„Jede Zeit in meinem Leben habe ich als eine gute angesehen; zu der Zeit, wo ich in ihr lebte, war es für mich immer die beste, die ich eigentlich festhalten wollte. Doch wie töricht, andersartige Zeiten kamen, und wieder waren es die besten, immer überwog bei Weitem das Gute und Schöne, was erst richtig als schön empfunden wurde, wenn auch Tiefschläge dazwischen waren. Und wenn ich jetzt rückschauend über mein Leben berichte, so tue ich es voller Dankbarkeit.“

 

Die beste Zeit.

Das Leben meiner Großmutter,

von ihr selbst erzählt.

 

            Teil 1 

 

       

„Der Herr hat seinen Engeln befohlen,

dass sie dich behüten

auf allen deinen Wegen.“

Konfirmationsspruch (Ps 91,11)

 

 

Aus meinem Leben.

Appenrode, 1981.

 

Aus meiner Limburger Zeit (1916-1930).

Geboren bin ich in Berlin in der Urbanstraße im Hause meiner Großeltern, dort, wo jetzt noch Tante Lizzi wohnt. Meine Eltern waren zwar schon in Limburg an der Lahn ansessig, aber es war 1916 – der Erste Weltkrieg war voll im Gang – und mein Vater war in Belgien als Hauptmann bei einer Eisenbahnkompanie eingesetzt. So bekam meine Mutter ihr erstes Kind bei ihren Eltern in Berlin.

Aber dann verbrachte ich die ersten 14 Jahre in Limburg. Wir bewohnten als Dienstwohnung ein großes Haus in der Diezerstraße. Mein Vater war Direktor der Eisenbahnwerkstätte, deren Gelände wir vom Fenster aus sehen konnten. Also ein Beamter war Vater mit ganz geregelten Dienststunden. Er kam mittags nach Hause zum Essen mit anschließendem Mittagsschläfchen. So war auch unser aller Leben von Anfang an geregelt, was wir aber damals noch als einzig normal ansahen. Wir waren wohlbehütet zu Hause, hatten ein großes Kinderzimmer und einen großen Garten zum Austoben und fühlten uns völlig frei, obwohl wir immer zu Gehorsam angehalten wurden und dies wie selbstverständlich nahmen. Wir machten viele Spaziergänge, immer mit den Eltern, zum Schafsberg etwa oder sonntags zum Mühlchen. An das Mühlchen erinnere ich mich noch; der Weg ging durch blühende Wiesen, wir sammelten Walderdbeeren und bereiteten uns daraus in der Mühlchen-Gaststätte Bowle. Vater war durch und durch Eisenbahner, Autofahren gab es nicht für ihn. An vielen Sonntagen fuhren wir in einem Abteil vierter Klasse ein paar Stationen weit, um von dort aus zu wandern. Das beliebteste Ziel war die Schaumburg. Dort war ich jetzt nach über 50 Jahren mit meinen ehemaligen Schulfreundinnen: Leni und Liesel. Aber es hat mich nicht sehr angerührt, eigentlich alles nicht in Limburg, was ich nach so langer Zeit wiedersah; meine Erinnerung war liebevoller und gewiss zuverlässiger als das, was mir die veränderte Wirklichkeit zeigte.

Ein außergewöhnliches Erlebnis der ersten Jahre war die französische Besatzung Weihnachten 1919. Dorle war noch kein Jahr, Onkel Ernst, der Bruder unseres Vaters, war wie immer zu Weihnachten da – der Krieg war vorbei. In der Nacht vom dritten zum vierten Feiertag marschierten die Franzosen von Diez kommend in langen Kolonnen an unserem Hause vorbei; ohne Musik, ohne Kommandos, schweigend, man hörte nur den gleichmäßigen Marschschritt auf dem Pflaster. Die Eltern wussten, dass dies Besatzung bedeutete, denn das ganze Rheinland und das Lahntal bis Diez waren schon längst besetzt. Am anderen Morgen kam in aller Frühe ein kleines Kommando mit einer Liste und holte die ausgewählten Geiseln aus den Häusern. Sie kamen zu uns, hatten aber einen falschen Namen, den von Vaters Vorgänger, auf der Liste, so konnte Mutter sie mit gutem Gewissen wegschicken. Vater ging dann sofort nach Gießen und wurde dort bei der Bahn eingesetzt. Doch wieder kam ein französischer Offizier mit Begleitung, besichtigte das Haus und beschlagnahmte es, es war in vier Stunden zu räumen; nur Sachen zum täglichen Gebrauch durften mitgenommen werden. Alles wurde registriert bis auf den letzten Löffel. Aber Mutter versteckte geschickt manches in den Ecken des großen Hauses. Mutter bekam für uns alle drei Unterkunft im Hotel “Zur alten Post”. Gleich nach der Beschlagnahme stand eine Wache von Marokkanern vor unserer Haustür, die alles untersuchen sollten, was wir mit hinausnahmen. Aber Mutter ging nie ohne Dorle im Kinderwagen, die ganz obenauf lag auf silbernen Bestecks und Wertsachen etwa, und die Marokkaner fühlten mit uns und waren sehr freundlich, waren sie doch auch geknechtet. Das größte Problem war Onkel Ernst, der furchtbare Angst hatte, weil er Berliner war und vielleicht eine Internierung fürchtete. Damals hatte nicht jeder einen Personalausweis wie heute. Als ich erwachsen wurde, ließ ich mir einen Pass auf zehn Jahre ausstellen, mit dem ich die ganze Welt hätte bereisen können. Der Onkel hatte wohl keinen bei sich, denn innerhalb Deutschlands brauchte man das sonst nicht. Ich weiß noch, wie Onkel Ernst von einem Zimmer zum anderen verschwand und sich versteckte, als die Franzosen alles besichtigten, und am anderen Tag war er fort, er war irgendwie heimlich nach Berlin zurückgekehrt. Weil mein Geburtstag in die Hotelzeit fiel, durfte ich dorthin meine kleinen Freundinnen einladen. Ich fand das alles kolossal interessant.

In der Zeit reisten wir auch zu den Großeltern nach Berlin. Da wurden wir von Eisenbahnern nachts durch den langen Eisenbahntunnel geführt; Eschhofen am anderen Ende war nicht mehr besetzt. Die Eisenbahner hatten uns das Gepäck in den Zug gebracht, doch im Zug war Zollkontrolle. So setzte Mutter und vor ihre Schmuggelpäckchen mit Schmuck und Wertsachen, und wir durften uns nicht rühren und nichts sagen. Ja, ja - früh übt sich!

Vater kam bald nach Limburg zurück, wo er für die Franzosen in der Werkstatt arbeiten musste, denn die dort gebauten Lokomotiven waren gut als Reparationskosten. Wir konnten wieder in unser Haus. Der französische Offizier mit Madame und  zwei erwachsenen Töchtern zog nach nebenan in den zweiten Teil des Doppelhauses, sie waren noch lange unsere Nachbarn; sie waren recht freundlich zu uns und lagen immer auf Kissen gestützt in den Fenstern, was wir heute von den Dorfbewohnern auch kennen. Nur unsere Mutter war entsetzt, weil sie soviel Schmutz in unserer Wohnung vorfand. Die Badewanne musste mit einem Spachtel gereinigt werden; ein Töpfchen mit Essen von unserem letzten Tag stand nach der Rückkehr noch unabgewaschen da. Aber sonst gewöhnten wir uns an die Besatzer. Für uns Kinder wurden die Marokkaner besondere Freunde. Das Gymnasium war Pferdestall und Unterkunft der Schwarzen; und das war gleich bei uns um die Ecke. Unweit davon war die Schule, die ich nun bald besuchte. Ich erinnere mich noch, dass wir bei dem Separatistenaufstand von der Schule nach Hause geschickt wurden. Auf dem Schulweg wie in allen Straßen standen in kurzen Abständen Marokkaner mit Gewehr bei Fuß Wache. So lief ich von einem zum anderen und fühlte mich ganz geborgen, wenn ich solche “lieben schwarzen Soldaten” umklammern konnte. Das letzte Stück nahm mich einer bei der Hand und brachte mich bis nach Hause. Und immer empfand ich etwas Warmes und Gutes, wenn ich Schwarze sah. Sie haben damals sehr gelitten, weil sie das Klima so schlecht vertrugen, immer froren und nur zu niedrigen Diensten verwendet wurden. Wir kannten sie als große Kinderfreunde.  Und wir waren eben Kinder damals, die alles interessant fanden. Erst heute bei der erneuten Besatzung sehen wir auch das Schwere von damals. Limburg wurde wieder geräumt, auch Diez, das ganze Lahntal bis zum Rhein. Ich erinner mich dann noch einer Fahrt zum Rhein im Jahre 1930, die wir mit dem Limburger Gesangverein machten. Der Vater meiner Freundin Liesel, der Kantor Steuernagel, war Leiter dieses Gesangvereins und nahm uns mit. Am “Deutschen Eck” in Koblenz, da wo die Mosel in den Rhein fließt, steht hoch oben ein Denkmal Kaiser Wilhelms des Ersten. Dahinter lag die Festung Ehrenbreitenstein, die nun nach dem Ersten Weltkrieg geschleift worden war. Das “Deutsche Eck” wurde als Bastion gegen die Franzosen geehrt. Nun saßen dort auf den Stufen französische Soldaten in Uniform, woran wir schweigend vorbeigingen; die Erwachsenen gewiss mit innerem Zorn.

Danach kam eine herrliche Schifffahrt auf der schönsten Rheinstrecke von Koblenz nach Rüdesheim - vorbei an den alten Ritterburgen “Katz” und “Maus”, “Ehrenfels” und “Schwalbenstein”. Bei Bingen ist im Rhein ein alter Zollturm (Mauth), der Mäuseturm, was wir Kinder uns immer wimmelnd von Mäusen vorstellten, es gab auch eine entsprechende Sage. Als wir dann am Loreleifelsen vorbeifuhren, wurde wie auf allen Schiffen, Heines Lied “Ich weiß nicht, was soll es bedeuten” gesungen, was jeder auswendig konnte. Noch lange schauten wir Kinder zu dem Felsen, ob wir nichts von der Lorelei mit ihrem goldenen Haar zu Gesicht bekämen. Und bei den Stromschnellen am Binger Loch klopfte unser Herz um den zerschellten Schiffer. Von Rüdesheim aus ging ein Fußmarsch zum Niederwalddenkmal hoch auf dem Berg. Eine riesige Germania in Stein erinnert an den Sieg über die Franzosen 1871. Es gab damals auch in Kindern so etwas wie Nationalstolz, auch auf Siege in der Schlacht. Aber das war vor dem Zweiten Weltkrieg. Danach kann jeder nur noch für die Erhaltung des Friedens um jeden Preis sein; keiner will schuldig werden an einem neuen Krieg, wo es nur noch Vernichtete und Überlebende gäbe.

Das war die Rheinfahrt, die wir in anderer Besetzung wohl viele Male machten. Das Wichtigste für mich war in Limburg natürlich die Schulzeit. Die ersten 8 ½ Jahre drückte ich dort die Schulbank. Wir hatten wirklich noch Schulbänke mit vier Klappsitzen, unter dem Tisch das Fach für den Schulranzen. Das Erste, was wir lernten, war, den Sitz herunterzuklappen, ehe man sich hinsetzte. Die Tintenfässer waren vorerst leer, weil wir lange auf Schiefertafeln schrieben mit schön gespitzten Griffeln. An der Tafel hingen zwei Lappen, ein nasser und ein trockener. Schon zu Hause musste der eine nass gemacht werden, und beide baumelten lustig außen am Schulranzen.  Unser Frühstück war in der sogenannten Brottrommel; so etwas benutzen heute noch die Schmetterlingsfänger. Ich kam Ostern 1922 in die Thauschule. Dies war eine private höhere Töchterschule, von Fräulein Thau gegründet, von den evangelischen Eltern finanziert, die ihre Kinder nicht auf die katholische Marienschule schicken wollten, wo Nonnen unterrichteten. Wir hatten mit Ausnahme unseres Mathematiklehrers, der stundenweise vom Gymnasium der Jungens zu uns kam, nur Lehrerinnen.

Ich erinnere mich nur an wenige. In den ersten Jahren hatten wir Fräulein Friedländer, eine sehr beliebte jüdische Lehrerin. In unserer Klasse war auch Else Isaak, die Tochter des jüdischen Rabbiners. - Dann war da die Englischlehrerin, Fräulein Cocker, eine ewige Jungfrau, die so aussah, wie wir uns Engländerinnen vorstellten: Rote Haare, viele Sommersprossen, durchsichtige Haut, riesig groß und dünn. Sie hat uns ein gutes Englisch beigebracht, wie ich später in Berlin erfuhr, wo ich ohne Weiteres mitkam, obwohl die Klasse drei Jahre länger Englisch hatte. Fräulein Cocker nahm noch im Alter ein Kind an, welches es sehr gut bei ihr hatte. - Die Französischlehrerin Fräulein Dr. Krüger war auch unsere Klassenlehrerin in der Tertia. Sie war schon alt, ganz klein, kleiner als wir, und häßlich, sprach aber wunderbar Französisch und gewann durch ihre selbstlose Art; sie lebte wohl ganz für ihre Schülerinnen. Mit ihr führten wir ein französisches Theaterstück auf, wo kein deutsches Wort fiel; da hatten wir aber schon vier Jahre französisch. Natürlich gab es in der großen Stadt Limburg auch eine richtige Volksschule. Bei uns waren nur bürgerliche Kinder, deren Eltern das Schulgeld bezahlen konnten. Wir mussten zuerst vier Jahre die sogenannte Grundschule durchmachen, auch dort auf der Thauschule, dann kamen: Sexta, Quinta, Quarta, Untertertia, Obertertia, Untersekunda, Obersekunda, Unterprima und Oberprima. Aber mitten in der Obertertia kam ich nach Berlin. Unsere Klassen waren nicht groß, höchstens 15 Schülerinnen, so dass zu meinem Geburtstag immer die ganze Klasse eingeladen wurde. Da fällt mir noch die Handarbeitslehrerin ein, Fräulein Petsch. Sie war bestimmt einmal Schneiderin und hatte keinerlei pädagogische Ausbildung. Sie wohnte in unserer Straße, und ich durfte ihr meine angefangenen Strümpfe oder sonstigen Handarbeiten bringen, die wir eigentlich zu Hause fertigstellen sollten. Für mich machte das Fräulein Petsch, weshalb ich auch als Mutter noch einmal richtig stricken lernen musste. - Unser einziger Lehrer spielte eine große Rolle für mich; es war Herr Dr. Anton Köhler, Vater von vier Kindern. Einmal förderte er mich sehr in Mathematik, als er hörte, dass ich nach Berlin käme. Dort war ich dann ein Jahr voraus. Aber vor allen Dingen war er unser Leiter der DJH-Wandergruppe. Er beschwatzte meine ängstlichen Eltern regelrecht, damit ich mit auf die Großfahrten konnte. In jeder Woche kamen wir nachmittags zusammen, etwa zehn Mädchen, darunter das liebe aber geistig und körperlich behinderte Kind von Dr. Köhler. Ich weiß nur noch, dass wir viele Wanderlieder auswendig lernten, die ich zum Teil heute noch kann. In den Pfingst- und Sommerferien waren die Wanderfahrten, woran auch größere Mädchen, die nachmittags nicht kamen, teilnahmen. Wir hatten einen Wimpel, worauf “DJH” (Deutsche Jugendherberge) gestickt war, und der mit auf Fahrt ging. Die erste Fahrt machte ich mit elf Jahren in den Odenwald. Wir waren im wunderschönen mittelalterlichen Rothenburg ob der Tauber, in Dinkelsbühl und Lauterbach (“In Lauterbach hab ich mein Strumpf verlorn”) und in Michelstadt, wo das bekannte Fachwerkrathaus steht. Unterwegs wurde abgekocht; ein paar ältere Mädchen halfen Herrn Dr. Köhler dabei. Wir trugen alle zum Wandern Röcke, Mädchen in Hosen war damals noch nicht möglich, dazu wollene Strümpfe und hohe Schuhe. Jeder hatte im Rucksack außer seinen Klamotten etwas vom Proviant für alle. Mit zwölf Jahren dann machte ich eine Großfahrt nach Bayern und Österreich mit. Käthe Fink und ich, wir waren mit Abstand von mindestens vier Jahren die Jüngsten. Es waren auch Zwanzigjährige dabei. Zu Beginn der vierwöchigen Fahrt wurden die Rucksäcke gewogen. Die Älteren mussten Proviant und Kochtöpfe zusätzlich tragen. Wir marschierten ja unsere vierzig Kilometer am Tag. Wenn wir drohten müde zu werden, wurde lauthals gesungen. Ich war schon oft sehr geschafft, hätte das aber nie zugegeben. Doch bei der Rast zum Abkochen durfte ich mich gleich hinlegen, während die Größeren Holz suchen mussten, Spänchen machen, Graben ausheben und Feuer anmachen. In einem großen Topff wurden dann darauf fast immer Suppen gekocht, aus Erbswürsten meistens. Zum Suchen von Walderdbeeren etwa als Nachtisch war ich dann auch wieder frisch. Unsere Fahrt ging mit der Bahn bis Rastatt. Wir übernachteten immer in Jugendherbergen oder im Heu. Von Rastatt ging es zu Fuß weiter nach Singen und ohne Gepäck zum Hohentwiel. Dort lebte dereinst Meister Eckehard, der Mönch von St. Gallen, dessen Schriften bis heute etwas zu sagen haben. Viktor Scheffels Roman “Eckehard” spielt auf dem Hohentwiel. Eckehard verliebte sich dort in die adlige Frau Hadwig, was gegen alle Sitte war.  Auf dem Hoentwiel finden noch heute die Eckehard-Festspiele statt. Am Fuße des Berges badeten wir in einem reißenden Fluss, der aber nicht tief war; ich weiß den Namen nicht mehr; aber, dass er dann bald in den Bodensee fließt. Dieser war unser nächstes Ziel. Wir wanderten nach Konstanz am Bodensee und fuhren dann mit einem Dampfer nach Meersburg. Bei der Burgbesichtigung gedachten wir Anette von Droste-Hülshoffs, die als Dichterin lange dort lebte. Ihr Räue waren noch wie zu ihrer Zeit eingerichtet, von ihrem Fenster aus konnten wir zur Insel Mainau sehen, die mit einem Kloster mitten im Bodensee liegt. Wieder mit Dampfer über den Bodensee ging es nach Lindau, wo uns bei der Einfahrt in den Hafen ein Löwendenkmal begrüßte. Von dort sieht man fast den ganzen Bodensee wie ein Meer. Als wir an den großen Hallen von Friedrichshafen vorbeifuhren, gedachten wir voller Stolz des Grafen Zeppelin. (Damals wusste ich noch nicht, dass er zu unseren Verwandten gehört.) Dort lag der Zeppelin in seinem Heimathafen, von dort stieg er auf, bis er verbrannte. Wir hatten ihn alle schon gesehen, wie er über Limburg wie eine riesige Zigarre fuhr. Wir glaubten noch an eine große Zukunft der Luftschifffahrt. Ich weiß, dass wir einen Schulaufsatz schrieben: Luftschiff oder Flugzeug – was wird sich durchsetzen? Und mancher glaubte an das Luftschiff, denn damals konnten Flugzeuge nur wenige Menschen befördern.

Dann ging es weiter nach Österreich; wir überschritten bei Bregenz die Grenze, wo aber keine Zollbeamten waren. Bald liegt dort Dornbirn mit der Rapplochschlucht. Mit viel Getöse fällt das Wasser stufenförmig herab; auf einem schmalen Pfad kann man immer am Wasser entlang gehen, nicht ohne nass zu werden. Von dort ging es nach Bludenz und wieder durch eine Schlucht nach Bürs und Brand. Dann stiegen wir zur Douglashütte hinauf und weiter ohne Gepäck mit unseren genagelten hohen Schuhen auf den Gipfel der Scesaplana, die 2967 m hoch ist. Wir stiegen über Schneefelder hinweg, an Gletschern vorbei. Es war mein erster Berg überhaupt und darum ein großes Erlebnis. Wir kannten es ja nicht vorher aus Film oder Fernsehen wie Ihr heute; alles war ganz neu und großartig. Oben ist ein Steinhaufen mit einer Wetterfahne und ein unwahrscheinlich weiter Rundblick. Der Abstieg zur Douglashütte dauerte nur eindreiviertel Stunden, während wir zum Aufstieg gut das Doppelte brauchten. Die Douglashütte war ds einzige Haus am Lünersee, einem kalten Hochgebirgssee. Von dort ging es weiter zur Lindauerhütte, einer Sennhütte mit vielen Kuhställen und einem Wohnhäuschen nach Landschau Schruns und Dalaas. Nach einer kurzen Bahnfahrt kamen wir nach Stuben am Arlberg und liefen nach St. Anton. Wieder eine Fahrt brachte uns nach Innsbruck. Da ich später noch einmal im Winter in Innsbruck war, sind meine Erinnerungen wohl aus der letzten Zeit und kommen später. Auch die nächsten Orte wie Mittenwald, Elmau und Partenkirchen mit der Partnachklamm habe ich noch öfter besucht. Aber dann ging es über den Plansee und die Stuibenwasserfälle nach Füssen. Dort war für mich das erste Schloss Ludwigs des Zweiten, des Träumers und Irren, der mit viel Geld mehrere üppige Schlösser erbauen ließ. Bei Füssen ist Neuschwanstein, etwas weiter Hohenschwangau und Linderhof. Diese drei haben wir besichtigt, obwohl ich nach den vielen Gewaltmärschen schon ziemlich am Ende war. Gegen diesen Reichtum, diese Pracht der bayrischen Schlösser sind unsere Rheinschlösser eben nur Burgen. Spiegelsäle, überall Gold, bis in die Gärten hinein den Einfällen des Königs dienend. Ein künstlicher großer Schwan auf einem See sollte den König, wenn er darauf fuhr, in Lohengrin verwandeln. Die Wagneropern mit ihren gewaltigen Orchestern und Chören passen dorthin in den überladenen Barock, wo sie zum Teil entstanden. Immer, wenn ich später den hölzernen Schwan auf Schienen auf die Bühne rollen sah, musste ich an Linderhof mit Ludwigs Schwan denken. Wenn auch viel über die Verschwendungssucht der damaligen Fürsten und Könige geredet wird, noch heute besehen sich Tausende von Menschen diese alten Schlösser, nicht mit Zorn und Abscheu, sondern mit Bewunderung vor der Schöpferkraft, die in jedem kleinen Stück dort sichtbar wird. Es kann dies nicht aus einem geknechteten Untertanengeist geworden sein, es zeugt von viel Liebe zur Arbeit und zur Kunst; der Reichtum des Königs gab ihnen erst die Möglichkeit auszuführen, was sie in sich spürten und zu erleben, wie aus ungezählten kleinen Kunstwerken so ein prächtiges Schloss entstand. Ich glaube, dass jeder stolz war, der daran mitgewirkt hatte. Wenn ich jetzt meine Aufzeichnungen als Kind überlese, bin ich erstaunt, dass als erstes steht, “viele schöne Aussichten sind von den Schlossfenstern”, und dann wird als Besonderes das Schlafzimmer beschrieben mit einem “großen breiten Bett” und “kunstvollen Schnitzereien” darüber, mit einem “goldenen Waschbecken, wo ein Schwan als Wasserhahn dient; man drückt auf einen Knopf und dann läuft das Wasser.” Ja, diese Großfahrt hat mich eigentlich erstmalig ganz frei von zu Hause gemacht. Da ging ich ganz in der Gemeinschaft der Jugendgruppe und im Erleben des Hochgebirges auf. Aber da spürte ich auch, dass einem nichts geschenkt wird. Die Fußmärsche in glühender Sonne mit hohen Schuhen und ziemlich langen Röcken und schwerem Gepäck, die spartanische Ernährung  und das Übernachten in Jugendherbergen oder Heuschobern, wo alles giekte und am Morgen nichts wiederzufinden war, das alles gehörte dazu, damit das Erleben so großartig wurde. Der erklommene Gipfel des Berges war wie ein Erlösung oder Erfüllung, doch nur, weil wir mit letzter Kraft und mancher Todesangst den Aufstieg bewältigt hatten. So kleine Erlebnisse prägen uns; nichts wird uns zu mühsam, nichts dauert uns zu lange, wenn wir ein gutes Ziel haben. So hat es doch auch Gutes sich zu erinnern; ich meine es durchaus nicht im Sinne, die “gute alte Zeit” wiedererstehen zu lassen. Das liegt mir ganz fern. Jede Zeit in meinem Leben habe ich als eine gute angesehen; zu der Zeit, wo ich in ihr lebte, war es für mich immer die beste, die ich eigentlich festhalten wollte. Doch wie töricht, andersartige Zeiten kamen, und wieder waren es die besten, immer überwog bei Weitem das Gute und Schöne, was erst richtig als schön empfunden wurde, wenn auch Tiefschläge dazwischen waren. Und wenn ich jetzt rückschauend über mein Leben berichte, so tue ich es voller Dankbarkeit. Ich war immer ein Sonntagskind; und obwohl ich soviel falsch gemacht habe,  ist alles gut geworden. Drum kann ich Euch nur sagen: Verzweifelt nicht so schnell, die Hilfe ist schon unterwegs; nur Geduld muss man erst erlernen und den Mut haben, Unrecht vor sich selber zuzugeben und umzudenken. Immer wenn ich mich voller Zorn gedemütigt fühlte und nun etwas für mich, für mich ganz alleine wollte, ging alles schief. Immer wenn ich mit dem Kopf durch die Wand wollte, um meins durchzusetzen, wurde ich enttäuscht. Geduld ist nicht nur Warten, sondern auch Überlegen und Glauben; Geduld darf nicht nur passiv sein, aus Geduld und Liebe muss etwas wachsen können, etwas Positives. Ihr merkt, es ist Sonntag heute, da komme ich ins Meditieren, Ihr werdet sagen: Nun spinnt sie wieder! Nun ja!

