreich zu verfassen. „Gottes Wort und Luthers Lehr vergehen nun und nimmermehr“ – so kann man es noch heute von den dänischen Kanzeln hören. Die lutherischen Königshäuser standen miteinander in Beziehung, und so kam eine dänische Prinzessin, Hedwig, nach Kursachsen: Die Enkeln Christians. Ihr Mann, Kurfürst Christian, verstarb früh, und sie bekam ihren eigenen Herrschaftsbereich auf der Lichtenburg bei Prettin, der sich bis zu unseren Orten hin erstreckte. So stiftete sie die kleine Fachwerkkirche in Gentha, 1624. Im Dreißigjährigen Krieg überlebten in Gentha nur zwei Witwen und zwei Witwer. Sie bekamen Ackergerät und Vieh zum Wiederaufbau  - und sie hatten eine Kirche, zum Trost und zur Hoffnung. „Hat sich das gelohnt?“, kann man heute gut fragen. Das alles ist Ausdruck lutherischen Glaubens, der sich in Gentha aber auch noch auf besondere Weise manifestiert. Erst vor 3 Jahren haben wir es entdeckt: Hedwig selbst sitzt am Tisch des Herrn, auf dem Ölbild über dem Altar. Ein Apostel ist weggelassen. Das ist ganz typisches lutherisches Denken: „Wir haben einen Platz dort, bei Jesus.“ In der Stadtkirche von Wittenberg hat es Cranach einmal begonnen, Menschen aus Wittenberg an den Tisch Jesu zu malen. In Gentha aber sitzt dort – das ist sensationell! – erstmals eine Frau.

Die Wirksamkeit des Glaubens in der Liebe – sie wurde von Anfang an deutlich, schon bei der Visitation ging es um Bildung für alle, um die Unterstützung der Schwachen und Armen sowie ein Hospital für Seyda. Im Jahre 1708 brannte fast die ganze Stadt Seyda ab, auch die Kirche wurde zerstört: Und da griff das christliche Gemeinwesen: Eine „Liebessteuer“ und ein „Liebesopfer“ sächsischer Städte half, Stadt und Kirche wieder aufzubauen. Deshalb steht Seyda, weil es diese Nächstenliebe gab! 1711 konnte die neue Kirche eingeweiht werden. 1717 war die Kraft da, auch wieder eine Glocke (vorher waren es 5) auf den Turm zu bringen. Sie klingt noch heute, und auf ihr steht, dass sie den „Freudenthon evangelischer Christenheit ins Künftige vermehren“ soll. 

Ein wenig später wird dann auch der typisch lutherische Kanzelaltar in die Kirche gekommen sein. An ihm ist das ganze „lutherische Programm“ abzulesen: Das Wichtige in die Mitte: Nämlich Wort und Sakrament als die Heilsmittel, also die Kanzel, den Altar und den Taufstein. Mit Hilfe des roten Vorhanges wird verdeutlicht: Das, was da auf dem geschnitzten Bild dargestellt wird, dass Jesus gemeinsam mit seinen Jüngern das Mahl feiert, das wird bei uns hier und heute präsent am Tisch des Herrn und in der Verkündigung seines Wortes. Bemerkenswert ist der Einladungscharakter: Das Brot ist schon hingelegt auch für die, die noch kommen. Martin Jentzsch, der in Seyda geboren wurde, hat dies in seinem Lied verarbeitet, was noch heute in unserem Evangelischen Gesangbuch steht – und was später noch einmal zur Sprache kommen soll. (EG 418). Die wichtige lutherische Unterscheidung von „Gesetz“ und „Evangelium“ ist auch an unserem Altar zu erkennen: Links Mose mit den Zehn Geboten, der „Ordnung“, und rechts Johannes, der geschrieben hat: „Gott ist die Liebe“. Beide zeigen auf Christus am Kreuz. Die beiden großen Figuren Petrus und Paulus, die wohl seit 1711 der Kirche den Namen geben, sind einmal vertauscht worden. In diesem Jahr sollen sie – auch in Vorbereitung auf das Reformationsjubiläum – wieder in die richtige Reihenfolge kommen, die Anträge dazu sind gestellt. Paulus will doch auf das Kreuz (und nicht in die Luft) zeigen, und Petrus mit seiner Handbewegung zum Tisch des Herrn einladen und nicht dazu, daran vorbeizugehen!