Zurück nach Limburg. Wir sind als Kinder auch mit den Eltern verreist. Vater war bei der Reichsbahn, da bekamen auch wir Familienangehörige  zweimal im Jahr eine Freifahrt zweiter Klasse. Vater hatte immer Freifahrtschein erster Klasse, was er aber fast ausschließlich für Dienstfahrten ausnutzte. In den Sommerferien, die aber damals nur vier Wochen dauerten, fuhren wir viele Jahre lang nach der Nordseeinsel Borkum. Neben Norderney, was schon damals ein mondänes Bad war, ist Borkum die größte Insel der Ostfriesischen Inseln. Wir fuhren mit der Bahn bis Emden-Außenhafen und bestiegen dort den Dampfer. Es war eine ziemlich lange Fahrt auf dem offenen Meer, stets ohne Seekrankheit. Die Möven kamen vom Hafen an mit und fingen im Flug die hingeworfenen Brocken.  Unser Vater konnte da mit viel Ausdauer und Freude füttern. Der Anlegeplatz in Borkum war an der Landseite, so dass wir mit einem Bimmelbähnchen über erhöhte Gleise zwischen dem Wasser zum bewohnten Teil der Insel fahren mussten. Dies ging nur bei Ebbe, sonst waren die Gleise überspült. Das Wahrzeichen von Borkum ist ein großer Leuchtturm, der mitten im Ort liegt, aber durch seine Höhe dennoch weithin erstrahlt. Erstmalig fuhr ich mit sechs Jahren nach Borkum, allein mit unserem Vater. Dorle war noch zu klein und blieb mit Mutti zu Hause. Wir wohnten und speisten im Eisenbahnerheim, was direkt neben dem Leuchtturm lag. Der kreisende Strahl hat mich noch nachts begleitet. Vater hatte zuvor mühevoll gelernt, meine Zöpfe zu flechten, sonst war wohl alles einfach, da wir im Heim waren, wo damals alleinreisende Väter mit Kindern bestimmt bedauert und bewundert wurden und mit Hilfsangeboten überschwemmt. Selten kümmerten sich Väter um die täglichen Belange ihrer Kinder. Der Vater verdiente Geld, die Mutter hatte für Hauswirtschaft und Kinder zu sorgen. Unser Vater kam mittags nach Hause, so dass wir alle Mahlzeiten gemeinsam einnahmen; alle Sonntage verbrachten wir zusammen, und in den Ferien verreisten wir miteinander. Vater allein aber bestimmte die Ausflugs- und Ferienziele.  Unsere Mutter konnte nicht baden, so dass ihr in Borkum manches abging. Sie wurde ohnmächtig, wenn das kalte Wasser ihr bis über das Knie ging. Vater wollte das nie glauben, so dass Mutter es immer mal wieder probieren musste, leider! Im Gebirge ging es aber Mutter auch nicht besser, weil sie leicht schwindelig wurde. An den steileren Hängen musste sie sich drum am oberen Hang entlangtasten und konnte nie nach unten sehen.

Es war bestimmt eine Strapaze, aber nie hätte Mutter nicht mitgemacht oder die ihr günstigeren Wege vorgeschlagen. Ich erinnere mich nicht, dass unsere Mutter einmal an sich gedacht hätte; die Familie ging ihr über alles.

Aber Borkum! Borkum hatte schon damals einen breiten und langen Strand, von Buhnen unterbrochen, die die Wellen brachen. Schon damals war eine steinerne Schutzmauer gebaut zum Auffangen der Sturmfluten, vor allem im Winter. Dahinter waren noch Deiche aus Erdwällen. Es gab am Strand keine Strandkörbe, sondern Zelte. Wir mieteten immer unser  Zelt bei Bekaan, der gleichzeitig Zelt- und Zimmervermieter war. Später wohnten wir auch bei Bekaans. Die Zelte waren quadratisch aus Zeltstoff mit einem spitzen Zeltdach, wo das Wasser ablaufen konnte.  Innen war eine Holzbank, davor ein Klapptisch. Da das Zelt an drei Seiten zu war, konnte man sich darin auch bei Regen aufhalten. Wir hatten alle vier zwar beengt aber gemütlich Platz, so dass Vater bei Regen dort vorlesen konnte. Karl May mit “Winnetou” und “Der Schatz im Silbersee” verbinden sich drum bei mir bis heute mit Borkum. Wir waren gar nicht böse, wenn es mal regnete. Damals war noch nicht solche Fülle am Strand. Jeder baute sich eine große Sandburg  um das Zelt, mit Dreiecksfähnchen besteckt und durch Muschelornamente gekennzeichnet. Beim Burgenwettbewerb entstanden Nixen, Löwen und Ritterburgen, was bei uns aber Vater besorgte, denn ihm konnten wir es doch nicht recht machen. Am Strand spielten wir dann mit kurzen oder langen Strandhosen Ball oder Tamburin. Baden durfte man nur am gekennzeichneten Badestrand zu den Flutzeiten. Dort waren Umkleidekabinen, keiner zog sich am Strand aus. In Borkum waren oft sehr hohe Wellen, richtig schwimmen konnte man da nur selten. Wir hüpften gegen die Wellen, und Vater hat da manche Brille eingebüßt; er hatte schon immer alte Kneifer mit. (Kneifer sind Brillen ohne Ohrbügel, die nur auf der Nase festgekniffen werden.) Ballspiele im Wasser endeten meistens damit, dass der Wasserball abgetrieben wurde, denn der Sog ins Meer war stark. Bei Ebbe war der Strand ganz breit, wir konnten gut spielen und Quallen und Muscheln beobachten. Die Quallen sind viel größer und farbenprächtiger als an der Ostsee und brennen ganz schön auf der Haut. Manchmal gingen wir weitab vom belebten Strand zum sogenannten Muschelfeld. Dahin kam die Flut nur selten bei Sturmflut etwa, so gab es da viele seltene Muscheln, auch solche, die rauschten wie das Meer, wenn man sie an das Ohr hielt. Ich weiß, dass ich da immer etwas Angst hatte, die anderen zu verlieren und alleine  zurückzubleiben. Dort konnte man auch weit in die Dünen gehen, die überall mit Strandhafer befestigt waren. Mit viel Glück fanden wir auch die seltene Stranddistel. Vater hatte immer ein Fernglas mit, womit wir die großen Schiffe auf der Nordsee beobachten konnten. Auch landeinwärts waren auf den Innendeichen schöne Spazierwege zwischen bunten Wiesen mit Kühen. Da gingen wir Kinder gern nach Blumfontain, wo es eine Kinderspielwiese gab. Mir gefiel am besten ein langes Schwebedrahtseil, worauf ein Rad rollte, was unten einen Griff hatte. Wenn man sich da festhielt, konnte man mit oder ohne Schwungholen heruntersausen. Am Strand gab es auch große Ponys, auf denen man dann zwischen zwei Buhnen hin und her reiten konnte mit Sattel und Festhaltebogen. Wir beneideten die richtigen Reiter, die zuweilen am Strand vorbeikamen und wieter zum Muschelfeld ritten. Dort waren keine Buhnen mehr. Auch gab es Jugendgruppen, wo Kinder Tage zusammen waren wie eine Band und ohne Eltern ihre Burgen als Räuberburgen bauten. Wenn die Kinder singend mit Fahen vorbeizogen, guckten wir sehnsüchtig ob der Freiheit; wir waren ja ohne Eltern nicht denkbar. Am späten Nachmittag war Kurkonzert oben au f dem Wall vor der Wandelhalle, die bei Regen viel benutzt wurde. Dort gab es Kaffee, Kuchen und Eis, für uns wohl jeden Tag, dann wandelte man in einer großen Schleife und begegnete immer wieder denselben Menschen.

Doch nun kommt die Schande. Borkum war die einzige Insel, zu der schon damals Juden keinen Zutritt hatten. Am Ende jedes Konzerts erklang das Borkumlied mit dem Refrain: Und wer da naht mit platten Füßen, mit Nasen krumm und Haaren kraus, der darf nicht deinen Strand genießen, der muss hinaus, der muss hinaus. - Zu meiner Schande muss ich gestehen, dass ich das ohne nachzudenken mit Begeisterung mitsang. Von irgendeiner Judenverfolgung war damals noch keine Rede. Sie wurden uns einfach als so laut und aufdringlich und sich breitmachend dargestellt. Ich brachte das gar nicht in Zusammenhang mit den Juden, die ich kannte, und mit denen ich gut befreundet war. Else Isaak in unserer Klasse, die ich schon erwähnte, war die Tochter des Rabbiners. Wir waren oft zusammen; ich konnte sogar einmal bei ihr das Laubhüttenfest mitfeiern. In Erinnerung ist mir nur noch die Matze (die ungesäuerten Brotfladen) und die Hütte, die nur zu diesem Fest aus Laubzweigen gebaut wurde. Nelli Goldschmidt, Gretel Wolf und andere gehörten unserer Wandergruppe an. Alle waren fröhliche, hilfsbereite Mädchen. Nun, später in Berlin sollte ich noch enger mit Juden zusammen kommen. - -

Ein besonders unvergessliches Ereignis in Borkum war eine Sturmflut. Die Wellen schlugen bis über die hohe Steinmauer, das Meer war ein Aufruhr. Der Wind war so stark, dass alle Menschen in den Häusern bleiben sollten. Wir sahen, wie sich starke Männer an den Hauswänden festhielten, um nicht weggeblasen zu werden. Als der Wind ein bisschen nachliess, gingen wir mit Vater ans Meer und sahen oben von der zweiten Mauer aus, dass keinerlei Strand mehr zu sehen war. Das Wasser kam in nicht endenwollenden Schüben mit großen Wellen auf die Insel zu. Aber bei Anbruch der Ebbe musste auch das Meer zurück. Eines Nachts erlebten wir Meeresleuchten. Schon dass wir in der Nacht noch mit ans Meer durften, war toll. Und dann sah es aus, als ob das Meer von unten herauf leuchtete, wenn die kleinen phosphozierenden Algen leuchteten. Das war märchenhaft. Ich war so oft an der See, aber nie wieder konnte ich das erleben. Leuchten tut ja das Meer auch bei jedem Sonnenuntergang, aber nicht so aus der Tiefe heraus. Zum Sonnenuntergang durften wir immer mitgehen. Soviele habe ich inzwischen gesehen, keiner glich dem anderen. Das Spiel der Farben am Himmel und auf dem bewegten Wasser ist immer wieder einzigartig neu, überraschend und überwältigend. Es ist aufregend in seiner Schönheit und raschen Veränderlichkeit, es ist aber letzthin im tiefsten beruhigend. Alle Menschen in aller Welt sehen die Sonne irgendwann untergehen. Ob nicht soviel Schönheit weit außer uns Hoffnung bringt, Unvergängliches zeigt, was bei allem Schaurigen auch zur Erde gehört, und dann: Birgt nicht ein jeder Untergang schon den kommenden Aufgang in sich? Manfred Hausmann sagt in einem Gedicht: Was nicht vergehen will, kann nicht beginnend. - - Jedes Jahr ging es nach Borkum, solange wir noch in Limburg waren. Natürlich fuhren wir auch oft nach Berlin zu den Großeltern. Am 5. Januar war Omchens Geburtstag, das war immer Ende der Weihnachtsferien, sodass wir dabei sein konnten. Also, die Großeltern wohnten mit Onkel Kurt und Tante Lizzi in der Urbanstraße. Früher hatten sie ja noch ein Sommerhaus in Pankow, aber nach dem Krieg nicht mehr. Der Großvater hatte eine Eisenwarenhandlung am Spittelmarkt, von wo aus der aber hauptsächlich en gros verkaufte. Gute Beziehungen hatte er da zu den Kolonien in Deutsch-Südwestafrika. Großvater Bluth war Millionär, als er die Hugenottin Klara Morche heiratete. Er kam noch in der Freierszeit mit einer Kutsche vorgefahren. Nun war er alt, im Krieg war alles Geld verloren. Er war sehr gallenleidend, drum geschont und mit Extras bedacht, aber eben auch gallig zuweilen. Zu uns Enkeln war er immer nur freundlich. Ich sehe Großvater in der Erinnerung nie ohne Zigarre im Mund und mit einer ganz kleinen Teppichkehrmaschine die Asche wegkehrend. Aber Großvater starb bald, so dass die Großmutter viel heller in der Erinnerung lebt. Ihr Geburtstag war ein Fest. Im Berliner Zimmer war eine lange Tafel gedeckt mit kaltem Fleisch, Salaten und Wein und der nie fehlenden Wasserkaraffe. Die Gäste kamen in unbestimmter Zahl, ungeladen. Da kamen die Herren mit großen Chrysanthemen, was es bei uns zu Hause nie gab, mit Verbeugungen, mit sichtbar liebevoller Verehrung. Alle waren für uns irgendwie Tante und Onkel (nicht immer verwandt). Da kamen die alten Freundinnen: Röschen und Luzie, Omchens jüdische Freundinnen, um derentwegen sie das Dritte Reich nie verstehen konnte. Da kamen zuweilen auch Muttis Schulfreundinnen: Tante Else und Grete aus der Schokoladenfabrik “Greiser und Dobritz”! Da kamen Tante Trude und Grete Einwald, die Ihr noch von der Rosenthalerstraße kennt. Da kam Onkel Gustav Wegener, Tante Lizzis große Liebe bis zu seinem Tode und seine Mutter, Tante Lieschen. Dann Onkel Max und Tante Klärchen, von denen noch zu reden sein wird. Natürlich alle Peringa und Kaufmanns: Ach, die Verwandtschaft war groß und prächtig. Wir vier Kinder mussten immer ein Geburtstagsgedicht aufsagen, später Klavier vorspielen, das war selbstverständlich. Mir war es so eindrucksvoll wie unser bescheidenes Omchen im Mittelpunkt stand, von allen hoch verehrt wurde, und wie sie alle ohne Schwierigkeiten unter einen Hut kriegte. Zum Kaffee stand eine große silberne Kaffeemaschine auf dem Tisch vor Omchen, woraus sie selbst die Kaffeetassen mit dem Kränchen füllte. Das Porzellan, das Silber, die geschliffenen Gläser, alles war so schön und festlich und doch solide. Wenn ich dann abends im Bett lag, in Omchens Schlafzimmer, dann musste ich noch lange an alles denken. Es war ja nie ganz dunkel im Zimmer. An der hohen Stuckdecke fuhren die Elektrischen entlang, wenn sie erleuchtet draußen vorbei kamen. Wenn Omchen dann ins Bett kam, durfte ich sie jederzeit wecken, denn sie schnarchte wie ein Bär. Bei Omchen war so vieles zu sehen. Auf den riesigen Kachelöfen, die schräg in den Zimmerecken standen, war ein Sims, worauf Meißner- und Berliner Porzellanfiguren standen, auch Uhren aus Porzellan mit farbigen Tanzgruppen; dann erinnere ich mich einer Kupferweltkugel, die rund um den Äquator zu öffnen war, und woraus viele immer kleiner werdende Kupferschalen kamen, die als Aschenbecher benutzt wurden. An den Wänden hingen die Ahnen. Es waren noch keine Fotos, sondern gemalte Ölbilder oder zuweilen Schattenrisse. Dazwischen hing ein Ölbild mit einer alten Burg, was furchterregend dunkel aber auch passend zu der vornehmen Ahnengalerie war. Leider wurde es beim Bombenangriff völlig durchlöchert. Und in den alten Möbeln hatten sich die Ahnen wohl auch besser gemacht als wir. Doch zum Geburtstag schienen alle vereint dorthin zu gehören. Viele der Gäste waren damals schon sehr verarmt, aber es haftete noch so etwas Sicheres, Glanzvolles an ihnen. Als Kind fühlte ich mich dazwischen recht wohl und geborgen. Überhaupt war unser Omchen für uns immer Familienmittelpunkt. Von Jung und Alt wurde sie verehrt, sie versuchte jeden zu verstehen und tat das wohl auch durch ihr liebevolles Einfühlen. Omchen hat viel sehr Schweres durchgemacht, hat aber nie geklagt. Sie blieb für uns alle bis an ihr Ende ein Vorbild in aller Toleranz und Bescheidenheit. Sie starb, nachdem unser erstes Kind, ihre erste Urenkelin Heide, ein Jahr alt war in dem Bewusstsein, dass sie gehen könnte und müsste, da die neue Generation begonnen hatte. Vielleicht muss ich besonders viel an sie denken, weil Omchen wie ich drei Mädchen und zwei Buben hatte. Sollte ich da nicht vieles von ihr lernen können?

Ein Ereignis in Limburg ragt noch heraus. Das war der Schlossbrand. Vom Fenster aus konnten wir eines Nachts, nachdem alle Feuerwehren Alarm geläutet hatten, ein tolles Schauspiel erleben. Dom und Schloss liegen hoch oben auf einem Felsen an der Lahn, von überall aus in Limburg sichtbar. Über diesem Felsen loderte mitten in der Nacht eine riesige helle Flamme empor. Zunächst dachten wir, dass auch der Dom brennt, aber es war zum Glück nur das Schloss, die Domsilhouette wurde im Flammenschein sichtbar. Es war schaurig und schön zugleich. Das Schloss brannte fast vollkommen ab. Von demselben Fenster aus sah ich in der Nacht vor meiner Konfirmation meine erste Mondfinsternis; vielleicht hat es mich an diesem denkwürdigen Tag so besonders beeindruckt. 

In einem Winter war langer, unerwartet starker Frost. Selbst der Rhein war bei Koblenz zugefroren. Mengen von Packeis schichteten sich übereinander durch die starke Strömung darunter. Man glaubte, in Grönland oder am Nordpol zu sein. Die Lahn war öfter streckenweise zugefroren. Da konnte man auf sehr holprigem Eis meilenweit Schlittschuh laufen. Das war zwar nicht ungefährlich, aber um so reizvoller. Dieses Im-Kreis-Laufen mit Figürchen mochte ich nie, so hatten wir es in der Stadt später auf den Tennisplätzen.

In der Lahn lernte ich auch beizeiten schwimmen. Ein Schwimmbad ganz aus Holz mit Umkleidekabinen und Nichtschwimmerbecken schwamm am Ufer der Lahn. Schon früh durfte ich mit den größeren Kindern mit Schwimmgürtel aus Korb mitüben. Das Freischwimmen war eine Sensation, da kamen die Eltern zum Zuschauen. Wir durften oder mussten erstmalig in der Lahn frei schwimmen, eine Viertelstunde mit dem Strom, dann wurden wir in einen Kahn gehievt und zurück gerudert, weil man gegen den Strom nicht ankam. Es war ein herrliches Gefühl, denn von nun an konnten wir beliebig von einem Lahnufer zum anderen schwimmen. Treffpunkt war selbstverständlich immer das gegenüberliegende Ufer, wo die Brücke weit entfernt war. Die Lahn war überhaupt für uns das Reizvollste. Sie hat eine ziemlich starke Strömung und Gefälle und drum öfter ein Wehr. Gerade unterhalb des Domfelsens liegt ein Wehr von wohl zwei Metern Höhe und sehr großer Breite, daneben am Fuße des Felsens stand eine  alte Mühle, daneben ein Stück weiter, noch immer im Blickfeld, war die alte Lahnbrücke, und am Ende war ein Brückenturm, der früher Zollturm war. In der Mitte der Brücke war ein steinerner Heiliger Bonifatius. Hart am Rand des Felsens lag das Schloss und daneben ragte und ragt noch heute der Limburger Dom. Er wurde im romanischen Stil begonnen, aber später gotisch weitergebaut. Ein jeder kennt ihn von Abbildungen. Damals waren die Quadersteine grau, heute leuchtet es grünlich mit gelben Kanten, wohl gegen die Witterung speziell restauriert. Ich war dort im Dom zuweilen mit Onkel Ernst zur Christmette in der Heiligen Nacht. Wir schlichen uns auf die Emporen und lauschten kniend den Chören. Diese kamen mir wie Engelschöre vor in ihrer Stimmvielfalt, im Jubel in diesen hohen Hallen, in all dem Glanz, wo die Gläubigen wie die knieenden Hirten wirkten. Das war eine innere Freude, dass mir das Herz bis zum Hals herauf hüpfte; alle schienen in Ehrfurcht zu verharren. Manchmal ging ich mit den Eltern zu den Marienandachten im Mai. Da war der Dom voller Blumen. Sonst war alles fremdartig und prächtig: Der Einzug der königlich geschmückten Priester, in deren Mitte die Monstranz getragen wurde, die von Gold und Edelsteinen glänzte und für die Katholiken Christi Leib barg. Der nach allen Seiten verströmende Weihrauch, das Klingeln der zarten Glöckchen: Für mich ein gewaltiges Schauspiel, was die grenzenlose Verehrung der Katholiken zeigte. Aber Jesus konnte ich dabei nicht spüren, der arm als unser Menschenbruder am Kreuz für uns starb. Als kleinere Kinder durften wir auch mit Blumenkörbchen an der  Prozession teilnehmen. Die Straßen Limburgs waren dann nicht endenwollende Blumenteppiche. An allen Stellen, wo  Besinnungskreuze standen, waren große prächtige Alätre aufgebaut. Dort hielt der Prozessionszug an, die Gesänge verstummten eine Weile, und ein Priester betete für alle, wobei alle auf dem Blumenteppich niederknieten und liturgische Worte mitsprachen. Der Bischof ging unter einem Baldachin, alle Priester im Festornat, dazwischen auch Fahnen, blumenstreuende Kinder, viele Nonnen aus dem Limburger Kloster. Es war ein prächtiges festliches Bild, aber alle Gläubigen waren versunken, sangen und beteten in voller Andacht. Gewiss ist das eine unschätzbare Lebenshilfe, sich in solcher Gemeinschaft eingeschlossen zu fühlen. Außer der Innenstadt berührte die Prozession die 14 Stationen des Kalvarienberges, den Kreuzweg. Aber diese Stationen war das ganze Jahr, besonders in der Passionszeit, Ziel der Anbetung und Besinnung.