An das Miteinander von weltlichem und geistlichem Regiment erinnern in der Kirche die Sitze für die Amtsleute auf der Empore mit dem sächsisch-polnischen Allianzwappen wie auch das Epitaph links neben dem Ölbild des Superintendenten Hilliger für einen Amtsmann. Er war sogar 50 Jahre im Dienst und ließ sich auf die Grabplatte schreiben: „Mach mir das mal nach, dann sprechen wir darüber!“ Auch auf der alten Glocke stehen sowohl weltliche als auch geistliche Repräsentanten. Die alte Schule neben der Kirche wurde 1881 gebaut – zu einem Drittel mit Geld der Kirchengemeinde, und bis 1918 hatte der Superintendent die Schulaufsicht.

Auf dem Ölbild ist schon der „Lutherrock“ zu sehen, also der schwarze Talar mit Beffchen, der uns bis heute als Pfarrerkleidung vertraut ist. So soll Luther als Professor in Wittenberg gekleidet gewesen sein. Allerdings gehörte dies wie vieles zu den „Adiáphora“, den Nebensächlichkeiten. Luther bekam einmal einen Brief aus dem Brandenburgischen von einem besorgten Pfarrer: Der Fürst erlaube ihm jetzt wohl, evangelisch zu predigen, aber er müsse die alten Gewänder aus katholischer Zeit im Gottesdienst anziehen – ob er das machen könne? Und Luther antwortete ihm, wichtig wäre doch das Wort, was er predige – da könnte er notfalls auch in Unterhosen da stehen.

Viele Jahrhunderte blieben also die alten Messgewänder noch in Gebrauch, in Gadegast zum Beispiel; dort haben wir auch (ungefähr alle 100 Jahre) auch eine Quittung über die Anschaffung eines neuen Messgewandes. Erst im Jahre 1817 verfügte der dann zuständige preußische König den schwarzen Talar als einheitliche Dienstkleidung der Pfarrer. (www.seyda.de/gadegastgeschichte.htm)

Da hatte sich in Seyda viel verändert: Sachsen hatte mit den Franzosen gekämpft und war im Befreiungskrieg gegen Preußen und Russen unterlegen gewesen. Unser Gebiet kam zu Preußen, die preußische Provinz Sachsen entstand, die bis vor kurzem noch  im Gebiet der „Kirchenprovinz Sachsen“ zu erkennen war – bis sie sich mit Thüringen zur „Evangelischen Kirche in Mitteldeutschland“ vereinigte. Der preußische König wurde zuständig. Sein Königshaus kam aus Hohenzollern, also aus Süddeutschland, und war also von der Reformation, die in der Schweiz ihren Ausgang nahm, geprägt, „reformiert“. Schon seine Vorgänger hatten versucht, die zumeist lutherischen Untertanen und die Reformierten in einer Kirche zu vereinigen, was nicht gelungen war. Nun wurde es schlauer angefangen: Es gab eine Union, wie ein Dach praktisch, über lutherische und reformierte Gemeinden. Jede Gemeinde konnte also in ihrem Bekenntnisstand bleiben. Der König, der nebenbei ein Hobby-Liturgiker war und über seinen Freund, den Zar Alexander (Alexanderplatz!), einen russischen Musiker, Bogatzky, kennengelernt hatte, schuf eine eigen Unionsagende, also ein Gottesdienstbuch mit den entsprechenden Gebeten und Singstücken. Jede Gemeinde, die diese Agende freiwillig einführte, bekam ein Exemplar mit einer  persönlichen Widmung in Goldschrift. Ich habe so ein Buch zum Beispiel in Morxdorf unter einer Kirchenbank gefunden. In Seehausen aber, da zogen die Bauern in diesen Tagen vor das Pfarrhaus, hielten ihre alten Gesangbücher in die Höhe und riefen: „Wir sind Lutheraner!“

Auf dem Seydaer Kirchplatz steht die „Befreiungslinde“, eine kaukasische Linde (erinnernd an die Waffenbrüderschaft von Russen und Preußen), jetzt 200 Jahre alt. Der andere Baum ist eine Luthereiche, 1883 zum 400. Geburtstag Martin Luthers gepflanzt.

In diesem Jahr, 1883, begann auch ein großes Liebeswerk in Seyda, was seine Wurzeln bei dem großen lutherischen Theologen Friedrich von Bodelschwingh hat. Dieser hatte in guter lutherischer Tradition der tätigen Nächstenliebe in Bethel eine Arbeiterkolonie gegründet. Sein Verwandter, Gustav von Diest, tat dies 1883 in Seyda. Er sah in den durch die große Wirtschaftskrise Obdachlosen, die in Massen durch das Land zogen, die „Brüder von der Landstraße“, denen man „Arbeit statt Almosen“ geben muss: Also auch hier eine gute lutherische Sicht auf die Individualität des Menschseins, den persönlichen Wert eines jeden Menschen. (www.seyda.de/heide.htm )

Brich dem Hungrigen dein Brot. Die im Elend wandern, führe in dein Haus hinein, trag die Last der andern.“ So dichtete es Martin Jentzsch in dem Gesangbuchlied Nr. 418, er wurde in Seyda geboren, sein Vater war in der Gründerzeit der Arbeiterkolonie dort tätig, und er saß vor dem Altar in der Seydaer Kirche: „Brich uns Hungrigen dein Brot, Sündern wie den Frommen, und hilf, dass an deinen Tisch wir einst alle kommen.“

Lutherisch geprägt war in diesen Zeiten auch ein großer Teil der Missionsbemühungen in Tansania, dem damaligen „Deutsch-Ostafrika“. In Gadegast erinnert eine alte Missionsfahne daran, die über der Empore hängt. Damals gab es in Gadegast Missionsfeste, wo zum ersten Mal ein Schwarzer zu Besuch war – und die Gadegaster wie auch die Gemeindeglieder der anderen Orte haben gespendet für Missionsstationen: Kirche, Schule, Krankenhaus. Von einer solchen ehemaligen lutherischen Missionsstation haben wir regelmäßig Besuch: Aus Lugala in Tansania. Ein Stück der lutherischen Weltkirche, zu der wir gehören, und an der unsere Gemeinden mitgebaut haben.

Auch die Lutherkirche in Leinefelde im Eichsfeld wurde mit Spenden aus Gadegast finanziert, 1886. Genau aufgeschrieben ist, wie viel jede Familie dafür gegeben hat. Das „Gustav-Adolf-Werk“ baute für die Evangelischen in der Diaspora (das heißt „in der Zerstreuung“, „in der Minderheit“) diese Kirche.

Im Jahr 1886 wurde die Kirche in Ruhlsdorf gebaut. Patron war Carl Traugott von Hülsen, er hat sie gestiftet. Er hat mit seinem Leben ein besonderes Zeugnis lutherischer Frömmigkeit gegeben. Nicht nur, dass der Pastor bei seiner Leichenrede erwähnte, „keine Schwelle“ sei ihm „zu niedrig“ gewesen, er habe seine Landarbeiter, wenn sie krank waren, besucht, um mit ihnen zu singen und zu beten. Nein, er hat auch jene allgemeine Feuerversicherung für die Provinz Sachsen und später für ganz Deutschland organisiert, die viele Menschen vor Verelendung und großer Not bewahrt hat. Und er ist im Reichstag aufgetreten, und zwar gegen Bismarck im Kulturkampf. Er machte klar, dass er als Lutheraner die Maßnahmen gegen die katholische Kirche nicht gutheißen könne – er war der erste, der den Mut hatte, im Reichstag so zu sprechen, und, wie wir wissen, hat Bismarck diese Sache aufgeben müssen. Im Vorraum der Ruhlsdorfer Kirche ist das Grabkreuz Carl Traugott von Hülsens zu sehen, mit dem Bibelspruch: Jesus Christus spricht: „Ich lebe, und ihr sollt auch leben!“ Auch das Abendmahlsgeschirr hat er (neben der ganzen Kirche) gestiftet. Seine Nachfahren halfen uns im letzten Jahr mit einer großzügigen Spende, das große Kirchendach zu decken und setzen so die Tradition ihres Ahnen fort. (www.seyda.de/2014-2.htm)

Die Ausstattungen unserer Kirchen zeigen auf ihre Weise, was den Gemeinden wichtig war und ist: So findet sich auch in Naundorf ein Kanzelaltar; in Gentha war es bis vor 100 Jahren einer (ein altes Foto an der Westseite der Kirche lässt dies erkennen); in Gadegast steht in der Mitte ein Bild von Christus, der mit ausgebreiteten Armen auf uns zukommt; in Zemnick ist die Ostergeschichte mit Maria von Magdalena auf einem bunten Glasfenster der zentrale Blickfang. Den Kontrast merkt man vielleicht erst, wenn man etwa einmal nach Ostfriesland fährt, wo in den reformierten Kirchen kein Bild zu sehen ist, nur eine Kanzel in der Mitte, und ein „Klapptisch“ in der Ecke steht, der nur aufgestellt wird, wenn Abendmahlsfeier ist.