Wie alles war das alles in unserer evangelischen Kirche, wo es dort in der Diaspora besonders auf Schlichtheit und innere Sammlung ausgerichtet war. Dort ging ich zum Kindergottesdienst, dort wurde ich 1930 konfirmiert. Wir hatten einen ganz fortschrittlichen Pfarrer, Herrn Pfarrer Schrenk. Wir brauchten kaum etwas auswendig zu lernen, aber wir wurden zu Ehrfurcht gebracht vor den Wundern der Natur, wir wurden dankbar für alles, was Jesus für uns getan hatte. Wir waren als Konfirmanden fest und ernsthaft überzeugt, nie ohne Jesus leben zu können oder zu wollen und immer in der Kirche zu bleiben. Das erste Abendmahl, was bei uns am Tage der Konfirmation war, war für mich schon damals das entscheidende Konfirmationserlebnis. Unser Treuegelöbnis zu Gott und Kirche war uns bitter ernst. Da wir sonst nicht oft mit den Eltern zur Kirche gingen, war auch das überwältigend, dass alle Verwandten mit in der Kirche waren und alle mit zum Abendmahl gingen. Ich sehe noch heute den langen Zug der Gesellschaft von unserem Haus zur Kirche, alle Männer mit Zylinder, ich wie alle Konfirmandinnen ganz in schwarz. Nun, nach 50 Jahren, wo andere “Goldene Konfirmationi” feiern, war ich wieder in Limburg in unserer Kirche. Aber wie hat sie sich verändert! Dem Zweck dienlich ist ein Gemeindezentrum daraus geworden. Die unterste Etage birgt Bastelräume und Zimmer für den Religionsunterricht, die zwiete Etage mit einem umlaufenden Balkon hat viele kleinere Räume, teils mit Sesseln, Theken, Tischtennis, eben Täume zur freien Benutzung nach dem Gottesdienst oder sonst in der Freizeit. Die oberste Etage ist der Kirchraum, von außen über eine Außentreppe zu erreichen. So blieb die Kirchkuppel mit den alten Glasfenstern, den gewölbten Decken und den Säulein erhalten. Man sitzt rund um den Altar, zwischen den Stühlen stehen die oberen Reste der alten Säulen. Für mich war es ein trauriger Verlust, obwohl ich die Nützlichkeit einsehe. Wurde doch auch schon meine Taufkirche, die älteste Kirche Berlins, die Nikolaikirche, völlig zerbombt und später abgerissen. (1987 wurde sie neu aufgebaut an derselben Stelle.)

Nun muss ich noch meiner Limburger Schulfreundinnen gedenken. Es ist mir wichtig, weil sie mich durch das Leben begleiteten in Gedanken, Briefen, Paketen, und weil Ihr sie alle mit Namen kennt. Seitdem ich meine Rentnerreisen nach dem Westen mache, sehe ich diesezuweilen und bin immer wieder erstaunt, dass die 40 Jahre dazwischen, wo wir alle sehr unterschiedliche Wege gingen, nichts Trennendes gebracht haben. Wir sind uns herzlich zugetan, verstehen einander ohne Mühe und leben durchaus nicht nur in der Vergangenheit, wenn wir zusammen sind. Leni, Liesel, Friedel und Toni waren und sind die Limburger Freundinnen. Leni wohnte auch in der Diezerstraße; wir gingen gemeinsam zu Fräulein Wendel in die Klavierstunde. Wir fuhren gemeinsam nach Michelbach, wo Toni und Erika als angenommene Kinder eines Pfarrers lebten. Mit Liesel schwärmte ich für dieselbe junge Lehrerin, Fräulein Neubauer, die noch lebt, mit der ich korrespondiere, die ich nun besuchte, und die mich immer wieder einlädt. Sie lebt in bewundernswerter Frische alleine und pflegt ihre geistigen Interessen. Fräulein Neubauer sang damals mit uns beiden zu unserer Begeisterung nachmittags Lönslieder. Wir schlichend um ihr Haus, bis sie einmal am Fenster erschien, o Wonne! Bei Liesel durfte ich manchmal übernachten, was sonst nie vorkam.  Mutter Steuernagel, eine Klavierlehrerin, brachte früh ein Riesentablett mit lauter halben belegten Schribben, was wir dann im Bett gegenübersitzend verzehrten. Wir bedrängten Frau Steuernagel mit der Frage, wer wohl die Schönste von  uns sei. Aber sie hat das immer geschickt unentschieden gelöst.

Friedel war einer der Zwillinge von Kehrs, die noch sechs weitere Mädchen hatten. Sie wohnten am Ende von Limburg im Josphattal. Alle sahen sich  zum Verwechseln ähnlich. Toni war aus Michelbach und blieb deshalb nach der Schule oft bei uns. Alle haben inzwischen viel durchgemacht und sind im Alter zu sich selber zurückgekehrt. Lenis Mann ist gefallen, nachdem sie kaum ein Jahr verheiratet war. Sie hat ihren Jungen alleine aufgezogen und lebt mit ihrer Schwester und dem Jungen und seiner Frau in Limburg im selbsterbauten Haus. Toni und Friedel sind geschieden. Friedel hat ein ganz neues Leben angefangen, um nachzuholen, was sie glaubt für sich versäumt zu haben. Sie hat Vor- und Zunamen geändert, besucht ihre Kinder, lebt aber sonst sich selber. Toni geht ganz im Roten Kreuz auf; die Mithelfer sind ihre Familie geworden. Liesel lebt noch mit ihrem Heiner; sie haben keine Kinder. Jeder lebt ganz für den anderen. Sie machen viele Reisen, sind kultur- und kunstbefliessen. Liesel und Friedel wohnen in Hamburg, dicht bei Tante Dorle. Bleibt die Freundin Maria Obenauer, Maria war eine Klasse höher, war aber fast meine Nachbarin in der Diezerstraße. Marias Vater war Fabrikant einer Blechdosenfabrik und recht wohlhabend. Sie hatten damals schon ein Auto. Das Haus war prächtig, im großen Flur rundum Panele mit Zinngeschirr. Mutter, Tante und Großmutter waren drei kleine, ganz einfache, dicke, liebe Frauen. Ihr Leben spielte sich trotz des großen Hauses in der Nähstube ab. Dort hatten a uch wir unseren Lieblingsplatz. Ein Podium am Fenster bot gerade Platz genug für einen kleinen Tisch und zwei Stühle, es war eine heimelige Atmosphäre. Im großen Garten suchten wir uns die Kürbisse als Sitzplätze. Maria hatte später ein Paddelboot, womit wir auf der Lahn paddelten, und das Boot oft um das Wehr herumtragen mussten. Maria hatte wie vielleicht viele meines Alters ein Fahrrad. Meine Eltern waren sehr ängstlich. Schon einen Roller hatten wir nicht, weil ein Mädchen durch die einseitige Belastung des Abstoßens angeblich Hüftlux bekam. Ein Holländer war und blieb unser Traum. Tante Ohly, die Frau des Hals-, Nasen- und Ohrenarztes, die sehr befreundet mit den Eltern war, schenkte mir ihr altes Fahrrad: Opel Nr. 65. Das Lenkrad war viel höher als der Sitz, schmal und rundlich gebogen, die Reifen waren dünn und aus Vollgummi. Ich aber war glücklich. Auf Feldwegen durfte ich üben, bis dahin schieben. Aber da es sich ja auf den unebenen sandigen Feldwegen viel schlechter fuhr, lernte ich es bald und fuhr auf der Straße zurück anstatt zu schieben. Die Strafe folgte auf dem Fuß. Vor mir ein Pferdewagen mit einem Pferd und einer Kohlenkarre, das war ein etwas höherer Kastenwagen. Ich wollte stolz überholen. Doche, wer weiß, wie es passierte, ich fand mich im Kohlenwagen wieder, der zum Glück leer war, o schwarze Schmach! Doch bald fuhr ich auch in der Stadt. Als es den Eltern gepetzt wurde, waren sie mehr über die ungewohnte Heimlichkeit als über die Gefährlichkeit erschrockend. Aber ich muss schon sagen, die Eltern haben ihre Angst letztlich immer unterdrückt. Wir durften alleine zur Lahn marschieren zum Schwimmen, sogar bei Gewitter! Ich durfte dann radeln, ich durfte die großen Wandertouren mitmachen, ich durfte zu den Heimabenden, obwohl der leitende Lehrer ein Sozialdemokrat war, was damals einem Kommunisten gleich kam, wovon man noch kaum etwas wusste. -

Ein halbes Jahr nach der Konfirmation ging ich in Limburg noch zur Schule, nun mit grüner Schülermütze mit Schild. Zum Abschied wurde ein extra Klassenausflug zum Heidenhäuschen gemacht mit Fräulein Dr. Krüger. Der endgültige Abschied war dann unsagbar schwer und erregend für alle. Ich ließ meine Kindheit zurück. Rückblickend muss ich sagen, dass es eine unbeschwerte, sonnige Zeit war. Wir waren wohlgeborgen im Elternhaus und in der Familie. Wir wurden bescheiden erzogen und hatten einfach keine großen Wünsche. Außer an Masern war ich nie erkrankt. Und auch das hatte seinen Reiz, weil uns da ein zahmer Kanarienvogel zuflog. An Tieren hatten wir sonst nur zwei Katzen, die uns aber vergiftet wurden. Viele Jahre hatten wir Kaulquappen, wovon die nachfolgenden Frösche dann später Garten und Keller bevölkerten. Im Haus oder Garten zu arbeiten brauchten wir nie (leider!). Im Haus half Mutter ein Mädchen, und im Garten kam alle Tage Onkel Diehl aus Altendiez, der als ungelernter Arbeiter in der Eisenbahnwerkstatt war.

An große Literatur wurden wir zu Hause zwar nicht herangeführt, aber Vater las abends vor: “Der Graf von Monte Christo” und “Die drei Musketiere” und eben Karl May. Mutter saß mit uns mit Handarbeiten dabei. Wir erlebten zuweilen Geselligkeiten bei den Eltern aus der Ferne. Die Damen hielten sich im Damensalon auf, die Herren rauchten im Herrenzimmer dicke Zigarren. - -

Wir sind viel gewandert mit einem Wanderstock in der Hand. Vater konnte sich an jedem Käfer und an jeder Blume freuen, was mir bis heute geblieben ist. Botanisch wusste mein Vater wohl nicht viel; ihm ging es wie mir, dass ihm die Namen unwichtig waren. Aber unser Vater war ziemlich schweigsam, sodass wir glaubten, er wisse sehr viel, wer weiß? Mutti dagegen war gesellig und erzählte gerne. Sie war so liebevoll und liebenswert, wurde aber sehr von Vater unterdrückt, bei dem nur Bildung, akademische Bildung, zählte. Die Seele, die wohl auch heimlich alles für uns durchkämpfte, war Mutti. Besuch von Freundinnen durften wir jederzeit haben. Dass alle so gerne kamen, machte uns unser Haus zu Hause noch wertvoller. Ich denke schon, dass diese Jugend uns dankbar und innerlich frei und großzügig gemacht hat. Ihr werdet lachen über so viele ganz kleine unscheinbare Erlebnisse. Aber ich glaube, man muss es nur groß erleben, es so in sich aufnehmen, dass es zum Bestandteil unseres Lebens wird.

 

Aus meiner Berliner Zeit. (1930-1935)

Wenn ich an die Berliner Zeit denke, so ist diese so angefüllt mit Ereignissen, dass da fünf Jahre gar nicht auszureichen scheinen. Der Umzug nach Berlin bedeutete eine gewaltige Umstellung für uns Kinder. Unsere erste Wohnung in Berlin war im zweiten Stock eines vierstöckigen Hauses am Kurfürstendamm. Im Parterre waren Läden, lange Zeit zu unserer Freude ein italienischer Eisladen. Wir gingen auf fremden Treppenstufen, an fremden Menschen vorbei in unsere Wohnung, wo dann die Etagentür hinter u ns abgeschlossen wurde. Über, neben und unter uns wohnten andere, uns Fremde. Die Wohnung war groß, so dass wir in altgewohnter Weise darin zu toben anfingen. Doch schon am folgenden Tag erschienen die unter uns wohnenden Mieter und beschwerten sich, dass ihre Kronleuchter herunterzukommen drohten. Es war übrigens am Ende des Kurfürstendamms hinter dem Bahnhof Hallensee. Die Straße war wenigstens breit, so dass wir durch die gegenüberliegenden Häuser nicht eingeengt wurden. Am Fenster war nun unsagbar viel zu sehen: Die Elektrische, die zweistöckigen Autobusse, die Leuchtreklamen und Menschen in ungeahnter Menge, Eile und Verschiedenartigkeit. Alles dieses war neu für uns. Zwei Häuser weiter zur Stadt hin war ein großes Kino “Rote Mühle”, wo sich Mühlenflügel mit roten Lampen drehten. Dort konnte ich nun die ersten Tonfilme erleben wie “Die Drei von der Tankstelle” und viele andere Filme mit Lilian Harvey und Willi Fritsch. Der allererste Tonfilm war “Der Heideschulmeister Uwe Karsten”. Unser Vater hatte keine Skrupel, mich auch in nicht jugendfreie Filme mitzunehmen, wenn ich die Zöpfe hochsteckte. Nach hinten hinaus aus unserer Wohnung konnten wir den Lunapark sehen, den damals größten Vergnügungspark Berlins. Weil wir das allabendliche Feuerwerk mit einigem Lärm über uns ergehen lassen mussten u nd auch sonst Lärm genug, so bekamen wir jahraus, jahrein Freikarten. Das haben wir zuerst natürlich ausgenutzt, denn Berg- und Talbahn, Lachkabinett, Achterbahn, Riesenrad – das waren alles neue Dinge für uns. Das Schönste aber war ein dem Lunapark angeschlossenes Wellenbad. Das war damals noch eine Attraktion. Da wir große Wellen von Borkum her kannten, war es für uns die reine Freude. Ein Glück, dass unser Vater auch so schwimmbegeistert war, so gingen wir oft dorthin. Sonntags allerdings sind wir von Anfang an der Großstadt entflohen. Gleich am Ende des Kurfürstendamms begannen die Alleen und Villen von Grunewald, dort konnte man angenehm spazieren gehen bis hin zum Grunewald; dort konnte man angenehm spazieren gehen bis hin zum Grunewaldsee; manchmal nach Hundekehle, einer beliebten Gastwirtschaft im Wald. Nun waren es nicht mehr die wunderbaren Laubwälder des Lahntales, sondern Kiefern und Sand der Mark. Berlins Umgebung ist sehr abwechslungsreich durch die vielen Seen. Damals konnte man noch rund um Berlin alles mühelos erreichen. Grunewaldsee, Schlachtensee, Wannsee, Sakrower See, Potsdam, das lag alles so in unserer Richtung, im Nu mit der S-Bahn zu erreichen. Zum Müggelsee zu fahren bedurfte es schon eines besonderen Anlasses, so sahen wir dort „DO X“, damals eine ganz neue Erfindung, ein Wasserflugzeug mit sechs Propellern. Man glaubte, es sei der Beginn einer neuen Verkehrsserie, aber es blieb wohl das einzige Exemplar. Vom Müggelturm hat man eine herrliche Sicht über den großen vielbuchtigen See. Der Müggelturm ist natürlich viel größer als unser Kaiser-Wilhelm-Turm am Grunewaldsee. Wie schön ist es, dass wir heute noch zum Müggelsee hinkönnen, er gehört zu Ostberlin. Auch nach Potsdam können wir heute noch; dorthin fuhren wir sehr gerne. Sanssouci war noch nicht von Touristen überlaufen wie heute. Man konnte im Park noch mit Muße die alten, alleinstehenden, seltenen Bäume bewundern und die Orangenbäume in der Orangerie, die nicht zu vergleichen sind mit den Apfelsinenbäumchen, die man heute im Blumentopf zieht; in der Orangerie sind die Bäume vier bis sechs Meter hoch im Gewächshaus. Für uns war Friedrich der Große noch ein wirklich großer, der auch kulturell im Lande Preußen viel geleistet hatte. In Potsdam denkt man nicht so an seine Kriege, mehr an seine Feste, an seine Paradegarde, an seine Wasserspiele, seine Windspiele, seine Flötenkonzerte und an seinen Streit mit dem Müller, dessen Mühle trotz des Königs Ärger heute noch steht. In den Sälen von Sanssouci kann ich mir die getanzten Menuette und Quadrillen am besten vorstellen. Nun, wir lernten diese alten Tänze noch in der Schule zu Extravorführungen und wussten, wieviel Grazie und Konzentration dazu gehörten, alle verschnörkelten Formen der Musik voll mitzumachen. Das sind die Töne, die Ihr in den kleinen Noten oder Zeichen als Tonergänzung und Ummalung findet. Doch was uns hier Berlin alles bot, war gar nich im Vordergrund zunächst. Das war die Schule.

Unsere Mutter zog mit Dorle und mir in das Bismarck-Lyzeum in Grunewald zur Anmeldung. Der Direktor Abé, weißhaarig, würdig und sich des Wertes seiner Schule bewusst, prüfte kopfschüttelnd unsere Abgangszeugnisse von Limburg mit dem Resultat, dass sie für ihn gar nicht massgebend waren. Das waren ja Zeugnisse einer Privatschule, noch dazu von einer Frau geleitet, was konnte da schon an Wissen vorhanden sein! So wollte er uns gleich beide eine Klasse  zurückstufen, damit wir dort eventuell mitkämen. Aber  unsere Mutter war unnachgiebig und verlangte, dass wir in die richtige Klasse kamen, wenigstens für eine Probezeit, ein Glück! Pech war, dass die Berliner in der Sexta mit Englisch begonnen hatten, wir aber mit Französisch. So hatte ich drei Jahre weniger Englisch als die anderen, aber dafür drei Jahre mehr Französisch. Für Dorle war es schlimmer, weil ihr die Anfangsgründe fehlten, so brauchte sie unbedingt Nachhilfeunterricht. Ich fand mich rein, mit dem Sprechen schnell, mit dem Schreiben auch bald. Französisch ist ja viel schwerer, so war ich eigentlich doch im Vorteil. In allen anderen Fächern waren wir in Limburg gut bedient worden, in Mathematik war ich ein volles Jahr voraus. Aber das umwälzend Neue lag ganz woanders. Der erste Schultag war ein Wandertag. So holte mich Sulamith Hirsch, die mir gegenüber wohnte, ab. Unterwegs kamen noch andere dazu, alle erschienen mir als Damen, chic angezogen, vielfach mit Hut oder anderer Kopfbedeckung, Dauerwellen, was ich noch garnicht kannte,  und kurzen Haaren sowieso. Ich kam mir schon rein äußerlich wie eine Landpomeranze vor mit zwei langen Zöpfen und kindlicher Kleidung. Aber alle waren so nett und aufgeschlossen und nahmen mich gleich voll in die Klassengemeinschaft auf. Der Klassenlehrer, Herr Lorenz, hatte viel Verständnis für meine Probleme und hat mir sehr geholfen. Gleich in den ersten Tagen wurde ein Klassenaufsatz geschrieben mit dem freien Thema “Gefahren der Großstadt”. Was wusste ich schon davon! Bei längerem Nachdenken kam ich unter anderem auf Folgendes: Die U-Bahn wird streckenweise zur Hochbahn und fährt dann mitten durch mehrstöckige Häuser hindurch. Mir kam es vor, als führe man durch die Wohnungen. Und so schrieb ich dann, was für schrecklich aufregende Sachen man erleben könnte, verderbliche, unmoralische mindestens, wenn man so direkt in diese Räume hineinsehen könnte. Noch schlimmere Gefahren für junge Mädchen kannte ich nicht. Herr Lorenz hat den Aufsatz dennoch gut beurteilt, hat nur stilistische Sachen vorgelesen und mich nicht bloßgestellt. Auch gab er mir öfter Vorträge zu halten, weil ich nicht geübt war im freien Sprechen. Hier wurde in Deutsch und Geschichte oder auch in den Fremdsprachen freiweg diskutiert. Das hatten wir in Limburg nicht getan, nur Gelerntes wiedergegeben. Aber da war eine in der Klasse, die inoch etwas später als ich dazukam, Inge Haukohl, Euch als Tante Inge Reischel bekannt. Inge kam direkt aus Konstantinopel, wo sie mehrere Jahre mit ihren Eltern gelebt hatte. Sie war etwa so schüchtern wie ich, saß neben mir, und wir haben es nun gemeinsam versucht und geschafft. An Intelligenz fehlte es ja beiden nicht, nur sie anzubringen, auch mündlich, das war die Aufgabe. Nun, wir haben uns bald hineingefunden und wurden dadurch feste Freunde bis heute. Inge kam einen weiten Weg von Steglitz gefahren, so dass wir uns so ohne Weiteres außer der Schule nicht sehen konnten. Aber bald war es feste Abmachung, einmal in der Woche gingen wir umschichtig gleich mittags zum anderen mit nach Hause und blieben auch über Nacht bis zum nächsten Morgen, zum gemeinsamen Schulweg. Die Klassenkameraden dieser Schule verkehrten kaum miteinander; sie wohnten vereinzelt in Villen, und Schule schien mir für sie so ein unvermeidliches Beiwerk zu sein. Außer mit Inge war ich nur einige Male mit Sulamith zusammen, deren Eltern beide außer Haus arbeiteten. Sula war fromm jüdisch, schrieb am Sabbat, also Sonnabend, keine Zeile, was aber in der Schule ohne Weiteres akzeptiert wurde.

In der Klasse waren es sowieso weit über die Hälfte Juden (nur nicht so fromm), da Grunewald ihr bevorzugtes Wohngebiet war. Alle unsere Juden waren wunderbar frei in ihrer Art, überdurchschnittlich intelligent, von Hause aus sehr wohlhabend, aber durchaus einfach in ihrem Lebensstil und in ihrer Kleidung. Sulamith hatte schon damals vor, später für immer nach Israel zu gehen. Ich war nur bis 1932 an dieser Schule, wo es also noch kein Naziregime und keine Judenverfolgung gab. Wie ich später erfuhr, konnten sich alle rechtzeitig ins Ausland retten. Manche studierten in England und kamen nach 1945 zurück. Unser Klassenlehrer, Herr Lorenz, war sowieso sehr tolerant. Bei ihm hatten wir Deutsch, Geschichte, Erdkunde und Religion. In Religion waren es Zinzendorf und Schleiermacher, die es ihm besonders angetan hatten. Wilhelm Raabe war für ihn ein Klassiker, der direkt neben Goethe und Schiller zu stehen hatte. Herr Lorenz wurde in der Nazizeit schnell entlassen und zog sich als freier Schriftsteller, insbesondere als religiöser Lyriker nach Schreiberhau im Riesengebirge zurück. Sehr mit unserer Klasse verbunden war außerdem unsere Turnlehrerin, Fräulein Schneider, die aber noch einen Künstlernamen aus Sängerin hatte. Fräulein Schneider kam auf alle Fahrten und Ausflüge mit. Während Herr Lorenz besinnlich und heiter war, war Fräulein Schneider lebhaft und urkomisch. Da gab es viele Tagesausflüge in Berlins Umgebung. Im Winter ging es mit Skiern in den Grundwald. Welche Aufregung für mich! Ich hatte wieder Skier noch konnte ich darauf stehen. So nahm ich meines Vaters Bretter, über zwei Meter lange Hikoryskier, also sehr schwer. Schon in der Straßenbahn wollten sie mich zuerst gar nicht mitnehmen. Aber ich kam schließlich mit meinen Mordsdingern im Grunewald an. Höhere Berge sind dort nicht, mehr Hügelchen; aber viele Bäume überall. Das war nicht so leicht für mich, mit den langen Brettern um die Bäume herumzukommen. Doch da der Anfang gemacht war, übte ich nun oft im Grunewald. Es dauerte noch fast zwei Jahre, ehe ich Eschenskier bekam.

Eine besonders schöne Fahrt machten wir mit Herrn Lorenz und Fräulein Schneider in das Riesengebirge. Das lag für uns mitten in Deutschland, nirgends machten wir mit der Grenze Bekanntschaft. Schon 1936 ging ich dort schwarz über die Grenze auf dem Kamm des Riesengebirges; heute ist es C S S R. Obwohl wir als Großstädter des Laufens nicht so geübt waren, wanderten wir von Baude zu Baude und erstiegen im Nebel, wie sollte es anders sein, die Schneekoppe. Oberhalb der tiefhängenden Wolken war es dann strahlend klar. Im Kleinen war dies das Erlebnis, was man hat, wenn man über den Wolken fliegt.

So war ich schon ganz Berlinern, als ich nach dem Einjährigen zum Goethe-Oberlyzeum nach Schmargendorf wechselte; das Abitur konnte man in Grunewald nur mit Latein von Sexta auf machen. Mit mir gingen Marlies und Anneliese aus meiner Klasse und unser Musiklehrer, Paul Gang. So fühlte ich mich von Anfang an dort wie zu Hause. Es war sowieso wie in einer großen Familie, man legte viel Wert auf Schul- und Klassengemeinschaft. Die Ehemaligen wurden alljährlich zu einem Schulfest eingeladen, wo dann jede Klasse ihren Raum unter ein bestimmtes Motto stellte und völlig umwandelte. Wir zogen immer die Decken ganz tief herunter, dass eine gemütliche Atmosphäre entstand, wo man sich bei Essen und Trinken treffen und beklönen konnte. Auch in der neuen Klasse waren wir nur zwölf bis fünfzehn Mädchen, diesmal fast alles brave Beamtentöchter, die lernen wollten und sollten. Auch aus dieser Schule bin ich bis heute mit Gundel zusammen. Gundel wohnt jetzt in Finkenwerder, am gegenüberliegenden  Ufer der Elbe, von Dorles Wohnung aus gesehen. Gundel heiratete in zweiter Ehe, nachdem ihr erster Mann gefallen war, einen Schiffsreeder und führt nun nach ihres Mannes Tod mit ihrem Sohn Ekke die Werft. Wir haben damals in den drei Jahren fast alles gemeinsam gemacht, zusammen noch mit Ingrid, deren Mutter damals starb, und die als Erste und Einzige dem BDM (Bund deutscher Mädel) angehörte. Sie marschierte durch die Straßen am Kopf ihrer Mädelschar ein Waldhorn blasend. Ingrid hat später nicht nur alle Segelflugscheine gemacht, sondern auch den Führerschein für Motorflugzeuge.

In der Schmargendorfer Schule wurde uns viel geboten. Wir konnten auf einem großen Sportplatz immer trainieren, so wie wir auch immer in unserer Turnhalle üben konnten, wenn größere Mädchen Hilfestellung leisteten. Der Tennisklub “Schwarz-Weiß” brauchte Nachwuchs, so durften wir dort den Platz zu gewissen Stunden benutzen und bekamen unbezahlte Trainerstunden, Besonders gut war es, dass wir gute Spieler wie Gottfried von Cramm und die Brüder Henkel oft beobachten konnten. Zusammen mit dem Gymnasium der Jungen hatten wir ein Landschulheim, das Heidehaus Lehnin am Lehniner See, unweit vom gleichnamigen Kloster. Unsere Klassenlehrerin, Fräulein Studier, war zwar sehr streng in Französisch, hat aber sonst alle Möglichkeiten für uns ausgeschöpft zum Wandern oder zu Landschulheimaufenthalten. Dort wurden dann täglich mindestens drei Stunden Unterricht gehalten; die Fachlehrer kamen umschichtig heraus. Französisch hatten wir immer, nicht zu aller Freude. Der Unterricht fand im Freien statt. Schön war es, wenn der Musiklehrer mitkam und mit uns sang. Nur wenn mehrere Klassen da waren, wurden große Zelte aufgeschlagen, sonst wohnten wir in dem Holzhaus. Früh begann es mit Morgengymnastik, wozu Fräulein Hilde Huth mitkam, eine Verwandte von unserem Vater, zu der wir auch in die Privatgymnastik gingen, was damals etwas ganz Rares war. Nur wenige Schritte vom Haus war der Lehniner See. Wir hatten einen großen Bootssteg mit etlichen Ruderkähnen, einem Sprungbrett und einem schwimmenden Quadrat mit Bänken am Bootssteg angeschlossen. Irmgard Born und ich hatten als Boot einen weißen Kahn, den “Schamp”. Wir waren ja nicht so sehr viele, so dass jeder mit ein oder zwei anderen ein Boot hatte. Eine aus unserer Klasse hatte schon ein Grammophon, was mit ins Boot kam. Ansonsten fanden große Seeschlachten statt, wo zum Schluss alle zum mindesten nass waren, viele im Wasser lagen und die Skulls eingesammelt werden mussten. Abends noch einmal still hinauszurudern war wunderbar oder auf dem Steg zu liegen und in den Sternhimmel zu schauen. Ein Mädel, die Ulli, sang oft, wenn sie abends weit draußen auf dem See war, mein Lieblingslied von Brahms “Ich liege still im hohen tiefen Gras”. Ich wünschte es mir später immer von Helmut Hansmann. Wir machten mit den Booten auch ganze Klassenausflüge, denn dort geht ein See in den anderen über. Ich glaube schon, dass wir uns bei soviel Freiheit einfach verpflichtet fühlten, nun auch unsererseits anständig zu sein und zu lernen. Mit Fräulein Studier machten wir auch schöne Wanderungen in die Mark: Zum großen Wuckensee, nach Bad Freienwalde und Nieder-Finow zum Schiffshebewerk, zum Baasee, der ganz besonders romantisch war, aber sehr tief und nicht zum Schwimmen freigegeben.

1934 machten wir eine Großfahrt nach Ostpreußen. Von Swinemünde ging es mit dem Seedienst “Ostpreußen”, also mit einem Dampfer, nach Pillau. Wir fuhren am Nachmittag fort bis zum anderen Morgen. Gundel, Ingrid und ich hatten Liegestühle auf Deck organisiert und blieben die ganze Nacht auf. Das kann ich gar nicht beschreiben, das muss man erlebt haben, den Sonnenuntergang, die Abenddämmerung bis zum Sternenhimmel, die Nacht, die nie ganz finster war, bis zur Morgendämmerung mit Sonnenaufgang. Alles war so weit und groß um uns, in dem kleinen Dampfer war man dem Meer und dem Firmament voll anheimgegeben. Dennoch war keinerlei Furcht, sondern grenzenlose Geborgenheit.

In Pillau ging ich dann mit Ingrid bis vor an die Molenspitze und ließ mir den Wind gewaltig um die Ohren blasen. Das erste Ziel war dann Königsberg. Wir besichtigten die Speicher am Hafen und besuchten das “Blutgericht”, eine berühmte Gaststätte, wo ich mein erstes Goldwasser trank. Da schwimmen echte Goldplättchen im Weinbrand, der ganz klar ist. Mit einem Segelboot fuhren wir über das Kurische Haff, vorbei an Kranz, nach Rossiten. Das Segelfluglager dort interessierte uns sehr. Und dann kam die unendlich schöne Rundfahrt über die Masurischen Seen, den Sgonner See, den Niedersee nach Rudczanny. Dorthin wollte später Euer Vater mit uns als Revierförster ziehen, außer Wald hätte ein Stück See mit Fischfang dazugehört. Im Süden von Ostpreußen waren wir in Ortelsburg. Ingrid und ich machten einen Abstecher alleine zur Neidenburg. Ingrid hatte den Fuß verstaucht und wurde einem PKW mitgegeben, da musste ja noch ein Aufpasser mit, wozu ich mich schnell meldete. Wir waren fast zwei Tage alleine unterwegs. Auf der Neidenburg erbaten wir den Schlüssel und entdeckten so für uns alleine eine alte Trutz- und Wehrburg. Zum Turm führte keine Wendeltreppe, sondern eine Leiter von schwindelnder Höhe inmitten des Raumes. Wir schürzten unsere Röcke und kletterten einzeln hinauf, das schwankte beängstigend. Oben saßen wir lange vor den Schießscharten und malten uns aus, wie die Mongolen angestürmt kommen und wir sie schon weit im Ansturm erspähen. Wir beiden fuhren dann mit Bauernwagen, auch eine Art zu trampen, nach Hohenstein, wo wir wieder zu den anderen stoßen sollten, aber die kamen erst am nächsten Tag. Bei so einer längeren Fahrt auf dem holprigen Wagen wurden selbst die Ostpreußen gesprächig, die als ganz verschlossen bekannt sind. Fast jeder Quadratmeter war dort geschichtlicher Boden. Da hatten zu allen Zeiten Kämpfe stattgefunden, die letzten im Ersten Weltkrieg. Und die alten Ostpreußen waren sich dessen durchaus bewusst, stolz bewusst, aus allen Familien war ja Blut dabei geflossen. Viele Heldenfriedhöfe erinnern an die gefallenen Soldaten, wovon die meisten unbekannt sind. Waplitz war der erste Heldenfriedhof, der uns tief beeindruckte, mehr noch als das Tannenbergdenkmal. Letzteres wurde im Zweiten Weltkrieg zerstört. Es waren einzelne Türme um ein großes Mittelfeld angelegt. Ich erinnere mich an den Bismarckturm zu Ehren Bismarcks, der voll von alten Kriegsfahnen und Standarten war. Eine Orgel erklang, als wir dort waren. Am eindrucksvollsten war der Hindenburgturm für uns, weil Hindenburg noch nicht lange tot war, der hier begraben lag. Er und Ludendorff, die als Generalfeldmarschälle die Siege in Ostpreußen erkämpften, wurden am meisten geehrt in Tannenberg. Hindenburgs Sarg stand über und über geschmückt alleine in einem Turm. Als wir vorbeigingen, verweilte jeder mit dem deutschen Gruß. Inmitten des Tannenbergdenkmals war ein großes Kreuz für den unbekannten Soldaten. Unter der großen Mittelfläche mit Rasen bewachsen waren die Massengräber dieser Unbekannten. Später sahen wir noch in Osterode einen in die Natur gut eingepassten Heldenfriedhof. Wir schliefen immer in Jugendherbergen. So viele Wanzen wie in Hohenstein hatten wir noch nie erlebt. Am Ende der Rundreise war Danzig. Die Marienburg ist einmalig, sie ist noch heute in Polen zu besichtigen. Wenn man sich in den Remtern die Kreuzritter vorstellte, hier friedlich beisammen, über Siedlung im Osten beratend, im Bewusstsein, die Kultur weiter nach dem Osten zu bringen, so möchte man gerne ihre kriegerischen Taten vergessen. Die Marienburg ist so vollendet in ihren Räumen, so vergeistigt, dass da kein Gedanke an Böses aufkommt. Aber es war ein Bollwerk, es war der Ausgangspunkt zu kriegerischen Handlungen, zu östlicher Landnahme. Damals, als wir da waren, war die Weichsel Grenze, inmitten der Brücke begann Polen. Polen hatte seit dem Ersten Weltkrieg einen Zugang zum Meer, zur Ostsee erhalten. Das war der polnische Korridor. Wir haben ihn mit dem Schiff umgangen, sonst konnte man in verschlossenen Eisenbahnzügen über den Korridor fahren. Danzig gefiel mir weit besser als Königsberg. Vom Turm der Marienkirche hatten wir einen herrlichen Rundblick über die ganze Stadt. Die Backsteingotik kennt Ihr von der Ostsee her. Bekannt sind die Beischläge; die Häuser wurden über Treppen (Beischläge) zum Hochparterre betreten. Am Hafen sind die alten Lagerhäuser mit dem berühmten Krantor. Dort an der Ecke wurde gerade Fischmarkt abgehalten. Auf einer Hafenrundfahrt sahen wir nicht nur den Wirtschaftshafen mit Kranen und Handelsschiffen, sondern auch die “Westernplatte”, mit Stacheldraht umgeben, einen Stützpunkt im Ersten Weltkrieg. Am Strand von Zoppot nahmen wir Abschied von Ostpreußen, ohne aber in die Spielsäle dort zu kommen. Und dann fuhren wir wieder bei Nacht über die Ostsee zurück. Kurz vor Swinemünde sahen wir beim Sonnenaufgang einen Teil unserer Flotte. Ich hatte noch nie Kriegsschiffe gesehen. Es hat mich sehr erregt, dass nun auf der schönen Ostsee solche totbringenden Schiffe lagen: Torpedoboote, Linienschiffe und Kreuzer, dennoch sah es so silhouettenhaft schön aus. Diese Ostpreußenfahrt habe ich mir nach dem Zweiten Weltkrieg, wo wir Ostpreußen an Polen verloren, oft in das Gedächtnis gerufen. So ein besonders schönes Land als Spielball der Völker, und dessen Einwohner auch. So ein kleines Land, das wir immer als Insel betrachteten, weil es wie jetzt Westberlin von der DDR, ganz von Polen umgeben war. Und was hat sich dort seit dem Mittelalter schon alles abgespielt!

In demselben Jahr war ich zu Pfingsten mit dem VDA (Verein für das Deutschtum im Ausland) in Trier. Gundel, Ingrid und ich hatten uns dazu gemeldet. Die Tagung fand in Trier statt, weil für das kommende Jahr die Saarabstimmung bevorstand. Die Menschen dort sollten abstimmen, ob sie zu Frankreich oder Deutschland wollten. Da wurde natürlich für Deutschtum demonstriert: “Deutsch ist die Saar” oder “Hände weg vom Saargebiet”. In Koblenz fing die Fahrt an. Diesmal saßen wir stolz auf der Feste Ehrenbreitstein, denn das Rheinland war wieder frei von französischer Besatzung, das Deutsche Eck, wo der Kaiser Wilhelm auf die Mündung von Mosel und Lahn in den Rhein schaut, war wieder deutsch. Natürlich waren wir da stolz. Ohne Gewaltanwendung war dies durch Truppeneinmarsch in das Rheinland geschehen. In Trier lebten wir in einem riesigen Zeltlager an der Mosel. Es war alles gut organisiert. Trier bot viel Sehenswertes an Kirchen von Romanischen bis zu Barockkirchen; besonders interessierten uns aber die Reste der Römerzeit; die Porta Nigra, die Kaiserthermen. Das war schon eine Leistung, was die Römer da so um Christi Geburt vollbrachten; von unseren germanischen Vorfahren sprach man damals nur als von Barbaren. Wenn ich bedenke, dass wir hier heute noch keine Ortswasserleitung haben, so ist es doch erstaunlich, wie weit die Römer das Wasser damals schon leiteten, und dass davon heute noch brauchbare Aquädukte stehen. Die Römer wollten weitab von ihrer Heimat auf ihre warmen Bäder nicht verzichten, man staune!

Die Hauptrede in der Feierstunde hielt Herr von Papen, der wohl gerade Außenminister war. In einem riesigen Festzug wurde die Entwicklung der Stadt vorgeführt. Wir waren immer in Uniform, das war aber keine Naziuniform, sondern unsere VDA-Kluft. Der VDA wurde auch dann bald verboten.

Nach den Festtagen in Trier verteilen sich die Mengen. Wir fuhren langsam an der Mosel zurück, auf der Festung Mont Royal war noch einmal eine Kundgebung. Dann machten wir eine Rheinfahrt auf mir bekannter Strecke an der Loreley und am Mäuseturm vorbei und stiegen auch zum Niederwalddenkmal emport, das ist das Germania-Denkmal von der Reichsgründung 1871 nach dem siegreichen Frankreichfeldzug. Diesmal erlebte ich es dort nun mit nationaler Kundgebung und offenem Stolz. In Frankfurt am Main sahen wir ein Freilichtspiel vor dem Römer, dem bekannten Frankfurter Rathaus. In der Paulskirche, wo jetzt noch die Friedenspreise verliehen werden, wurden wir an die Weimarer Republik erinnert, die hier ausgerufen wurde. Frankfurts gut gepflegte Altstadt mit den zahllosen romantischen Winkeln, wie Ihr sie von Quedlinburg kennt, ist allein eine Reise wert.

Gundel, Ingrid und ich machten heimlich einen Abstecher, im Lastwagen trampend, zur Saalburg. Zu allen Römerstätten, die wir in Trier besucht hatten, gehörte nun noch das Kastell aus dem Limes, welches noch recht gut erhalten ist und einen guten Einblick gibt in die Grenzbefestigungen von vor fast 2000 Jahren. Wenn man nach abermals 2000 Jahren unsere jetzige Grenze besichtigt, was ist da wohl übrig an Draht und Zement? - Weiter ging es zum Neckar. In Heidelberg genossen wir außer der offiziellen Schlossbesichtigung die Studentenstadt. Kleine Lokale, viele lauschige Plätze am Berghang, der Neckar, das waren die Leckerbissen. Wir drei waren ja verhältnismäßig erwachsen und hatten uns bald abgesondert. Wir hatten uns drei Studenten aufgetan, die uns die studentischen Sehenswürdigkeiten zeigten. Im Philosophengärtchen oben am Berg unter hängenden Sträuchern mit Neckarblick leerten wir manche Flasche Wein. Am Abend war das Schloss voll angestrahlt, der Neckar aber voller kleiner beleuchteter Boote. Unsere Studenten organisierten Boote, und wir genossen das Dahintreiben zwischen den sehr fröhlichen Menschen und den bunten leuchtenden Booten so sehr, dass wir lange über die Zeit verweilten. Beim Nachhauseweg griff uns eine SA-Streife auf und brachte uns zur Wache unseres Lagers, wo wir von den SA-Leuten allerdings freundlich mit Kaffee bewirtet wurden. Nur folgte die Strafpredigt am folgenden Morgen, weil Meldung erstattet worden war. Die sofortige Heimreise wurde uns aber geschenkt, weil ohnehin nur noch wenige Tage Fahrt waren. Es ging weiter nach Eisenach, denn die Wartburg bietet zu jeder Zeit mit und ohne Luther Sehenswertes. Aber damals wurde Luther gar nicht verschwiegen; wir hatten ja auch noch Religionsunterricht in der Schule - - auch die Heilige Elisabeth wurde voll gewürdigt, doch das Entsprechendste war der Sängerstreit auf der Wartburg. Vielleicht waren die Meistersänger alle nordisch und gehörten zu Recht der Herrenschicht an?

Im VDA ging es um Deutschtum, um deutsches Kulturerbe, um Erhaltung des Deutschtums überall auch dort im Ausland, wohin Deutsche ausgewandert waren. Es ging nicht um „Heim ins Reich!“, eine Parole der Nazis, sondern um Selbstbestimmung der Deutschen in Siebenbürgen, im Banat, an der Wolga, in Südtirol oder wo sonst noch, um Erhaltung ihrer deutschen Sprache, ihrer deutschen Schulen, der deutschen Sitten, die gerade in den kleinen Gruppen im Ausland noch rein und ursprünglich waren, die aber oft um der restlosen Eingliederung wegen unterdrückt wurden. Der VDA hatte nie etwas mit den Besetzungen Hitlers in der Tschechei und in Österreich zu tun; wo Hitler auch motivierte, die Deutschen wieder zusammenführen zu müssen. Der VDA wurde drum auch bald restlos verboten.-

Nun, diese Trierfahrt war keine ausgesprochene Schulfahrt, aber auch mit der Klasse erlebten wir noch einiges. Im Winter fuhren wir zweimal nach Schellerhau im Erzgebirge. In Dresden machten wir Station zur Stadtbesichtigung, mit Zwinger. Es war nicht das Dresden von heute. Es war vor der Bombenkatastrophe im Krieg. Zwar ist der Zwinger heute wieder hergestellt, aber die Stadt selbst mit ihren vielen Sehenswürdigkeiten wird wohl nie wieder erstehen. Doch die Hauptsache ist ja, dass Dresden wieder ein geistiger Mittelpunkt wird. Was ist heute Rom ohne seine Ruinen, ohne seine Vergangenheit? Die römische Kultur ist Museum, das soll bei uns nicht so werden. Die Sachsenherrscher wie August der Starke mögen verschwenderisch gewesen sein mit dem Geld ihrer Untertanen, aber sie haben auch Werte geschaffen, einen geistigen Mittelpunkt gebildet, Künstler und Wissenschaftler höchsten Ranges herangezogen, und Dresden hat dieses bewahrt und allezeit versucht fortzusetzen. Noch heute ist Dresden in unserem klein gewordenen Vaterland ein besonderer Anziehungspunkt. Wie schön, dass unsere Renate nun dort in der Nähe lebt und uns allen dieses zugänglich macht.

Wir fuhren damals mit den Skiern weiter nach Schellerhau. In einem Privathaus, wo die Besitzer den ersten Stock als Ferienhaus eingerichtet hatten, kamen wir alle unter. Es waren kleinere Räume mit je drei bis vier Betten, die alle auf einen großen Flur mündeten, wir wir uns zu manch´ fröhlichem Beisammensein trafen. Schellerhau ist ein Dorf, aber die ganze Gegend ist auf Feriengäste eingestellt. Dicht am Haus war unser „Idiotenhügel“, wo wir trainierten. Aber die Schneewälzerei hatten wir bald satt und begaben uns auf schöne Skiwanderungen. Wir hatten außer Fräulein Studier auch unsere Sportlehrerin mit, da konnte nichts passieren. Die Sonne hatte schon viel weggetaut, so dass man sich durchaus auch ohne Schnee amüsieren konnte. Aber etwas weiter weg war noch Schnee genug. Eine besonders schöne Tour führte uns zum Raupennest, wo wir dann mit Eisbär fotografiert wurden. Nach dem Abitur machten wir zu Neunt noch einmal eine Fahrt nach Schellerhau ohne Lehrer. Alle Schulsorge los war es dann besonders schön. Wir hatten uns einen Wimpel gestickt „Freundschaft in der Freiheit“, wie es auf dem Fähnlein der sieben Aufrechten bei Gottfried Keller stand. Diesmal wurde viel gefeiert bis in die Nacht hinein. Auf unseren Streifzügen kamen wir an eine Gruppe junger Männer, mit denen wir dann die ganze Zeit gute Freundschaft hielten und durch ihre Ortskundigkeit und Skigewandheit viel profitierten. Als der Schnee brüchig wurde, zogen wir mit Schifferklavier und Grammophon hinaus. Eines Tages waren alle Burschen fort über die Grenze; erst da erfuhren wir, dass es Kommunisten waren, die dort illegal arbeiteten und sich sicher oft über die bürgerlichen Mädchen amüsiert hatten. Auch diesmal fuhren wir zum Raupennest, wo uns die Eltern von Marlies einluden. Sie kamen im Auto mit viel Schneehindernissen dort an, hatten eine Musikkapelle bestellt und ein feines Essen zur Feier unseres bestandenen Examens. Vater Maydam war Direktor vom UfA-Palast am Kurfürstendamm und konnte sich das wohl leisten. Ich war ja mit Marlies schon von der Grunewaldschule herübergewechselt. Marlies war mit vielen Filmstaren befreundet, und wir beneideten sie, wenn sie Bilder zeigte, wo sie beispielsweise auf Willi Fritschs Schoß saß. – Das war schon eine herrliche Zeit, und Gundel, Ingrid und ich waren immer zusammen. Zu allen Fahrten entstanden Reime, da will ich hier mal einen einblenden von dieser letzten Skifahrt 1935.