Ein Zettel für Abkündigungen aus den zwanziger Jahren des 20. Jahrhunderts in Gadegast, gefunden beim Saubermachen unter einer Kirchenbank, kündet von der „Beichte für die Jugend“, und in Gadegast steht tatsächlich hinter dem Altar noch ein Beichtstuhl. Luther hatte auch diese Form der Beichte ja nicht abgeschafft – noch 1817 wurden bei der Renovierung der Schlosskirche in Wittenberg die Beichtstühle wieder eingebaut – sondern er hatte nur den Zwang zur Beichte kritisiert und den Irrtum, dass man da etwa alles benennen könnte.

Dass die Gemeinde sich aus Wort und Sakrament konstituiert, wird auch an dem Kirchenbau in Meltendorf sichtbar. In dem kleinen Bauerndorf abseits des Fläming gab es von alters her keine Kirche, der Weg bis nach Elster war weit. Der größte Bauer, Bröse, baute Mitte des 19. Jahrhunderts ein neues Wohnhaus und ließ in seiner Mitte eine Kirchstube errichten. Später dann, 1896, baute das Dorf gemeinsam und aus eigener Kraft eine eigene, kleine Kirche. Sie ist deshalb bis heute in kommunaler Hand. In diesem kleinen Dorf gab es einen lebendigen Kirchenchor, der über Jahrzehnte jeden Sonntag in der Kirche sang. Der Elsteraner Pfarrer freilich kam nicht so oft, so „besorgte“ man sich Ersatz, etwa aus Gadegast – oder gar aus Piesteritz; mit viel Aufwand: Um das Wort Gottes zu hören. (www.seyda.de/2014-1.htm)

Das Reformationsjubiläum 1917 fiel in die Zeit des Ersten Weltkrieges. In der Gadegaster Kirche haben wir aus diesem Jahr noch ein „Nagelkreuz“, für jeden Nagel wurde eine Spende für eine Gabe an die Soldaten gegeben. Luther im Dienste des Nationalismus, auch das hat es gegeben, bei uns.

Die Kirchenausmalung in Seyda 1935 – nachgezogen von einem katholischen Kirchenmaler 1955 – zeigt das Wappen Luthers und Melanchthons, das Lied „Ein feste Burg“ sowie zentrale Bibelverse. Ähnlich ist es in der Ruhlsdorfer Kirche, wobei Wesentliches dort bisher nicht mehr entziffert werden kann. Lutherbilder aus der Zeit um 1900 gibt es in Gadegast und in Ruhlsdorf (dort auch Melanchthon), und aus dem 18. Jahrhundert ein Gemälde der beiden von Siebenhaar in Öl.

Die „Trotzigkeit“ des lutherischen Glaubens kann man im Leben und Wirken von Pastor Hagendorf erkennen, der 1938 bis 1954 in Seyda tätig war. Erstmals ins Visier der GeStaPo geriet er, weil er in die Antwortbriefe zu Ahnenanfragen zum Ariernachweis eine Spendenbitte für Judenchristen einfügte. Wegen kritischer Äußerungen kam er in Haft. Nach dem 17. Juni 1953 klopften zwei Streikleiter aus Wolfen und Bitterfeld an seine Tür: „Einer muss uns aufnehmen! Das hat Jesus gesagt!“ Der Pastor tat dies, verhalf ihnen zur Flucht – und wurde daraufhin wieder eingesperrt. (Vgl: „Einer muss uns aufnehmen, das hat Jesus gesagt. Der 17. Juni 1953 im Seydaer Pfarrhaus.“ (www.seyda.de/1953.htm, www.seyda.de/2014-6.htm)

Die Zugehörigkeit zur lutherischen Kirchenfamilie der Welt ist uns seit 2003 ganz handgreiflich deutlich geworden. Damals gab es einen Pfarreraustausch mit Baltimore/USA. Pastor Keith Hardy war zweimal je einen Monat zu Gast und staunte: „In jedem Dorf eine große Kirche in der Mitte, und die ist lutherisch!“ Nach dem Pfarrer-Besuch (er kam mit seiner Frau) folgten Gemeindeglieder der Epiphany Lutheran Church aus Baltimore, auch in diesem Jahr wollen sie, sogar über einen längeren Zeitraum, drei Monate lang, kommen. In der Naundorfer Winterkirche hängt ein Kreuz aus rotem Glas, aus Baltimore.