 

Endlich das Abi absolviert,

werd´n schnell die Bretter eingeschmiert.

„Neun Aufrechte“ verlassen fröhlich Berlin

und fahren zum Erzgebirge hin.

Fürn Sport liegt da der Schnee in Massen,

fürs Studium finden sich seltene Rassen.

Muttchen Hartig sorgt fürs Bett und für den Magen,

Verantwortung muss diesmal jeder selber tragen.

„Freundschaft in der Freiheit“ unser Motto ist,

dass mir keiner in der Freiheit die Freundschaft vergisst!

Am ersten Tag ist Fastnacht!

Da wird viel Koks gemacht.

Der Alkohol bringt die Stimmung in höchste Grade,

man tanzt und lacht und spielt Maskerade.

Mancher traut dem Nachbarn ein Schwippschen zu!

Halb elfe, Muttchen Hartig ermahnt zur Ruh.

In den Tagen darauf werden Berge erklommen,

manch´ riesige Skitour unternommen.

Die Skibabies sind zu Elefangen gereift,

und vom Übungshang in die weitste Umgebung geschweift.

Der Führer Kurt, ein Künstlerblut,

erkennt die Schwächen seiner Zöglinge gut.

„Stemmbogen! Kniee! Das linke Bein vor!

Der große Zeh dirigiert!“ – bald brüllt man´s im Chor.

„Hä bitte?“ wird Schlachtruf, für zwanzig Pfennje gelernt.

Ja, von der Imitation der Sachsen sind wir noch weit entfernt.

Sind aber auch „hässliche und gewöhnliche“ Menschen dort,

den´n nimmt man mit Kusshand die Bänke fort.

In die Schneise geschleppt, gesonnt bis zur Blöde,

denn weiße Wintersportler sind doch zu öde.

Jedenfalls war´s zehn Tage erträglich,

und der Abschied, der war man kläglich!

Doch hoffentlich war´s nicht die letzte Fahrt,

auf, schnell, für den nächsten Winter gespart!

Aber nun denkt nicht, dass wir in der Schule nicht auch was gelernt hätten. Je mehr Schönes wir zwischendurch hatten, umso eifriger waren wir doch beim Lernen. In unserem Klassenraum saßen wir an breiten Tischen, je zwei an einem; der Lehrer saß am Katheder: Ich saß immer in der letzten Reihe, das kann ich mir gar nicht anders vorstellen. So konnten wir viel Gemeinschaftsarbeit tätigen ohne groß aufzufallen. Auch konnte ich ja beim Lachen nie so schnell wieder aufhören wie die anderen, das ging da hinten schon am besten. Doch da wir nur dreizehn Mädchen waren, konnte der Lehrer natürlich, was er wollte, alle sehen. Wir waren nun fast erwachsen, wir wurden mit „Sie“ und „Fräulein Wilcke“ angeredet. Die Lehrer waren wie überall sehr unterschiedlich. Unsere Mathematiklehrerin, Fräulein Munzer, haben wir oft reingelegt, denn wir haben zu Hause alles nachgeprüft und jeden Beweis durchgerechnet, da war uns keine Mühe zu groß. Außerdem war Mathe eins meiner Lieblingsfächer. Fräulein Studier und Herr Dr. Sturm, die Sprachlehrer, standen fachlich außerhalb unseres Kritikvermögens. Da war noch Latein, fakultativ, also wahlfrei. Dies hatten wir bei dem Direktor. Obwohl anfangs alle mitmachten, waren wir am Schluss nur noch fünf Lateiner. Durch diesen Unterricht lernten wir den Direktor kennen und schätzen. Als Klassensprecher hatte ich oft mit ihm zu tun. Alle Beschwerden, die wir etwa über Lehrer hatten, musste ich dem Direktor, Dr. Gille, vortragen. Mit der Mathematiklehrerin erreichte ich gar nichts außer einer Aufforderung an uns um Rücksichtnahme. Bei dem Deutschlehrer war es schon besser. Der Lehrer blieb unser Deutschlehrer, aber der Direktor arrangierte eine Arbeitsgemeinschaft für Deutsch nachmittags, wo vor allen Dingen moderne Literatur vorgestellt und besprochen wurde, was unser Deutschlehrer nie brachte. Unser Erdkunde-, Physik-, Chemie- und Biologielehrer, Herr Berger, gab sich wohl bei uns besondere Mühe, weil er ein Mädchen unserer Klasse liebte und mit ihr ausging, was wir alle wussten und ohne Spott akzeptierten. So kam er auch möglichst oft mit in das Landschulheim. Von besonderem Wert war für mich der Musiklehrer, Paul Gang, genannt: Bobbi. Ich habe noch eine Postkarte, wo er selbst von einer Kur grüßend, „Dein Bobbi“ unterschrieb. Wir mussten alle vom Blatt singen lernen; uns wurden viele Werke vorgestellt, indem einige die Partitur mit nach Hause bekamen und dann mit Klavier- und Gesangseinlagen zu referieren hatten. Da war ich oft dran. Bobbi hatte den Schulchor und leitete den „Schubertchor“, einen durchaus namhaften Chor. Wir sangen auch in der Singakademie, zum Beispiel: das Requiem von Mozart oder die Jahreszeiten von Haydn. Wir gingen zu Dritt aus unserer Klasse dorthin, wo sonst nur Vollerwachsene waren. Aber es war immer sehr schön. Wir waren besonders gefordert mit Vorsingen oder Übernehmen von Teilen der Solostimmen in den Übungsstunden, damit der Chor die Einsätze mitbekam. Bobbi war auch Kantor in der Kirche am Hohenzollerndamm, der sogenannte „Kleine Chor“, ein Teil des Schubertchors, war sein Kirchenchor. Da war ich natürlich auch dabei. Nach den Chorstunden gingen wir stets kneipen. Ich wurde am Schluss zur Bushaltestelle „Am wilden Eber“ gebracht. Viele Chorfeste und Ausflüge habe ich da mitgemacht. Ihr werdet es nicht glauben, aber ich war in Bobbi verliebt. Als ich noch in Hallensee wohnte, gingen wir gemeinsam auf kleinen Umwegen nach Hause nach der Schule. Nachmittags war ich zuweilen bei ihm eingeladen in seine Junggesellenwirtschaft. Seine zweite Frau, seine ehemalige Klavierschülerin, kannte ich noch, so tat mir Bobbi nach der Scheidung wohl auch ein bisschen leid. Nun, er starb schon, als ich im Arbeitsdienst war, er fiel im Bad um, wo man ihn später tot fand. Bobbi war der Typ eines Urberliners: Schlagfertig, gemütvoll, voller Humor. – Bleibt als erwähnenswert die Sportlehrerin, Fräulein Delius. Mit welcher Lust und mit welchem Einsatz haben wir bei ihr in der Halle geturnt oder auf dem Sportplatz Leichtathletik getrieben. Wir machten gemeinsam das bronzene Sportabzeichen, aber solchen Leistungssport wie heute gab es bei uns nicht. In außerschulischen Wettbewerben machten wir nicht mit. Wie schon erwähnt, hatten wir Religionsunterricht bei Fräulein Bayerhöfer. Das waren heftige Diskussionsstunden, die oft in den Pausen fortgesetzt wurden. Fräulein Bayerhöfer hatte die Bibliothek zu versorgen und war dort jederzeit für uns zu sprechen. Ich besuchte sie einmal zu Hause, sie war irgendwie verwandt mit uns; in ihrer privaten Bibliothek fühlte ich mich sofort sehr wohl, alle Wände waren bis zur hohen Decke mit Bücherregalen versehen. Ich kannte das von zu Hause nicht und kam mir vor wie in einer anderen Welt. Die Krönung allen Lernens sollte das Abitur sein. Obwohl ich so selten krank war, erwischte es mich mit einer Grippe gerade bei den schriftlichen Prüfungen. Aber nach einer Gewaltkur mit viel Chinin konnte ich alles mitschreiben außer Latein. Das musste ich nachholen, in Klausur, im Lehrerzimmer eingeschlossen. Nun, mein Direktor wollte mich wider Willen zur Lateinprüfung haben, weil doch so wenige übrig geblieben waren. Er besuchte mich in meiner Klausur und runzelte auffällig die Stirne, wenn er beim Durchlesen meiner Arbeit einen Fehler entdeckte, so dass ich noch manches verbessern konnte. Die Sportprüfung fand an zwei Tagen vor dem Kollegium statt; einmal auf dem Sportplatz und einmal in der Turnhalle. Wir waren eine sehr gute Turnerklasse. Den Lehrern von den anderen Fächern schwindelte oft bei unseren Übungen, zumal wir unsere Küren am Hochreck, an den Ringen und am Pferd recht schwierig ausgesucht hatten.

Die mündliche Prüfung fand an einem ganzen Tag für alle statt. Da waren das gesamte Lehrerkollegium und die Prüfungskommission gegenwärtig. Die Unterprima hatte dafür zu sorgen, dass wir zwischendurch gut verpflegt wurden.

In Biologie wurden alle geprüft, das war damals mit Rassenkunde und Vererbungslehre etwas Neues und Wichtiges. Jeder hatte ein Wahlfach, wobei wie überhaupt bei der ganzen Bewertung alle Fächer gleichwertig waren. Die Lateiner wurden alle geprüft, was aber bei der Gesamtzensur nicht gerechnet wurde, da es ja fakultativ war. Ansonsten wurden die Fächer geprüft, wo die Vorzensur mit dem Ergebnis der schriftlichen Prüfung nicht übereinstimmte. Mit dem jeweiligen Prüfungsthema kamen wir eine halbe Stunde vor der Prüfung selbst in einen Klassenraum und konnten uns dort unter Aufsicht vorbereiten. Wir durften keine Bücher oder alten Notizen benutzen, nur leere Zettel und Stifte. Zur Toilette durften wir nie gemeinsam, in den Erfrischungsraum nur zwischen den einzelnen Prüfungen. Gleich früh kam ich in Latein dran, wo ich sehr schwach war. Aber vom ganzen Kollegium konnten nur drei Lehrer die lateinische Sprache, das war der Direktor, der mich prüfte, der Geschichtslehrer „Ossi“, der mir gegenüber saß und die Religionslehrerin, die mir zur Linken saß. Ich war begründet aufgeregt, obwohl mir der Direktor so quasi versprochen hatte, mich durchzubringen. Mit vereinten Kräften haben wir es dann geschafft. Der Direktor hatte Geduld, Ossi von gegenüber machte mir mit Mund und Händen Zeichen, die Dame neben mir tütete in mein Ohr. Alle drei schmunzelten versteckt; es man manches Komische nur so Ähnliche herausgekommen sein, aber alle Übrigen verstanden es ja nicht. Diese Freundlichkeit und Hilfsbereitschaft der Lehrer, dieser Humor dabei haben mich durch die ganze Prüfung begleitet. Zu Hause hatte ich allen Ernstes vor lauter Aufregung erklärt, dass sie mich im Grunewaldsee suchen könnten, wenn es schief ginge. Als Zweites kam Englisch dran. Vorzensur nur „drei“, hatte ich schriftlich eine „zwei“ gebaut und Herrn Dr. Sturm gebeten, es mit mir zu versuchen, auf eine „zwei“ hochzukommen. Ich durfte zuvor ein Wahlthema nennen; es war der englische Dichter Joseph Conrad. Diese Prüfung war bestimmt nicht überwältigend, aber es langte zur „zwei“. Schon nach der kurzen Mittagspause kam ich im Wahlfach „Musik“ dran. Ich musste über Beethovens Leben und Werk sprechen, dann die „Pathetique“ speilen und ein Lied von Beethoven vom Blatt singen. Alles ging gut, der Direktor hatte die Pathetik auch in seiner Jugend gespielt und wollte noch einen Satz hören. Er fragte dann, nachdem von der Oper „Fidelio“ die Rede war, wo noch, wie so selten in der Literatur, die Ehe verherrlicht würde. Ich wusste es nicht. Es war die „Glocke“ von Schiller, die ja alle alten Lehrer noch auswendig konnten, die ich aber nicht einmal gelesen hatte. Doch das tat nichts zur Sache, die „Eins“ war mir sicher.

Gegen Abend als Allerletzte kam ich noch in Biologie dran. Es ging um die Vererbung bei dem Coloradokäfer. Trotz allgemeiner Müdigkeit ging es mit Lichtbildern noch ganz munter zu, bis mich einer fragte, wie der Coloradokäfer auf Deutsch heiße. Keine Ahnung! Es ist ja der Kartoffelkäfer, den ich später in meinem ländlichen Leben viele Jahre lang ablesen musste. Dem Großstadtkind war er damals völlig unbekannt.

So war endlich alles vorbei; wir wurden zusammengerufen und bekamen nur die Schlussresultate zu hören. Wir waren eine enorm gute Klasse, wie man es lange nicht erlebt hatte. Drei hatten es mit „Auszeichnung“ gemacht, sieben mit „Gut“ und drei mit „Genügend“. Alle Lehrer waren hoch zufrieden, wir auch. Nur unsere Klassenlehrerin kam zu uns und sagte mit Empörung: „Aber nein, Fräulein Aßmann (das war Ingrid), dass Sie es mit Auszeichnung machten, wo Sie doch bei mir in Französisch eine Drei haben, das ist unglaublich!“

Als ich endlich gegen 21 Uhr mit dem Bus nach Hause fuhr, stand schon die ganze Familie an der Haltestelle. Wie ein Stein fiel es allen vom Herzen, dass ich noch heil war. Als ich dann zu Hause erzählte, dass ich es mit Auszeichnung gemacht hätte, war die Freude groß, besonders bei unserem Vater. Er behandelte uns ja zu Hause wie die Dummen, aber das war wohl seine Erziehungsmethode, als Ansporn gemeint.- - In der Schule fand noch eine große Abschiedsfeier statt mit allen Lehrern; Ingrid und ich hatten die Abschiedszeitung verfasst, illustriert und abgezogen. Sie musste dem Direktor vorgelegt werden, worauf wir dann Einiges streichen mussten, was wir aber überklebten. Es war ein schönes Fest. Die Lehrer waren nun Kameraden und zeigten sich fast alle als sehr gesellig, besonders der Direktor. Als ich viel später mein erstes Lehrerinnenexamen machte, beglückwünschte mich dieser alte Direktor; er schrieb, dass er sich auf die Kollegin freue, von der er wisse, dass sie nicht nur gut unterrichten werde, sondern vor allem fröhlich und mitteilsam sei und mit den Kollegen Geselligkeit pflegen werde. Dazu schickte er mir ein großes Foto des derzeitigen gewachsenen Kollegiums der alten Schule, das mich nun in die Runde aufnehme. Keinen der Lehrer oder auch Mitschüler außer Gundel habe ich je wieder gesehen. Damals war noch keiner unserer Lehrer ein Nazi, obwohl ich erst 1935 das Abitur machte. Unser Geschichtslehrer war sogar Sozialdemokrat. Aber später wurden diese wohl alle entlassen oder doch noch Parteigenossen, ich weiß es nicht. Wer weiß, wer den Krieg überlebt hat?  

Als ich nach Berlin kam, sollte ich den begonnenen Klavierunterricht fortsetzen. Tante Dora, die Schwester meiner Mutter, war auf dem Scharwenka-Institut als Pianistin ausgebildet. So kannten alle Bluths ihre ehemalige Lehrerin, Fräulein Kolberg, genannt Kolli. Sie hatte viel bei den Großeltern verkehrt und auch meine Mutter kurz unterrichtet. Kolli lebte noch, sie war etwa siebzig Jahre alt. Scharwenka war als Jude enteignet und durfte nicht mehr unterrichten. Er hauste mit seiner Familie in einer Dachwohnung, wohin mich Kolli einmal  zu einem Hauskonzert mitnahm. Die Kinder trugen Zeitungen aus, alle waren verarmt, aber bezaubernd in ihrer Gastfreundschaft und glücklich mit ihrer Musik. Kolli wurde also meine Klavierlehrerin bis zum Abitur. Dorle und ich waren bald ihre einzigen Schülerinnen. Kolli kam zum Mittagessen, unterrichtete, blieb zum Kaffee und Abendbrot und war sehr unterhaltsam. Wenn sie mit ihren etwas vergichteten Fingern den “Liebestraum” von Liszt spielte, merkte man ihr Alter nicht. Im Unterricht war sie nicht streng, für mich längst nicht streng genug. Wenn es harmonisch klang, fand sie, dass es zwar nicht der echte Mozart war, aber dennoch schön. Sie spielte zuweilen auf den Baßtönen mit, oder sie sang zu Schubert-Impromptus selbstgedichtete Versed. Es war immer amüsant mit Kolli. Sie hat mir wie kein anderer die Liebe zur Musik beigebracht, das Denken und auch Schwärmen in Tönen. Vor allem die reine Instrumentalmusik regte mich an zu Träumen, Geschichten und zu intensivem Erleben. Kolli nahm mich mit zu Konzerten ins Funkhaus, wo sie nur mit wenigen Zutritt hatten. Dort sah ich Hindemith selbst im Kreis anderer großer Musiker auf einer alten Oboe spielen. Wir gingen auch gemeinsam ins Theater. Ich erinnere mich an “Medea” von Grillparzer. Ich war noch völlig erschüttert von dem grausigen Stück, da drängelte sich Kolli schon klatschend an die Rampe, und im Gang bestürmte und begrüßte sie dann die Schauspieler. Aber so war sie, eine Künstlerin, an jedem nahm sie voll Anteil. Kolli lebte mit ihrer auch ledigen Schwester, die einst Lehrerin gewesen war, zusammen, hauptsächlich von deren Pension. Als diese starb, ging es Kolli wohl sehr schlecht, aber nie hätte sie geklagt, obwohl sie wohl oft hungerte. Wenn ein Bettler kam, nahm sie ihn mit herein in die Stube und rauchte eine Zigarette mit ihm oder gab ihm ein Glas Likör, wenn sie gerade eins hatte. Kolli hatte kleingelocktes Haar, was sie nur einmal im Jahr zu Neujahr wusch, sonst mit Wässerchen und Puder bearbeitete. Sie trug ihre uralten, verschlissenen Kleider, ihr Pelzmantel war nur noch ein Fähnchen, aber ich liebte sie und verehrte sie. Sie ist für mich in der Erinnerung bis heute der Inbegriff des echten Menschen, des schöpferischen, frohen, mitteilsamen, liebenden und durch die Welt schwebenden Menschen.

Kolli war überall Mittelpunkt, wo ich sie auch erlebte. Sie erzählte gerne von ihrer Glanzzeit, als sie im Konservatorium des Xaver Scharwenka (Bruder von Philipp) dessen rechte Hand war. Sie erzählte von Potsdam, wo sie Musikunterricht im Mädchenpensionat hielt. Damals lief ein Film “Mädchen in Uniform”, der in selbigem Pensionat spielte, und worin Kolli auch vorkam. Das war ihr eine besondere Freude. Leider ist Kolli später in ein Irrenhaus gekommen und dort gestorben.

In die Berliner Zeit fällt auch meine Tanzstunde. Wir waren Unter und Obersekunda, die Jungens Primaner. Aber mit Schule hatte es nichts zu tun, es war ein annoncierter Tanzkurs mit Teilnehmern aller Schichten. Es war schon eine witzige Angelegenheit. In zwei Reihen saßen sich zuerst die Mädchen und die Jungen gegenüber und lernten gesellschaftliches Benehmen. Ich weiß sonst nicht mehr viel. Mein Tanzstundenherr vom ersten Kursus war aus einem Kolonialwarengeschäft. Er legte immer ein zusammengefaltetes Taschentuch in die Hand, um mein Kleid am Rücken zu schonen. Im nächsten Jahr war ich noch einmal dabei, diesmal umsonst, weil zu wenig Damen da waren. Da hatten wir dann eine nette Gruppe, die wir uns zu Tanztees trafen und gemeinsam ausgingen. Da war mein Tanzstundenherr der Sohn eines Offiziers, der auch dereinst Offizier werden wollte; dann die Geschwister Langenscheidt (Taschenwörterbuchverlag) und ein Sohn vom Maler Simmel, der der lustigste war. Als wir bei Langenscheidts tanzten, hatten wir drei Paare die ganze Villa für uns, die Eltern waren ausgegangen, hatten aber herrliche Platten und Getränke bereit gestellt. Bei meinem Offizier erschienen die Eltern und beäugten alle kritisch, aber lieb und steif. Nun, auch von diesen allen habe ich nie mehr etwas gehört, denn ich verließ ja bald Berlin.

Unabhängig von der Tanzstunde wurde ich schon davor durch meine Freundin Inge zu meinem allerersten Tanztee eingeladen. Der älteste Sohn von Rasenacks, es waren deren fünf, wurde als einer der ganz wendigen Kadetten vom Schulschiff Niobe, das damals unterging, gerettet. Er war der Gastgeber; alles waren Bekannte, nur in dem Söhnehaus mangelte es an Mädchen. Da ich noch wenig tanzen konnte, war es schrecklich aufregend, aber alle waren sehr nett, die Atmosphäre mit Spielen ganz goldig. Auf öffentliche Tanzböden gingen wir nie. Aber Vater war “Marcho-Borusse”, nun alter Herr seiner studentischen Verbindung. Dorthin nahm mich Vater mit zu sehr schönen Tanzabenden mit vorausgehendem Essen.

Noch einer der Berliner Freunde ist Euch allen bekannt: Helmut Risch. Er ist jetzt Pfarrer in Wiesbaden, hat wie wir fünf Kinder, die auch etwa im gleichen Alter sind. Dorle lernte die Brüder Risch, Helmut und Dieter, auf einer Party bei einer Freundin in Potsdam kennen. Die Freundin war bald vergessen, aber Dorle war viel mit Rischs zusammen. Helmut und Dieter kamen auch zu uns nach Hause, sodass ich sie kennen lernte. Dorle ging mit zur “Gilde”, deren Studentenschaft, die aus dem Wandervogel hervorgegangen war. Sie hatten eine Spielschar und zogen damit in den Ferien über Land. Ich lernte alle später in ihrem Landheim bei Lehnin kennen. Dort hatten sie von den alten Herren finanziert eine Holzbude mit Schlafräumen, Wohnraum und Küche. Dort waren wir in unterschiedlicher Besetzung beisammen. Helmut und Paul als Theologiestudenten, Dieter als Student der Leitungswissenschaft. (Ich hörte einmal mit ihm eine Vorlesung des berühmtem Zofifei.) und vier Biologen, dazu als Mädchen die Biologin Inge, zwei Schwestern Domasch, wovon eine später Helmuts Frau wurde, Dorle und ich. Dieter spielte Schifferklavier, Helmut Gitarre und Konrad Pribus Banjo. Wir sangen viel die Euch allen bekannten Lieder aus St. Georg. Wir lasen gemeinsam “Knulp” von Hermann Hesse, ein andermal von Walter Flex “Der Wanderer zwischen beiden Welten”. Ich erinnere mich, wie wir an einem Silvesterabend  in das Luch gingen. Alle Büsche wirkten gespenstisch im Nebel, wir standen im Kreis und konnten uns nur so eben sehen. Wir sangen und einige sagten Verse. Dann gingen wir schweigend nach Hause. Dort im Landheim wurde dann mit Wein und Krakowiak (russischer Tanz) in ausgelassener Fröhlichkeit gefeiert. Um Weihnachten lasen wir von Walter Flex “Vom großen Abendmahl”, ein Kriegsmärchen, oder von Wischert “Der Kinderkreuzzug”. Zu gemeinsamer Skifahrt war ich auch einmal mit in Peitz im Riesengebirge. Das lag da schon auf der tschechischen Seite. Ich fuhr mit Dieter später nach. Auf der Wiesenbaude erwarteten uns die anderen. Gegen Mitternacht fuhren wir im Stockdunkeln mit Skiern in die Tschechei. Ich fuhr als Letzte eine lange, nicht endenwollende, mir unbekannte Abfahrt. Wenn links am Weg ein dürrer Ast auftauchte, war ich noch richtig. Ich dachte nie anzukommen und die anderen nie wieder zu finden, aber, o Wunder, zum Schluss waren wir alle da. Erst später zeigte man mir die Strecke bei Tage, linker Hand ging es steil abwärts, gut, dass ich es nicht wusste. Wir wohnten bei Tschechen, die eigentlich das Zimmer bezahlten, in dem wir zwei Mädchen schliefen, überraschend am Abend. Margot und ich lagen schon im Bett. Leise und eilig mussten wir im Dunkeln unsere Klamotten suchen und zu den Jungen schleichen. Die Tschechen merkten es nicht, wie angewärmt ihre Betten waren, oder sie wollten es nicht wissen. Die Gegend war sehr reizvoll zum Skilaufen, es war eine herrliche Zeit. Als die meisten schon abgereist waren, fuhr ich mit Helmut abends auf Skiern den Berg hinunter, um heimlich an deutschen Versammlungen teilzunehmen, war doch dort schon alles in Aufruhr über Hitler und mutmaßte man nicht von ungefähr, dass Hitler dort etwas plane. Später ist er dann mit Armee und SS einfach dort einmarschiert, um die Deutschen “heim ins Reich” zu holen, wie er es ausdrückte.

Helmut und Dieter hatten ein Segelboot, eine Olympiajolle. Nun, ich bin nur einmal mitgesegelt. Als ich es so eben kapiert hatte, lagen Dieter und Dorle im Kahn, und ich segelte ganz glücklich. Doch hatte ich das aufziehende Gewitter nicht bemerkt, und beim ersten dollen Windstoß kippte das Boot um. Alle unsere Habe, auch das Schifferklavier, schwamm im See. Wir ritten zum Teil auf dem Kiel, mussten aber immer wieder weg vom Boot, wenn es umzukippen drohte, damit wir nicht drunter kamen. Wir sahen schon ganz blau aus, als ein Dampfer, der nach Potsdam fuhr, beidrehte und hielt. Wir mussten noch eine ziemliche Strecke schwimmen, ehe wir den Dampfer erreichten. Von den Passagieren wurden wir verwöhnt und gewärmt. In Potsdam setzte man uns ab, noch pitschnass. In einem Arbeitsdienstlager für Männer bekamen wir Trainingsanzüge  und wurden bewirtete. Nach etwa vier Stunden Fußmarsch waren wir warm und in unserem Landheim. Das Boot war inzwischen an Land geholt worden, alle gefundenen Sachen lagen zum Trocknen ausgebreitet, ein Bild zum Weinen. Wir wollten niemand davon erzählen, am nächsten Tag stand es in der Zeitung, aber ohne Namen. Unsere Eltern erfuhren es nie. Helmut sagten wir es viel später, weil das Tagebuch trotz des Trocknens viele Schadstellen vorwies, die Quetschkommode war restlos hin.

Dies waren nun alles Dinge, die sich außerhalb unseres Zuhause zutrugen. 1934 zogen wir endlich von Hallensee weg in eine Wohnung nach Zehlendorf in die Riemeisterstraße. Nun bewohnten wir ein kleines  Einfamilienhaus mit Garten rundum. Welch´ wohltuende Veränderung! In unserer näheren Umgebung waren lauter kleinere Häuser mit vielen Gärten. Auf der Riemeisterstraße weiter vom Ort weggehend kamen wir schnell in den Wald nach “Onkel Toms Hütte”, zum Schlachtensee. In unserem Gärtchen war ein Mandelbäumchen, eine Blutbuche, eine Birke, eine Weide und noch anderes, lauter schöne einzeln stehende Bäume. Ich musste von da ab zwar mit dem  Bus zur Schule fahren zur bewussten Haltestelle “Zum wilden Eber”, aber was tat das! Alle vier fühlten wir uns dort wohler. Eigentlich waren wir an den Wochenenden und in den Ferien noch immer die meiste Zeit mit den Eltern zusammen. Im Sommer fuhren wir nun nicht mehr nach Borkum, denn nach dem Großstadtlärm drängte es uns in größere Stille. Wir fuhren nach Juist oder nach Langeoog. Wenn wir jetzt oft an der Ostsee sind, muss ich bedenken, dass so schöne reine Sanddünen wie in Langeoog, nur mit Strandhafer bepflanzt, und frei begehbar es hier nirgends gibt. Auch ist der Strand auf beiden Inseln viel breiter als an der Ostsee und ohne jeden Stein. Noch bei Hochflut bleibt ja Platz für die Strandkörbe und Burgen, bei Ebbe ist ganz breiter Strand, fest, aber trocken. Wir Kinder zogen uns nun am liebsten in die Dünen zurück, um dort ganz ungestört zu sein. Von Langeoog aus kann man mit kleinen Booten zu einer Möveninsel fahren. Dorthin fuhr ich mit einem Hannoveraner Lehrer, Herrn Hupe, der starke Heiratsabsichten hatte; drum fuhr ein Anstandsknabe mit. In der Brutkolonie der Möven war es sehr interessant, auch warn die jungen Tiere besonders zutraulich. Meistens sind die Brutkolonien eingezäunt, aber hier ließen sich die Möven überhaupt nicht stören. Die Insel war sonst unbewohnt und durfte zur direkten Brutzeit bestimmt nicht betreten werden. An der See ähnelt ein Tag dem anderen, nur dass ich jetzt schon öfter mit den Eltern abends ausging. In einem Jahr wollte ich immer in dasselbe Café, weil ich mich in den Stehgeiger verguckt hatte. Aber außer einem gemeinsamen Ballspiel am Strand kam nichts zustande, seine junge Frau reiste an. Es wurde überall nicht nur getanzt, sondern es wurden lustige Einlagen gebracht, und ein Conferancier machte Rate- und Reimspiele mit dem Publikum. Auf dem Rückweg von der Insel blieben wir dann einmal in Bremen und besichtigten das Rathaus, die Böttchergasse und den Dom. Auch in Hamburg blieben wir noch im Hospiz, um uns dort an der Alster und im Hafen umzusehen. Wir fuhren nach Helgoland, wo ich zum ersten Mal seekrank wurde. Wie es mir empfohlen war, stellte ich mich mittschiffs, um die Schwankungen so wenig wie möglich zu spüren. Ganz schlimm wurde es erst, als wir vor Helgoland in die kleinen Landungsboote gehievt wurden, die großen Dampfer können nicht bis in den Hafen fahren. Trotzdem besichtigten wir Ober- und  Unterland der Insel, was ich nun auch teilweise wiedererkannte, als ich mit Dorle jetzt dort war. Die felsige Nordküste mit der langsamen Auswaschung von den Sturmfluten ist am eindrucksvollsten. Der Fels “die Nonne” steht mit dem härtesten Gestein ganz alleine im äußersten Ring. Dort ist überall guter Platz für Vogelnistplätze: Möven, Lummen und Kormorande konnten wir dort sehen. Die Rückfahrt auf dem Dampfer war erträglicher wo ich nun normal aß und nicht fastete und erstmalig in meinem Leben Whisky trank. Wenn ich dies heute mal tue in Westdeutschland, so denke ich dabei stets an Helgoland.

In den Herbstferien fuhren wir mit den Eltern nach Garmisch-Partenkirchen oder nach Mittenwald; einmal auch nach Berchtesgaden. Überall dort muss man wandern, um die Schönheit der Landschaft zu sehen. Es sind Wanderwege auf halber Höhe und in den Tälern. Aber wir kamen nie dazu, richtig zu klettern, was ich bis heute bedaure, doch nun ist es zu spät. Und Ihr könnt es hier gar nicht, denn in der DDR gibt es kein Hochgebirge. (Ihr fahrt halt in die Tschechei.)

Garmisch-Partenkirchen, ursprünglich zwei Orte, liegt eingeschlossen von Bergen. Auf der einen Seite ist ganz nahe der Kramer, der noch bis oben hin etwas begrünt ist. Auf halber Höhe ist die sehr reizvolle Hütte “St. Martin”, eins unserer beliebten Kaffeeziele. Noch näher war das “Gamshüttl” am Hausberg. Gegenüber war, nun schon oben kahl, der Wank, wo hinauf eine Drahtseilbahn fuhr. Die  “Zugspitze” und die beiden “Wachmänner” konnte man fast von überall sehen. Ganz oben auf der Zugspitze bin ich nie gewesen, nur bis zum Hupfleitenjoch. Von Mittenwald aus konnte man stets das Karwendelgebirge sehen. Ein besonders markanter Berg war die “Eibspitze”. Viele Seen sind dort; im Baadersee konnte man eine Meerjungfrau sehen, wenn man im Boot raus fuhr, aber es war leider nur ein versenktes Standbild. Der Eibsee ist der größte See dort, man ist ganz dicht am Zugspitzmassiv.

Außer einem großen Hotel stand nichts am Ufer. Große Steinbrocken lagen da wild durcheinander. Hier auf dem Weg nach Woffleben muss ich immer an den Eibsee denken, in Miniatur sieht es hier so aus, heruntergekommene Steine unterschiedlichster, wildester Formen und abwechslungsreiche Vegetation. Die Partnachklamm ist nicht weit von Partenkirchen, es führt ein schmaler Weg, teilweise mit Geländer, durch die Klamm.  In hohen Wasserfällen kommt die Partnach da zwischen den Felsen durch. Natürlich wird man ganz schön nass. Noch größer und gewaltiger ist die Höllentalklamm, etwas näher zur Zugspitze. In Berchtesgaden war ich mit Vater alleine. Der Königssee war ein besonderes Ziel. Wir fuhren auf dem See mit dem Schiff bis St. Bartholomä. VOn dort aus machte ich alleine eine Wanderung zur “Eiskapelle”, mein erster Gletscher, ein Stück ewiges Eis. Aber da erlebte ich später viel größere Gletscher mit riesigen Spalten. Berechtsgaden, Mittenwald, Garmisch, alle diese bayrischen Orte zeichneten sich aus durch saubere weiße bunt bemalte Häuser mit rundum gehenden Veranden aus dunklem Holz. Meistens waren es Heiligenbilder, die auf die Häuser gemalt waren, oder Geschichten aus der Bibel, aber auch Naturstücke. In Bayern sind überall in den Orten und an den Wegen Kreuze aufgestellt zur Besinnung der Vorübergehenden oder als Flurbeschützung der bestimmten Heiligen. Sie werden durch Gebet oder Blumengaben verehrt, und man ist sich ihres Segens gewiss. Es ist gut, dass ich das alles in der Jugend sehen konnte, nun ist es so schwer geworden, dorthin  zu kommen, für Euch alle noch unmöglich.

Nach dem Abitur bewarb ich mich in Hannover an der Hochschule für Lehrerinnenbildung. Mein Schuldirektor riet mir zwar ab, weil für mich keine Voraussetzungen vorhanden seien. Das Studium wurde vom Staat bezahlt, so kamen in erster Linie Waisen und Kinder aus kinderreichen Familien in Betracht und dann Kinder vom Dorf, weil sie ja zum größten Teil in ein- oder zweiklassige Schulen auf dem Dorf eingesetzt werden sollten. Dennoch bewarb ich mich, weil ich wusste, dass gute Noten in Zeichnen, Musik und Turnen zu den Vorbedingungen zählten - die wissenschaftlichen Fächer hielt man wohl für erlernbar. Mein Direktor schrieb ein Empfehlungsschreiben. Ich wurde von 4000 Bewerbern zugelassen zur Prüfung. Irgendwann fuhr ich dann auf Aufforderung hin nach Hannover, wohnte in der Jugendherberge und ließ mich einen vollen Tag prüfen. Es war keinerlei Wissensprüfung.

Im Zeichnen kriegten wir das Thema: Wunderblume – wo sich mancher genasweist fühlte. Wir wurden laufend beobachtet, in Gespräche verwickelt, es kam auf das schnelle Beginnen, die großzügige Anlage, den Mut zum Malen an. In Musik sollten wir Instrumente mitbringen, ich erschien ahnungslos mit der Ziehharmonika, einem unerwünschten Instrument, unmusikalisch, weil die Begleitung ja fast vorgegeben war. Dennoch sang ich irgendein Fahrtenlied zu eigener Begleitung. Auf dem Klavier musste ich kurze, herausgerissene Stücke aus einer Mozart-Fantasie spielen dann noch genannte Intervalle singen. Im Turnen waren wir zu Massen in der Halle und mussten zuerst einfach durcheinander gehensd, dann in der Diagonale in beliebigen Sprüngen einzeln hinüberwechseln, später Reckaufschwung, Bockspringen und Hechtrolle über viele Rücken hinweg. Nirgends war die Leistung ausschlaggebend, immer die Art, wie man sich gab, wie mutig man war, wie sicher vor allen Dingen. Ich weiß das jetzt, weil ich später oft selbst mitgeprüft habe. Dann war so etwas wie Gegenwartskunde, wo ich mit ziemlichem Bangen Fragen über National-Sozialismus erwartete. Aber ein alter Professor freute sich, dass eine Berlinerin kam, er war Erfurter, und wir unterhielten uns über Potsdamsd. Die politische Prüfung war ein Gespräch mit Studenten älterer Semester der NS-Studentenbewegung. Da ich alles politische Interesse leugnete, musste ich mich aber dennoch bereit finden, im Ausnahmefall irgendeiner Organisation beizutreten. Am Abend war mir klar, dieweil ich auch viele höchst intelligente Mädchen getroffen hatte, dass ich nicht genommen würde. So blieb ich noch zwei Tage in Hannover, um es wenigstens kennen zu lernen, falls ich nie wieder hinkäme. Ernst nach wochenlangem Warten bekam ich den Bescheid, zum April 1936 angenommen zu sein. Arbeitsdienst war Voraussetzung, wie bei jedem Studium. So ging ich zuerst einmal ein halbes Jahr zum Freiwilligen Arbeitsdienst für Frauen (1935). Wir waren drei Abiturienten, darunter Irmgard Born aus meiner Klasse, die wir, um studieren zu können, nicht so ganz freiwillig da waren. Alle anderen waren echte Freiwillige, die sich für ein ganzes Jahr verpflichtet hatten. Ich kam nach Luisenhof bei Flatow in der Grenzmark, es liegt noch östlich von Schneidemühl und ist jetzt polnisch. Das Lager war in einem alten Gutshof, rundum war das Land an arme Siedler verteilt worden. Die Siedler, sie nannten sich nicht Bauern, bekamen neue kleine Häuser und genug Land, um davon zu leben. Kinderreiche Familien wurden bevorzugt. Im Gutshaus war noch ein Stall, ein Kuhstall, der den ehemaligen Gutsbesitzern gehörte. Das Lager war noch nicht lange dort, sodass wir uns erst einrichten mussten. Ich war viele Wochen im Lager, weil sich kaum einer auf die Malerleitern getraute. Mit Tora Fiege, die ständig dort war, die mich auch später in Berlin besuchte, tapezierte und malerte ich, andere bauten aus Wagenrädern und Brettern Tische und Sitzmöbel. Umschichtig hatten wir zu Zweit Waschdienst, dieser dauerte eine Woche lang. Es begann mit dem Kochen und Waschen aller Bett- und Tischwäsche und der Arbeitskleidung aller Mädchen. Das Auswringen der großen Stücke konnten wir nur zu  Zweit bewerkstelligen. Alles wurde noch auf dem Waschbrett gerubbelt. Endlich wurde alles im Freien aufgehängt und zuletzt gebügelt. Wir hatten Schwenkeisen, die mit glühender Holzkohle gefüllt wurden. Wenn man das Schwenken zwischendurch vergaß, ging die Kohle aus. Am Sonnabend musste alles fertig sein. Doch wir waren viele, sodass ich in dem halben Jahr zweimal mit Waschen dran kam. Sonst ging ich zum Siedler. Da war ich zuerst bei Hoffmanns mit vier Kindern und später bei Erdmanns mit zwei Kindern. Schon am ersten Tag, ich kam im Sommer, fuhr ich mit Herrn Hoffmann zur Roggenernte aufs Feld. Die Garben waren schon gebunden. HErr Hoffmann wollte mich gar nicht nehmen, weil das vorige Mädel groß und stark war und er von mir nichts erwartete. Aber ich bat ihn sehr, es mit mir zu versuchen. Nun, draußen stieg er auf den Wagen zum Packen; ich sollte ihm mit der Gabel die Garben zureichen. Schwer waren die großen Roggengarben, aber zunächst ging alles gut bis der Wagen bis zum Rand voll war. Dann wurde es immer höher, ich konnte die Garben kaum bis hoch langen und musste alle Kraft zusammennehmen. Als dann noch ein Wind aufkam, hat er mir manche Garbe abgetrieben. Doch schließlich haben wir es geschafft, ich war dünn, aber zäh und voller Willenskraft. So habe ich noch manche Fuhre mitgeladen, auch dann mit gebunden, es ging alles noch mit der Hand. Die Männer mähten mit der Sense, die Frauen gingen hinterher und banden die Garben, nachdem sie sich aus dem Korn selbst die Schnüre gedreht hatten. Die Garben durften auch beim Hochgabeln nicht aufgehen, aber mussten beim Dreschen mit einem Griff zu lösen sein. Dann wurden sie zu Puppen aufgestellt, selbst das war nicht so einfach, denn sie durften auch bei starkem Wind nicht umfallen. Aber mir hat alles dies viel Freude gemacht. Die Knierutscherei bei der Kartoffelernte war schon schlechter, wo man hinter dem pflügenden Pferd mitkommen musste. Die Hauptmahlzeiten nahmen wir im Lager ein. Die Siedler waren sehr arm. Aber ihre Ehre verlangte es, dass wir auch mitaßen, wenn wir mitarbeiteten. So ist es kein Wunder, dass wir unmöglich zunahmen trotz schwerer Arbeit, wenn wir zweimal essen mussten. Der Morgen begann im Lager mit einer Flaggenparade, der Tag endete mit dem Einholen der Flagge. Morgens war dann Frühsport und Frühstück, ehe wir zum Siedler gingen. Die Arbeitskluft waren orangene Kittelkleider, dazu Windjacken und Kopftücher. Die Ausgehuniform war olivgrün mit ziemlich langem Glockenrock, weißer Bluse, runder Arbeitsdienstbrosche und olivgrüner Jacke, eigentlich ganz kleidsam. In der Nähe des Lagers war der Gursener See, wo wir baden konnten. Zum Tanz gingen wir gemeinsam in das nächste Dorf. Eigentlich gingen wir nie, wir marschierten immer, möglichst mit Wimpel. Der Tanz war lustig; die Bauernbuben tippten einen ziemlich doll mit dem Finger auf den Rücken, einen Tanz abzuschlagen war unmöglich. -

Zwischendurch hatten wir theoretische, landwirtschaftliche Belehrungen, z.B. über Schweinezucht, Bienenzucht oder dergleichend, und da lernte ich auch an einem Gummieuter das Melken. Ich bekam einen Melkschein als geprüfter Melker. Mir machte es Spaß, so ging ich noch lange in den großen Kuhstall des Gutes zum Melken. Natürlich gab es auch politische Schulung und Zeitungsbericht, letzteres meistens uns Abiturienten aufgehalst. Zuerst schlief ich im großen Schlafsaal mit dreißig bis vierzig Betten. Dann habe ich mich langsam in ein kleines vierbettiges Zimmer eingeschmuggelt. Dort konnten wir heimlich manchen Budenzauber veranstalten. Wir waren alle Berlinerinnen. Ich denke gerne an meine Arbeitsdienstzeit zurück, besonders aber, weil ich dort mit viel Freude erstmalig die Landwirtschaft und ihre Arbeit kennen lernte. Meine Eltern besuchten mich mehrere Tage. Sie wohnten bei einem Siedler und aßen mit bei uns. Vater hatte schnell Kontakt zur Küche und fand alles wunderbar. “Arme Ritter” war zu Hause noch lange unser Arbeitsdiensterinnerungsessen. Das sind aufgeweichte halbe Brötchen mit Vanillesoße.

Da der Arbeitsdienst nur ein halbes Jahr dauerte, ging ich die andere Jahreshälfte in eine Haushaltsschule. Solche waren neu eingerichtet für Mädchen nach der achten Klasse, so als neuntes Schuljahr mit Praxis. Die praktischen Fächer waren das Wichtigste, aber auch richtiger Unterricht in Deutsch, Mathe, Geschichte, Erdkunde und Biologie gab es. Ich war so quasi Gast und nahm nur an den praktischen Fächern teil, als da sind: Kochen, Waschen, Putzen, Bügeln, Einmachen und was weiß ich noch. Es gehörte eine Praxis in einem Säuglingsheim von vier Wochen dazu, die ich sehr gerne mitmachte. Abends ging ich noch zu einem Gaskurs für Kochen, der von der Gasgesellschaft kostenlos veranstaltet wurde. Es war ein Witz, wo ich auch hinkam, auch später in Hannover, immer lernte ich zuerst “Königsberger Klopse”.