Die Gemeindegruppe aus Seattle, die im Jahr 2005 half, die Mellnitzer Kirche sowie das CVJM-Haus in Seyda zu renovieren, kam von der „Westside Presbyterian Church“; „Presbyter“ ist das das griechische Wort für „Älteste“, sie kommen aus der reformierten Tradition, waren aber auch  mit uns gemeinsam auf den Spuren Luthers. Ja, dies war der Auslöser der ersten Begegnung, ausgerechnet am 11. September 2001. Überhaupt hat uns das Interesse an der Reformation, auch am Jubiläum 2017, zu mancherlei Kontakten verholfen: Etwa besucht uns regelmäßig ein großer Chor der größten lutherischen Universität in den USA, aus Valparaiso bei Chicago. 50 Studentinnen und Studenten sangen bei Konfirmationen in Gentha und Seyda sowie an der Kapelle in Mark Zwuschen. Dieser Chor, der inzwischen eine Partnerschaft zum Thomanerchor in Leipzig hat und auch beim Staatsakt der Bundesregierung zum Reformationsjubiläum singen soll, hatte zuerst mit uns hier Kontakt und kommt deshalb in großer Treue auch in unsere kleinen Orte und Gemeinden. Andere Reformations-Besucher konnten wir aus Dänemark (Bischöfin Christiansen zum Fest der Kirchensanierung in Gentha 2015), Tschechien (Böhmische Brüder) und aus Polen (Masuren) begrüßen. (www.seyda.de/neuewelt.htm)

Zu einem Dorfjubiläum in Naundorf spielte die Kirchengemeinde die Dorfgeschichte in mehreren Szenen nach, zu Gast war Bernhard Naumann, der „Luther“ aus Wittenberg: Denn Luther kam natürlich auch vor!

Besondere Begegnungen gab es über das Zentrum des Lutherischen Weltbundes: Jeweils eine Gruppe von ca. 16 Gästen kam für einen Nachmittag und Abend in zwei Kirchengemeinden: Wie bei der Olympiade, aus allen Erdteilen: Lutheraner aus Simbabwe, Lettland, Hongkong, El Salvador, Kanada, USA, Ghana, Sambia, Indien, Kolumbien, Schweden, Dänemark… Wechselseitig ein großes Erlebnis!

Schließlich brachte die Flüchtlingshilfe in den vergangenen Monaten erste Versuche arabischer Führungen durch Wittenberg und der Beschreibung der Reformation für Menschen aus einem ganz anderen Kulturkreis. Dass man eben ein „Ticket“ fürs „Paradies“ nicht kaufen kann, sondern es durch Jesus geschenkt bekommt. Dass es nicht auf die Leistung ankommt, sondern auf die Liebe Jesu zu jedem Einzelnen von uns – das steht im Kontrast zu allem Leistungsdenken, im Islam wie auch in unserer modernen westlichen Gesellschaft.

Dass Luthers Geist lebendig ist unter uns, daran erinnert auch die Kapelle in Mark Zwuschen mit ihrer Spitze, 2011 aufgesetzt. Da wird – in Metall – das wehende Grabtuch dargestellt, was schon auf den Cranachbildern zu sehen ist. Und es steht „Vivit!“ dabei, „Er lebt!“, Jesus lebt – die österliche Botschaft, von der Lutherrose abgeschrieben, die durch die Zeiten geht und eben froh und getrost macht. (www.seyda.de/kapelle.htm)

Vieles ist „lutherisch“, was wir gar nicht merken – wie ein Fisch, der nicht merkt, dass das Wasser ihn umgibt – erst, wenn es fehlt, wird´s schwierig.

Dass heute die Geschenke zu Weihnachten gegeben werden und nicht, wie ganz früher, am Nikolaustag: das geht auf Martin Luther zurück. Auch das BaFöG für Studenten, natürlich das evangelische Pfarrhaus mit Pfarrfrau.

Die Gedanken Luthers sind in Seyda durch die Zeiten erhalten geblieben: Dass wir aus Gottes Gnade leben – und dass das Freiheit schenkt von vielen anderen Heilslehren (wie die vom Geld, mit denen Tetzel zu tun hatte); dass das jeder selbst in der Bibel lesen können soll – deshalb die Bemühung um Bildung und Bibel; dass der Nächste unsere praktische Hilfe braucht; dass wir uns freuen können an den guten Gaben Gottes – und, vielleicht gerade in unseren Tagen wesentlich: dass wir eine Hoffnung haben, die uns – selbst wenn morgen die Welt unterginge – doch heute noch ein Apfelbäumchen pflanzen lässt.

 

 

„Gott geb uns allen

seiner Gnade Segen,

dass wir gehen auf seinen Wegen

in rechter Lieb

und brüderlicher Treue,

dass uns die Speis nicht gereue.

Kyrieleison.

Herr, dein Heilig Geist

uns nimmer lass,

der uns geb zu halten rechte Maß,

dass dein arm

Christenheit

leb in Fried und Einigkeit.

Kyrieleison.“

 

Abendmahlslied Martin Luthers,

gesungen in Seyda seit 500 Jahren.

EG 214,3