Diese beschriebenen fünf Jahre Berlin waren die einzige Zeit, wo ich dann auch außer an Omchens Geburtstagen mit der Verwandtschaft in Berührung kam. Ini der Urbanstraße, wo heute noch Tante Lizzi wohnt, wohnten damals Oma Bluth, Onkel Kurt und Tante Lizzi, die beiden jüngsten Kinder von der Oma, beide ledig. Tante Lizzi, früher Kunstgewerblerin, verwaltete die beiden Häuser ihrer Eltern, Onkel Kurt hatte Opas Geschäft übernommen. Das war nun eine Eisenwarenhandlung am Spittelmarkt. Unweit der Urbanstraße am Südstern wohnten Perings: Tante Dora, Omas drittes Kind, Onkel Hans, Ingenieur, und zwei Töchter: Gretel und Hilde. Cousine Gretel starb bei ihrem ersten Kind und Cousine Hilde ist in Amerika, West-Virginia, verheiratet. Beide waren etwas jünger als wir. Wir trafen uns eigentlich hauptsächlich zu Familienfeiern. Noch etwa in unserem Alter waren Hellwigs Kinder: Lotti und Hans-Werner, entfernte Vettern, Kinder von Tante Trude, geborene Einwald. Dann wohnten in Zehlendorf noch Kaufmanns, Onkel Walter war ein richtiger Vetter unserer Mutter, ein Enkel von Poststephan. Tante Käte war zuerst Krankenschwester und hatte ihren Mann als Patienten in einer Nervenklinik kennengelernt. Obwohl Tante Käte wusste, dass Walters Mutter zwanzig Jahre in einer Nervenklinik zubrachte, der Bruder Selbstmord beging, als er einen wiederholten Anfall spürte und eben Walter auch krank war, heiratete sie ihn, um ihn durch ihre Art und ihr frisches Blut zu retten. Onkel Walter hatte nie einen Rückfall, sie hatten zwei gesunde Kinder. Der Sohn fiel im Krieg, die Tochter hat wiederum vier gesunder Kinder. Das alles sollte uns nachdenklich machen, hoffnungsvoll, wo wir manchmal keinen Ausweg wissen. - - Dann waren da Onkel Max und Tante Klärchen Sobotta, die wir besonders liebten. Sie hatten drei Kinder; alle verheirateten sich mehrmals und hatten kein gutes Ende, obwohl sie es doch zu Hause so gut, vielleicht viel zu reich und üppig hatten. Onkel Max hatte als Anstreicher begonnen, er war dann anerkannter Schlossmaler und hat im Berliner Schloss manche Stuckdecke gemacht. Tante Klärchen hatte das Geld in die Familie gebracht. Sie war klein und äußerst zart. Bei Sobottas waren wir gerne. Sie hatten damals schon ein Federballspiel mit richtigen Federn. Alles war dort fürstlich, die Bedienten standen hinter den Stühlen. Aber nach Tisch wusch Tante Klärchen die Bestecks selber ab. Tante Klärchen hatte zwei Brüder, die nacheinander dieselbe Frau, Tante Grete, heirateten. Der erste Bruder Prächtel starb elendiglich an Syphillis, aus Erbarmen mit der Grete, die das viele Jahre miterlebt hatte, heiratete der Bruder Fred sied. Sie hatten einen Sohn, Onkel Gustav, mit dem besonders Tante Lizzi viel zusammen war. Auch unsere Mutter war früher oft und gerne auf ihrem mecklenburgischen Gut.

Von Vaters Verwandtschaft war da nur Onkel Ernst, sein Bruder. Er war kurze Zeit verheiratet, aber geschieden und lebte als Junggeselle in Wilmersdorf, unweit von Hallensee. Die Cousine Sophie führte ihm lange den Haushalt. Sie lebt heute noch in Hamburg, wo sie mit einem Schiffskoch verheiratet war.  Onkel Ernst hatte einen Dackel, für den überall Hundedecken auf dem Sofa und auf den Sesseln lagen. Im Winter bekam er ein Hundegewand an, um draußen nicht zu frieren. Im Musikzimmer standen nur der Flügel und das Harmonium, dazu zierliche Rokokomöbel für zarte Gespräche und Musikdarbietungen. Flügel und Harmonium erbten wir später. Zusammen mit Onkel Ernst sah ich in der Oper in einem Konzert Richard Strauß eigene Werke dirigieren;  unter anderem die “Domestique”. Es war ein besonderes Erlebnis, den alten Herrn Strauß zu beobachten, wie er ganz ruhig mit knappsten Bewegungen den Taktstock hob und senkte und doch aller Musiker Augen an ihm hingen. Ein Vetter von Vater war Onkel Gustav Huth, der als Junggeselle mit seiner Mutter, Tante Lieschen, zusammen wohnte. Von Tante Lieschen bekamen wir die große Puppe mit dem Lederbalg und dem Wachskopf und kostbare Garderobe dazu. Heute sehe ich zuweilen solche Puppen in nostalgischen Basaren, sie sind wieder sehr gefragt. Im Altertal hatten wir sie noch. Aber von all´ der Verwandtschaft müsste Tante Lizzi erzählen, ich habe mich nie um sie gekümmert und werde die Zusammenhänge nie ganz hinkriegen. In welchem Lebensabschnitt auch immer, ich hatte so viele gute Freunde, dass ich da voll ausgefüllt war.

Die Berliner Zeit ist zu Ende. Noch einmal kam ich zur Olympiade 1936 länger nach Hause. Ich machte da ein Ferienpraktikum in Teltow und konnte so an einigen Wettkämpfen teilnehmen. Da ich in Hannover im Sportseminar war, fuhren wir schon vorher zum Beobachten des Trainings mit unserer Dozentin nach Berlin. Als dann die Olympiade selbst war, kam noch Talea, eine Mitstudentin, mit zu meinen Eltern. Viele unserer früheren Freunde, auch Dorle, waren Helfer und Platzanweiser oder Dolmetscher, so hatten wir eine bestimmte Route, wo wir mit einmal gelösten Karten durch fünf oder sechs Sperren immer durchkamen. In den Bänken schob man sich dicht zusammen; manches sah ich auch vom Stehplatz aus, das war einfach ein schräges Rasenstück. Die Berliner waren so ausgelassen froh damals; wir drängelten uns in der Hitze auf den Rasen und sangen und machten Witze. Wenn es anfing, setzten sich alle auf Kommando hin, und jeder konnte genauso sehen wie zuvor und besser und hatte einen Sitzplatz. Die Stimmung war so besonders gut, weil wir alle glaubten, dass der Sport wirklich etwas Völkerverbindendes habe, dass alle Feinde und Hassgefühle dort begraben werden könnten im ehrlichen Wettkampf. Welcher Jubel brach aus, als die Erzfeinde, die Franzosen, einmarschierten, und das bestimmt ganz von Herzen und ehrlich. Im Handballspiel sah ich Österreich gegen Deutschland. Da waren wir hin und her gerissen, weil doch alles Deutsche waren. Und in der Leichtathletik erstaunten wir über die enormen Leistungen der amerikanischen Neger, die viele Goldmedaillen für die Amerikaner holten. Unser ganz großer Star war Gisela Mauermeyer, die mehrere Goldmedailen bekam. Wir überlegten, ob sie noch jemals ganz Frau sein und Kinder kriegen könnte bei den Muskelverhärtungen. Als die abgekämpften Marathonläufer mit Nurmi an der Spitze einliefen, fand ich es schon damals eine Herausforderung. Noch lange kamen völlig erschöpfte Läufer, die kaum beachtet wurden, nachdem die Sieger durch waren. Was war daran noch Sport? In Grünau sah ich die Ruderwettbewerbe. Aber bei allem war für uns nicht die Leistung das Entscheidende, sondern die Stimmung, der versöhnende befreiende Geist, der alle verband. Es ist mir bis heute unfaßbar, dass nur drei Jahre danach der Krieg ausbrach, und ich halte es bis heute für unwahr, dass es da einen Völkerhass gab. Trotz aller Propaganda vom Untermenschen im Osten haben wir Deutschen doch die Polen und ganz besonders die Russen sehr geschätzt. Ist nicht fast alle russische Literatur ins Deutsche übersetzt worden, haben wir nicht russische Lieder gesungen, russische Tänze getanzt und fühlten wir uns nicht mit der russischen Volksseele tiefer verbunden als mit vielen westlichen Menschen. Nun wird es nicht so schnell wieder so werden. Nicht nur der Krieg, auch die Politik seitdem und die weltanschauliche Hetze verwehren den Zugang zum anderen Menschen. Auch die Olympiaden heute sind anders; das Politische wird immer stärker hereingezogen, und das Geld spielt auch eine zu große Rolle. Gewiss hat Hitler damals auch aus Prestigegründen alles so großartig gerichtet, aber was dann geschah, war ein großes Aufeinanderzugehen; jeder war so von Versöhnung durchdrungen, es war schon eine beglückende Atmosphäre, und wir waren stolz, dass dies bei uns stattfand. Aber der Krieg hat alles zugeschüttet, der Hass selbst im eigenen Land von Mensch zu Mensch scheint zu beweisen, dass damals alles nur Farce war, Hochmut selbst als Friedensstifter, verbrüdernder Schein nach außen, bewusste Irreführung. Es ist im Nachherein so unsagbar traurig, dass wir damals so jubelnd waren, so sicher, so stolz. Heute müssen wir uns unseres Stolzes schämen. Hoffentlich braucht Ihr das nie!

 

3. April 1984.

Zwei Jahre in Hannover. (1936-1938)

Über zwei Jahre ist alles liegengeblieben, vielleicht weil soviel zu Verschweigendes in meinem Leben war, was ich gerne ruhen lassen wollte. Ich bin weder für Vergangenheitsträumerei noch für Zukunftsängste oder – träume. Heute, jetzt ist unser Leben, worauf es alleine ankommt. Abe rnun hat sich etwas ereignet, was mir sagt, dass doch Erfahrungen am eigenen Leibe manchmal nützlich sein können, wenn jemand in eine ähnliche Situation kommt. Wir leben ja sowieso von den Erfahrungen, die unsere Vorväter gemacht haben, sonst müssten wir alle zuerst einmal wie Robinson Cruso alleine auf einer Insel sein. Deshalb interessieren mich auch die Griechen, die Babylonier, die Hebräer, weil wir geistige Nachfahren sind. Und alles, was sich bei uns hier in „Germanien“ im Mittelalter bis jetzt abgespielt hat, ist doch ein Verschmelzen mit den alten Kulturen und mit denen aller Nachbarvölker. Vor der Zeit der schriftlichen Dokumente wurde alles vom Großvater dem Vater und dann dem Sohne und dessen Familie erzählt. Keiner lebte für sich und für seine eigene Höherentwicklung. Wer sein Wissen und seine Erfahrungen vermehren konnte, gab dies weiter. Ich habe  zwar keine großen Weltreisen gemacht wie meine Freundinnen, ich habe nichts erfunden, ich habe es in nichts zur Perfektion gebracht, aber ich habe ein reiches Innenleben gehabt und alles Kleine meines Erlebens mit zu mir hineingenommen. Drum bin ich so geworden, wie Ihr mich kennt.

So habe ich also den Mut gefasst, doch noch weiter aus meinem Leben zu erzählen.

Es folgt die Zeit des Studiums in Hannover, wobei das Studium gar nicht das Wichtigste war. Es war April 1936, als wir alle anreisten, immatrikuliert wurden und wer eins hatte, sein Zimmer bezog. Ich hatte keins, Voraussicht und Vorsorge war nie meine Sache. So tat ich mich mit Talea zusammen, und wir mieteten eine  Zweizimmerwohnung; im Schlafzimmer hatten gerade zwei Betten längs hintereinander Platz, das Wohnzimmer war schon ein bisschen groß mit Balkon. Der Balkon wurde später unser Hauptaufenthaltsplatz, aus Margarinekisten mit dunkelrotem Rupfen bezogen bauten wir unsere Balkonmöbel. Als ich an diesem ersten Tag meinen Koffer vom Bahnhof holte, fand ich die Straße nicht wieder und irrte mit meinem schweren Koffer umher wie bekannt ohne Orientierungssinn. In der Hochschule wurden wir rein alphabetisch in Gruppen eingeteilt, ich kam zur letzten Gruppe. Da war nur eine mit „T“, das war Ursel Tebbe aus Clausthal-Zellerfeld, dann alles fast mit „W“, nur zwei mit „Z“. Talea Weitekamp, Lieselotte Wilcke, Barbara Wischnath, wir waren mit „W“ dabei.  Unsere Betreuerin war die Sportdozentin Anne Faltin, mit der wir, ungefähr vierzig Studentinnen, dann auch gleich nach Worpswede reisten. Dort wohnten wir in der modernen Jugendherberge, sollten uns gegenseitig kennen lernen, dann Land und Leute und unsere ersten Unterrichtsversuche in den umliegenden Dörfern machen. Wir waren uns alle fremd, aber am ersten Abend fanden sich Bärbel, Ursel, Talea und ich zusammen und gingen zur Hamme, dem Flüsschen unweit der Herberge. Dort saßen wir dann an der Uferböschung, erlebten den Sonnenuntergang und die im Dämmerlicht fast gespenstisch reizvolle Landschaft. Die Flußniederung war zart vernebelt, die Sträucher und Bäume noch mit ersten Knospen, das fast stille Wasser, die Brücke mit dem Aufbau zum Hochziehen für die Durchfahrt der Moorkähne, nirgends Menschen - - und wir uns noch fremd und doch sonderbar nahe vom ersten Augenblick an. Wir saßen lange bei leisen Gesprächen, veraßen die Zeit, die Jugendherberge, die anderen Kameradinnen. Wir waren eingefahngen in das Fluidum von Worpswede, ganz dem Augenblick hingegeben. Alle Angst vor dem beginnenden Studium verflog vor dieser Stimmung in dieser Gemeinschaft. Spät kerhten wir zur Jugendherberge zurück, wo aber alles verrammelt war. Oben war ein Fenster erleuchtet. Durch ein vorspringendes Dach konnten wir da hinauf klettern und klopften ans Fenster, als wir bemerkten, dass unsere Dozentin dahinter hauste. Sie tat zuerst ernst, war nie böse, lud uns ein zu einem Getärnk und einem Eierkuchen, einem winzigen, wovon wir dann alle zu einer anderen Seite abbissen. Wir erzählten noch lange miteinander, Anne Faltin verstand uns nur zu gut. Von da an ging sie jeden Abend mit zur Hamme. War das Romantik? Das Ungewöhnliche und die Schönheit der Landschaft hatten uns einfach verzaubert. Da waren wir ja nicht die Ersten. Worpswede ist weltbekannt als Künstlerkolonie. Schon vor 1900 entdeckte es der Maler Fritz Mackensen, der bald seine Malerfreunde nach sich zog wie Otto Modersohn, Hans am Ende, Fritz Overbeck und Heinrich Vogeler. Später kamen noch viele andere, deren bekannteste sind Paula Modersohn-Becker, der Bildhauer Hostger, Walter Bertelsmann und Carl Vinnen. Wir durften nun diese Landschaft erleben mit den frisch-grünen Birken, in denen sich alles Frühlingshafte zeigte, mit dem hervorsprießenden Gras und vor allem mit den tiefklaren Bächen, worin sich Bäume und Wolken ganz klar spiegelten. Worpswede liegt zwar nur zwanzig Kilometer von Bremen entfernt, war aber damals noch unberührte Natur. Sehr reizvoll war das Teufelsmoor. Dort wurde der Torf noch mit der Hand gestochen von Moorbauern oder Strafgefangenen. Die Gegend wirkte braun in braun, aber von kleinen Gewässern, Brückchen und zarten Birken unterbrochen. Das Land war wie das Meer, alle Tage anders, aber es gab nie Farbgegensätze, es fügte sich alles ein in das Bräunliche oder in das Mattgrüne. So wie die Bilder aller dieser Maler lebensbejahend, aber melancholisch sind. Das ganze zarte Frühlingsmäßig hat wohl Vogeler in seinen Jugendstilbildern nur getroffen. Nachdem wir die Landschaft erlebt hatten, reizten uns die Maler. Die Angehörigen wohnten zumindest noch dort und bewahrten ehrenvoll das Erbe. Die Häuser waren offen, und schon im Flur standen die Bilder von Overbeck, Mackensen und Hans am Ende und anderen. Sie waren nicht verkäuflich, sie schienen nur da zu sein, um andere teilnehmen zu lassen, vielleicht um anerkannt wzu werden, oder nur um anderen Menschen Freude zu bringen? Bei Vogeler war es anders – er selbst war in Rußland – die Töchter lebten dort. Die Bilder hingen so in den Stuben, wie sie zu Vogelers Zeiten hingen. Fast immer war es ja seine Frau, die etwa lebensgroß an einer Birke lehnte, was im Raum einfach ein Stück der Wohnzimmerwand war.

Nicht nur die Natur war reizvoll, auch das Dorf Worpswede selbst. Es waren niedersächsische Bauernhäuser mit den Doppelpferdeköpfen am Giebel, mit der großen Tenne, gleich hinter dem Tor. Das Tor war groß mit verzierten Rundbogen, zugleich Eingang für Mensch und Vieh, denn alle wohnten unter einem Dach. Wir waren in vielen Bauernhäusern, weil wir für unseren Volkskundeprofessor über die Ahnen der Bauerngeschlechter forschen sollten. Ich hatte die Gräber als spezielle Aufgabe, denn vieles ließ sich aus den alten Grabinschriften erlesen. Riethdächer, man nennt sie bei uns Strohdächer, waren noch überall. Besonders reizvoll war das Haus von Nikolaus Bötger, wo alles Holzwerk wie Türen, Fensterrahmen, Zaun  und Fachwerkbalken grün gestrichen waren, dazu rotes Backsteinmauerwerk. Die Tochter Sophie war auch eine Malerin. Sehr im Gegensatz dazu war die Gegend um und auf dem Weyerberg, der höchsten Erhebung Worpswedes. Der Bildhauer Bernhard Hoetger hat dort alles gestaltet. Der „Niedersachsenstein“, ein riesiges weithin sichtbares Backsteindenkmal, ist in der Form eines Siegesadlers geformt, allerdings nicht natürlich, sondern dem Backstein entsprechend kantig; da dann kein Sieg war, wurde es ein Gefallenendenkmal. Überall im Park stehen Plastiken von Hoetger, so auch der dickbauchige Lachende, der uns wie ein Buddha anmutet. Im Künstlercafé, was auch von Hoetger gestaltet wurde, waren wir oft Gäste. Da ist kein Stein gerade auf dem anderen, überall Spielereien mit den roten Backsteinen; auch drinnen alles schief und „modern“, kaum passend zu den so naturverhafteten alten Worpsweder Maldern. Hoetger hat auch für Paula Modersohn-Becker das Grabmal gefortmt, eine übernatürlich große, halb liegende Frau mit Kind, denn Paula, die Frau von Otto Modersohn, starb mit 31 Jahren bei der Geburt ihres ersten Kindes. Sie liegt dort am Weyerberg auf dem Friedhof hinter der Zionskirche begraben. Sie ist die bekannteste Malerin Worpswedes, die einen ganz einzigartigen neuen Stil brachte. Einen Maler lernte ich dort persönlich kennen, weil ich mich mit seiner Tochter in meinem Alter anfreundete; das war Bertelsmann. Ich durfte mit hinausgehen, wenn er mit der Staffelei draußen malte. Seine Frau war Porzellanmalerin, die Tochter noch in der Klavierausbildung, alle ganz schlichte liebe Menschen. In Hamburg in der Kunsthalle sah ich später noch Seestücke von Bertelsmann.

Wo Maler sind, kommen auch andere Künstler  hin. Wir besuchten Manfred Hausmann in einem großen modernen Haus am Randes des Dorfes. Wir mussten am Eingang alle die Schuhe ausziehen, wofür Regale dastanden, und kamen in einen Raum mit Kissen auf der Erde, worauf man sich setzte. Die eine Wand war ganz Gemälde eines Worpsweder Malers. Am Fenster saß Hausmann noch ganz jungenhaft und schlaksig an einem kleinen Tisch mit Stehlampe  und las und erzählte. Wir kannten alle nur ein Buch „Lampioon küsst Birken und kleine Mädchen“.

Auch bei Scharrelmann, einem Heimatschriftsteller, waren wir; dort saßen wir in niedriger Stube auf Stühlen am Kamin, als er uns vorlas. Eugenie von Garvens lebte damals in Worpswede und las uns auch aus ihren Werken. Bei Rilke könnt Ihr das vieles nachlesen, denn er war zu Paula Modersohns Zeiten viel dort und heiratete deren Freundin, die Bildhauerin Clara Westhoff. Schon damals hatte Roselius, ein Bremer Kunstmäzen, am Fuße des Weyherberges ein Haus gebaut, wo man Bilder ausstellen konnte. Heute birgt dies von allen Künstlern des alten Worpswede einige Bilder neben vielen neueren, denn noch immer ist Worpswede ein Anziehungspunkt für Maler und Kunsthandwerker, für Bildhauer und Schriftsteller. Damals war auch ein Musiker dort wohnhaft: Ernst Licht, der Komponist des Liedes „Grün ist die Heide“, wir brachten ihm eines Abends ein Ständchen. Viele Schriftsteller wechselten nach dem benachbarten Fischerhude, wo wir auch damals zu Dritte einen Schriftsteller besuchten, dessen Name mir entfiel. Er zeigte uns seine Gartenlaube, wo er fast alle seine Werke geschrieben hatte und interessierte sich für unser aller Leben. – Neben allen Ausflügen und Besuchen mussten wir aber auch alle Tage früh  zur Schule nach Worphausen; wir vier waren alle an derselben Schule.  Ich hielt nur eine Stunde, Ich bekam bei einer an sich einklassigen Schule das erste Schuljahr. Keiner der Kleinen konnte ein Wort hochdeutsch, ich dagegen kein Wort plattdütsch, so wurde es sehr eine lustige Ratestunde, aber ich habe mich dann geweigert, dort je wieder zu unterrichten und habe nur im Hof mit den Kindern herumgetobt. Als ich vor drei Jahren mit Ursel Dehring (ehemals: Tebbe) dort war, wohnten wir im Gasthof gegenüber der Worphäuser Schule, erinnerungsträchtig. - - Heute ist vieles für Touristen modernisiert. Die alte Mühle neben der Jugendherberge steht noch, der Weyherberg ist noch wie einst. Bei Heinrich Vogeler sind noch die beiden Töchter da, die eine hat eine Webschule, die andere vermietet  Zimmer und zeigt die Wohnräume der Eltern.

In unserer Worpsweder Zeit 1936 bereitete uns nun Anne Faltin zum Studium vor, indem sie uns von ihrem Lebensstil etwas mitgab. Dazu gehörte gesundes Leben, sich pflegen und schönmachen; beispielsweise abends nie künstliche Blumen anstecken, sondern echte, duftende. Als ihre Freundin, die Werkdozentin, kam, suchten wir auf den Wiesen allerlei eßbares Grünes, auch Stiefmütterchen und Spitzwegerich, was wir dann unter die Butter mischten. Zum Blutreinigen empfahl man uns rohes Sauerkraut, in  Hannover aßen wir das dann auch aus der Tüte auf der Straße. Bei einem Ausflug nach Bremen konnten wir einer Schiffstaufe beiwohnen und besuchten vor allem die Böttgergasse. Dort hat Hoetger die Häuser im Stil des Künstlercafés von Worpswede entworfen. Ein Haus ist Kunstausstellung der Worpsweder. Die winzigen Gassen dort, wo kein Auto fahren kann, erfreuen sich heute wieder besonderer Beliebtheit mit ganz kleinen stilvollen Cafés und Boutiquen, sowie Antiquariaten und Kunst in jeder Form. In der Erinnerung kommt mir die Zeit so lange vor. Es war ein Monat, dann begann das Studium in Hannover.

Wir waren froh, dass wir in der Zeit dort sein konnten, wo es Hochschule war und nicht Seminar wie vorher lange und später wieder. So hatten wir studentische Freiheiten in der Wahl unserer Professoren. Gewisse Fächer waren Pflicht während der ganzen vier Semester, als da sind: Deutsch, Biologie, Volkskunde, Erziehungswissenschaften, Geschichte der Erziehungswissenschaft, Sport, Musik, Zeichnen und Werken. Dazu ein geisteswissenschaftliches Fach, ein naturwissenschaftliches und ein künstlerisches. Damit man da von vielen Fächern war mitkriegte, konnte man in jedem Jahr wechseln. Religion war wahlfrei. Für ein Wahlfach musste man sich gleich entschließen, ich hatte Sport mit Bärbel und Ursel zusammen. Unterricht auf einem Instrument war Pflicht.  Ich wählte mit Bärbel die Orgel, und wir mussten dann als bewegliches Instrument noch die Flöte dazunehmen. Sonst gab es allerlei Arbeitsgemeinschaften. Die Vorlesungen waren im großen Hörsaal, denn wir waren allein in unserem Semeser 250 Mädchen. Übungen fanden in kleineren Räumen statt, die alle eine halbkreisförmige Fensterfront hatten. Es gab gutes Licht, brachte der Hochschule aber den Spottnamen Konservenfabrik ein. Wir wählten, schrieben uns ein  und sondierten dann schnell. Biologie bestand in der Hauptsache in Vererbungslehre und Rassenkunde, wo zwar jeder geprüft wurde und viele durchfielen, wo ich aber trotzdem nie hinging, weil ich das alles in der Schule schon hatte und weil der Dozent wie Goebbels aussah und sich benahm. Volkskunde war auch Prüfungsfach, aber die Gebräuche der verschiedenen Landstriche interessierten mich überhaupt nicht. Geschichte der Erziehungswissenschaften mache ein Dozent nach Buch, kaufte ich mir das Buch. Diese drei Fächer sparte ich mir also schon. Bei manchen anderen wechselten wir uns ab und schrieben gute mit für die anderen. Wichtig war, oft Vorträge zu übernehmen und persönlichen Kontakt zu den Dozenten zu bekommen. Das war für uns Sportler nicht schwer, denn alle wurden eingeladen, wenn etwa die Ruderboote eingeweiht wurden, wenn wir ein Handballspiel mit Gästen hatten oder bei sonstigen Sportveranstaltungen. In Religion waren sehr gute Dozenten, die auch nachmittags Kolloquien abhielten. – Da scih nur drei Mädel zum Tennis meldeten, hatten wir alle Trainerstunden für uns. Dies waren um sechs Uhr früh vor den Vorlesungen, wozi wir dann unsere Trainer oft erst aus dem Bett hlen mussten. Auch Waldlauf war in der Frühe und  Handball. Danach wurde heiß und kalt geduscht, und wir waren fit zum Hören. Im Winter machten wir viele Skilehrgänge im Harz mit, im Sommer ruderten wir auf dem Maschsee. Das taten aber alles nur wenige, die meisten büffelten emsig. Mittags hatten wir zuweilen genug Zeit, in die Mensa zu gehen, die wir mit der tierärztlichen Hochschule gemeinsam hatten. Aber das Anstehen behagte uns nicht, es war auch verhältnismäßig teuer dort. So gingen wir lieber in die Stadt, wo es billige Fischlokale gab und kleine Kneipen mit Eintopf oder Suppe soviel man wollte. Wenn uns die Zeit nicht langte oder das Geld knapp war, kauften wir uns beim Bäcker Rumkugeln zu fünf Pfennigen das Stück. Von zwei Kugeln war man den ganzen Tag satt. Wir aßen nur billigste Margarine, Quark, rohes Gemüse, bei Radieschen zum Beispiel aßen wir am ersten Tag die Radieschen aufs Brot, am folgden Tag die Blätter in Margarine gemischt. Aber dafür gingen wir öfter schön aus. Im Café Kröpke, was es heute noch gibt, bestellten wir eine Tasse Kaffee und aßen dazu langsam die vielen Würfelzucker auf, die immer in größeren Gefäßen auf dem Tisch standen. Wir gingen in jede Theateraufführung, in jede Oper. Prosveniumloge im obersten Rang, wo wir zwar nur die halbe Bühne sahen, aber dafür auch noch hinter die Kulissen. In der Pause allerdings wandelten wir im ersten Rang. Wir besuchten auch viele Konzerte  und Vorträge, nur das Kino war uns zu teuer, weil wir dort keine Ermäßigung bekamen. Wir gingen auch zur Studentengemeinde, wo es immer Tee gab. Elisabeth Hahn machte das sehr interessant, sie wurde ja später in kirchlichen Kreisen recht bekannt.

Sonntags fuhren wir mit dem Fahrrad an das Steinhuder Meer und gingen dort oder auch in Hannover baden. Viele Pferderennen sah ich in der Eilenriede. Manchmal trampten wir auch nach Berlin, etwa zu einer Loheland-Aufführung (Eurythmie) oder nach Travemünde zum Baden oder mit Talea zu deren Eltern nach Hagen in Westfalen. Anne Faltin war uns alle die Zeit eine gute Ratgeberin, fast Freundin. In den Ferien hatten wir zwar auch Semesterarbeiten zu schreiben, aber uns wurde auch manches angeboten. Im Sommer war ich in der Erntehilfe in Pommern, wo ich nun alles gebrauchen konnte, was ich im RAD (Reichsarbeitsdienst) gelernt hatte. Bütow hieß es wohl, damals ging die polnische Grenze gleich am Dorf vorbei. Man merkte es nur daran, dass dort die Buchweizenfelder begannen. Solche Halbpolen kamen abends mit zu meinem Bauern, wo wir dann manche lustige Stunde hatten. Drei Heiratsanträge bekam ich so als zukünftige Bäuerin, nicht zu glauben bei mir Städter. Meine Bäuerin war aus der Stadt und ging nicht mit auf das Feld. Da war ich immer mit dem ziemlich alten Bauern draußen, und wir schufteten ehrlich. Auf den Gerstenfeldern wuchsen mehr Disteln, aber wenn man erst einmal angefangen hatte zu binden und die Disteln so richtig fest in die Arme nahm, dann ging es, nur eine Pause durfte man nicht machen. Abends sah man allerdings schlimm aus. Wenn wir nach Hause kamen, melkten wir die Kühe, weil die Frau auch nicht in den Stall ging; die kleine zehnjährige Tochter, die melkte schon mit. Dann war noch zu zentrifugen und im großen Faß zu buttern. Wir haben uns alle gut verstanden: Bauer, Bäuerin, Sohn, Tochter und ich. Abends wurde oft noch gefeiert mit Nachbarn und diesen Polen.

Mit letzter Kraft half ich noch einen Brunnen zu bohren. Eigentlich sollten wir ja so etwas wie Kulturbringer sein, aber die andern waren immer eine ganze Gruppe an einem Ort. Ich allein habe halt abends lustig mit allen gesungen.

Einmal in den Ferien durfte ich an einem Segelflugkursus in Grünau im Riesengebirge teilnehmen. Wir waren drei Mädchen von unserer Hochschule, alles andere Jungens von anderen Hochschulen. Bei den Anfängerkisten saß man ganz frei an einen senkrechten Pfahl angebunden. Die Hände hatten kein Lenkrad, sondern einen Knüppel, womit man die Tragflächen lenken konnte. Dazu kamen Fußsteuer, womit man aber nur nach rechts oder links steuern konnte. Wer zu leicht war, (ich nicht) bekam Backsteine vorne drauf gebunden. Zuerst übten wir im Stand, die Tragflächen behelfs des Knüppels waagerecht zu halten. Um dann vom Stand weg zu kommen, wurden Gummiseile ausgezogen, vorne schräg nach rechts und links, während hinten mehrere den Schwanz festhielten und auf Kommando losließen, das war der Start. Nun hieß es rutschen, das heißt in Vorwärtsbewegung ohne abzuheben solange wie möglich die Tragflächen waagerecht zu halten. Dann kamen Sprünge, aber da geschah es schon. Ich zog den Knüppel zu weit an den Bauch und hob richtig ab. Vor lauter Staunen und Glück machte ich gar nichts, aus Versehen lenkten die Füße nach rechts auf einen Wald zu, bis es krachte, und ich im Baumwipfel hing. Ich blieb da so halb beglückt, halb beschämt, bis alle angerannt kamen. Eine Tragfläche war total  zerbrochen, mir war überhaupt nichts passiert. Der Fluglehrer schimpfte unheimlich, besonders, weil es am Sonntag passiert war. Wir brachten das Wrack in die Halle und mussten nach Hause in die Baracke. Ich bekam zur Strafe drei Tage Startverbot. Am kommenden Tag war heftiger Wind. Nur Freiwillige brauchten zu starten, da gab es nicht viele. Der Fluglehrer sah wohl, wie es in mir kribbelte, denn er fragte mich, ob ich starten wollte, ich hätte doch Erfahrung nun.  Und ob ich wollte! Da bin ich viermal hintereinander gestartet und habe am selben Tag als Erste die C-Prüfung gemacht. Wir immer ist das halt so: Wer nicht wagt, der nicht gewinnt! Und ich glaube, dass ich eigentlich gar nicht mutig bin und mich selber immer erst sehr überwinden muss. Wenn Regentage waren, spielten wir Rugby; das war ein wildes Spiel für uns Mädchen, wenn so alle übereinander auf dem Ball lagen, aber ich muss gestehen, dass ich es sehr gern spielte. Die strengen Regeln sagen mir nicht zu. So ging es mir ja auch beim Rudern im Vierer; wenn ich nicht als Erster saß, fand ich es schrecklich, den Rhythmus der anderen so einfach mitmachen zu müssen. Leider konnte ich die weiteren Segelflugkurse nicht mehr mitmachen, weil dann nur noch Jungens so quasi als vormilitärische Ausbildung zugelassen wurden.

In den ersten Sommerferien 1936 musste ich ein Praktikum in Teltow bei Berlin machen, weil meine Eltern damals noch in Berlin wohnten. Ddas war eine Glücksfügung, denn es war Olympiade, von der ich aber schon in dem Berlinkapitel erzählte. Wir vom Sportseminar waren schon vorher im Trainingslager und konnten dort alles genau beobachten, wir sollten ja daraus lernen. Talea kam dann zur Olympiade auch nach Berlin. Mein Lehrer in Teltow gab mir immer frei, wenn ich dafür am nächsten Tag ihm und allen Kinder meine olympischen Erlebnisse erzählte. Im letzten Jahr hatten wir im Sommer Landschulpraktikum. Ich war in einem Dorf hinter Nienburg an der Weser, Bärbel war im nächsten Dorf. Bärbel hatte das Pech einer einklassigen Schule, dazu oder davon fast täglich Migräne. Ich hatte eine zweiklassige Schulze, also immer nur die Kleinen, Klasse 1 – 4 oder die Großen, Klasse 5 – 8, den anderen Teil nahm jeweilig der Lehrer. Aber das Schönste war, dass dieser Landlehrer ein fabelhaftes Reitpferd hatte. Nun durfte ich zum ersten Mal richtig reiten. Mutig sagte ich, dass ich allein könne und ritt fort in den Wald, über Hecken und Wiesen, aber nicht lange, da schmiss mich das Pferd ab. Es hatte wohl längst gemerkt, was für ein Nichtkönner da auf ihm saß. Als es allein zurückkam, war nur kurze Erregung, denn ich folgte bald auf Schusteres Rappen. Dann bekam ich jeden Nachmittag Reitstunden bei dem Lehrer. Traben, englisch traben, galoppieren, alles ging dann zur Not. Als mich der Lehrer fragte, ob ich mal ein Auto oder ein Pferd haben wollte, war ich sicher, ein Pferd zu wollen. Zur Prüfung meiner Schularbeit kam eines Tages unsere Sportdozentin, Frau Bammel. Leider wollte sie keine Sportstunde sehen, sondern unter anderem ausgerechnet: Physik. Aber alles ging prima, meine kleinen Schüler ließen mich nicht im Stich; sie wussten auf dem Gebiet bestimmt mehr als ich. Bammel war mit eniem nagelneuen Sportwagen gekommen; sie wollte nun weiter zu Bärbel fahren, war noch nicht ganz sicher und fuhr eine ganze Reihe Milchkannen am Straßenrand um. Wie hätte sie uns da schlechte Noten geben können?

 

 

Die beste Zeit.

Das Leben meiner Großmutter,

von ihr selbst erzählt.

 

            Teil 2 

 

 

Auf den Skifahrten in den Harz lernten wir Ursel Tebbes Vater kennen, der ein Ski-As war und uns nun Unterricht gab und herrliche Touren mit uns machte. Eins habe ich ganz vergessen; ich war eine der drei Mädchen, die bei der Aufnahme zum Studium nicht organisiert waren. So konnten wir nun wählen: Partei, NS-Frauenbund oder BDM (Bund deutscher Mädel). Noch eine und ich wählten BDM. Wir begründeten dies damit, dass wir dann unsere Schulkinder besser verstünden, die ja auch alle zum BDM mussten. Wir mussten nun ein Probejahr machen. Ich wurde einer Mädelschaft zugewiesen; nach dem ersten Heimabend sagte die Führerin, dass sie gehemmt sei, wenn eine Studentin dabei wäre.  Ich sollte nicht mehr kommen, sie würde mir trotzdem die Bestätigung der Teilnahme geben. So war ich nie mehr dabei. Aber Bärbel meinte, dass ich mit ihr zusammen mal Sportabende geben könnte. Wir fuhren zwei- oder dreimal weit mit dem Fahrrad in eine Fabrikgegend, aber nie war auch nur einer da. Nur einen Skilehrgang machten wir mit einer Mädelgruppe in Altenau im Harz. Dort betreuten wir sie, bekochten sie und liefen mit ihnen Ski. In den Sommerferien musste ich in ein BDM-Lager bei Hoya an der Weser. Zusammen mit der anderen Berlinerin. Aber wieder erging es uns gut, wir wurden gebeten zu helfen beim Singen, beim Sport, beim Schwimmen, dann hatten wir frei und durften gehen, wohin wir wollten. So kam ich im zweiten Jahr mit 21 Jahren in den BDM, de rnur bis zu 18 Jahren geht. Und dadurch hat es für mich auch später nie eine Rolle gespielt. Ich bin halt ein Sonntagskind.

Unsere zweite Sportdozentin war bewusste Anne Faltin, die hauptsächlich Gymnastik lehrte. Sie war Antrhoposophin und in Loheland in der Rhön bei Fulda ausgebildet. Sie begeisterte mich so durch ihre Art, dass ich auch zu Eva Rexmann (jetzt Viebrock) zu den Gymnastikstunden ging. Wir freundeten uns bald an; sie gab mir Extrastunden für meinen Rundrücken, vergebliche Mühe! Ich ging zur allgemeinen Gymnastik und zur rhytmischen Gymnastik mit Musik. Da auch Frau Faltins Gymanstik noch stark von Loheland geprägt war, konnte ich das bald recht gut und durfte mal als Vierte mit drei Loheländerinnen in Hannover im Theater bei einer Vorführung mitwirken. Einen Sommer meldete ich mich zum Ferienkurs nach Loheland, aber das sollte wohl nicht sein. Am dritten Tag verstauchte ich mir beim Speerwerfen so sehr den Fuß, dass ich abreisen musste. Aber das war eine einzigartige Sache dort; nur Frauen, auch in den Werkstätten kein Mann. Neben der Gymnastik gab es Weberei, Töpferei und Schnitzerei. Dazu hörte ich Vorträge in Biologie und Literatur, wo alles anders als gewöhnt rein vom antroposophischen Standpunkt aus gesehen wurde. Die dortigen Frauen trugen alle ganz weite Kleider, glatte, kurze Haare, sahen alle sehr ähnlich aus. Die Nahrung war vegetarisch. Wir waren im Dorf daneben untergebracht. Ich wohnte bei Katholiken. Als ich bei Gewitter nach Hause kam, kniete die gesamte Familie vor der Ikone und betete. Das hat mich schon beeindruckt, weil ich ja selbst gewitterfurchtsam bin un dmir dies nur als Urangst vor dem Urzorn Gottes auslegen kann; ein Erbteil der Ur-Ur-Urväter. – Als ich das schlimme Bein nun hatte, getraute ich mich nicht nach Hause wegen der Blamage  und fuhr nach Berlin zu meiner Oma, die mir Arnika-Umschläge machte. Dann näherte sich die Studienzeit dem Ende, es kam noch das Stadtschulpraktikum in einer Schule in  Hannover, wo ich gut abschnitt, weil die Kinder sagten, dass sie bei mir am liebsten Unterricht hätten. Da hatte ich gleich gewonnen. Ich zog in der letzten Zeit zu Bärbel Wischnath, weil wir fast dieselben Prüfungsfächer hatten  und alphabetisch immer dicht beieinander drankamen. Da fragten wir uns abends zuvor, rechts und links auf einem Plüschsofa sitzend, alles ab. Anne Faltin besuchte uns, damit wir nicht zuviel lernen sollten, sondern spazierengehen, frisch sein. Sie nähte mit mir mein Prüfungskleid, weil sie sagte, dass der erste Eindruck bei den prüfenden Männern das nette Äußere wäre. Das Kleid war kürzer als bisher gehabt, fing halt mal gerade wieder eine kurze Mode an. Anne Faltin bereitete uns auch auf jeden prüfenden Dozenten vor, sie hatten ja alle ihre Eigenarten. So gingen wir mit ziemlicher Sicherheit, zuweilen Frechheit, in die Prüfung. Zum Glück kannten mich alle irgendwie, obwohl ich bei manchem nie in der Vorlesung war. Beim Volkskundler durfte man einen Prüfungswunsch ins Fach legen, das war großzügig, sonst wäre es für mich schlimm gewesen. Doch dies war der graumelierte, ondulierte Professor aus Erfurt, der vornehm und höflich war und mich bei Gesprächen irgendwo auf der Straße oder im Theater so als gleichwertigen Erwachsenen behandelt hatte, dass ich keine Angst hatte. Nur der Chef hätte mich reinlegen können in dem weiten Gebiet der Erziehungswissenschaften, weil ich wagte, ihm zu widersprechen. Er nahm mich nachher beiseite und sagte mir, dass ich das nie bei Prüfungen tun dürfe. Na, schließlich hatten es Bärbel und ich mit „gut“ bestanden, bei unserem geringen Aufwand fast ein Wunder. Eine Einzige machte es mit „eins“.

Nun waren wir frei, und das Schönste stand uns noch bevor: Mit unseren beiden Sportdozentinnen, Bammel und Faltin, wollten wir vier Studentinnen: Bärbel, Ursel, ich und eine Inge ins Ötztal, um als Abschlusss eine große Skifahrt zu machen. Und das wurde die schönste Skifahrt meines Lebens. Wir fuhren mit der Bahn nach Innsbruck. Dort wimmelte es von SS-Leuten, die ja Österreich „friedlich besetzt“ hatten. Wir bekamen den Auftrag von unseren Dozentinnen, irgendwie bei den SS-Männern unser Geld in Schillinge zu tauschen. Ich weiß nicht mehr wie, aber es gelang uns, so dass wir am folgenden Tag nach Obergurgl weiterreisen konnten. Dort hatten wir ein großes gemeinsames Zimmer, aber die Wirtin wollte Bammer nicht mit hinein lassen, weil sie dachte, sie sei ein Mann mit Herrenschnitt, männlichen Zügen und einer Herrenskihose. Aber das ließ sich ja mit dem Paß beweisen. Wir wollten chic ausgehen, aber mit unseren Skihosen wollten sie uns gar nicht reinlassen. Einige Gäste halfen uns. Zu Hause tranken wir am ersten Abend Brüderschaft, waren wir ja nun nicht mehr Lehrer und Schüler, sondern Skikumpel. Am anderen Morgen war erstes Training, denn wir Mädel waren noch nie auf so hohen und steilen Bergen gewesen, waren wir doch schon in Obergurgl 1927 m hoch. Ich konnte nur mangelhaft skilaufen, lief oben als Letzte los, konnte nicht richtig kurven und lief stracks zwischen allen durch und war weg – mit einem gewaltigen Satz landete ich in einer Schneewehe. Na, das konnte ja schön werden.

Wir ließen alles Gepäck dort bis auf das allernötigste im Rucksack, Zitronen und Backpflaumen zur Gaumenberuhigung, starke Sonnencreme „Tschamba-fi“, die wie eine Schicht die Haut schützte, Sonnenbrille, Skier, Seehundsfelle und Stöcke, und los ging es. Zehn Tage waren wir so unterwegs, jede Tagesstrecke führte von einer Hütte zur nächsten, dazwischen lag nichts, es musste also erreicht werden. Fast jeden Tag wurde ein Dreitausender überstiegen; hoch mit den Fellen gegen den Strich, runter mit Strich in Serpentinen. Da waren: Rotmooskogl 3242 m hoch, Langtaljoch 3025 m hoch, Falschungjoch 3316 m hoch, Schafkogljoch 3400 m hoch, Sammoarhütte 2525 m hoch, Similaunhütte 3017 m hoch, Hauslabjoch 3304 m hoch, Hochjochhospiz 2423 m hoch, Hintereisjoch 3465 m hoch und die Guslarspitzen 3128 m hoch. Wenn ich das heute lese, wird mir noch ganz schwindelig. Wie gesund mussten wir sein, um das  zu verkraften. Alle rieten uns ab, zumal wir ohne Führer gingen nach dem Kompass und zum Teil nach Spuren, denn dort war überall ewiger Schnee. Auf den Hütten trafen wir immer dieselben Leute. Da gab es dann einen Schlafraum, wo alle wie die Heringe in Decken gehüllt nebeneinander lagen, Männlein und Weiblein. Wenn einer sich umdrehte, mussten alle mit rum. Aber alle waren abends völlig ermattet und schliefen wie die Murmeltiere. Eigentlich kann man alles gar nicht beschreiben. Das ist so, als ob man zwischen Himmel und Erde geht. Nur Schnee rundum, Berge und Himmel. Und immer die Gefahr, denn tiefe Gletscherspalten ganz dicht und mein Wissen des schlechten Skiläufers. Aber dass ich da dennoch mit dabei sein durfte, das vergesse ich denen allen nie. Da wurde nicht gesungen wie auf Wanderungen, da wurde kaum gesprochen. Jeder war einsam mit seinen Gedanken, in seinem Staunen, in seiner Losgelöstheit und dennoch voll abhängig von den anderen, fest in diese kleine Gemeinschaft eingebunden. Bei einer Abfahrt passierte mir das Pech, dass mir ein Ski bei einer Kurve abging bis weit hinunter zu Tal. Ursel fuhr der Spur nach und brauchte fast zwei Stunden, bis sie mit dem Ski wieder oben war. Ich hätte so nicht weiter gekonnt. Ein andermal fuhr ich von hinten bei einer sehr vereisten Stelle der Bärbel mit den Skispitzen durch die Beine, ja auch durch die Hose. Aber da habe ich abends kunstgestopft. Einmal bekam ich Halsschmerzen und Fieber, aber mit Brustwickel und heißer  Zitrone ging es anderen Tages weiter. Gut erinnern wir uns alle an die Simulaunfahrt (3017). Wir hatten unsere Hütte frühzeitig erreicht und stiegen ohne alles Gepäck zum Similaun, der schon italienisch ist, und von wo aus man nach Norditalien herunterblickt. Dort tranken wir etwas Bescheidenes, als uns die Wirtin jedem einen Schoppen Terlanerwein brachte, von den Herren am Ecktisch spendiert. Selig beschwingt verließen wir die Hütte dort oben auf dem Gipfel – die anderen Hütten lagen immer am Hang weiter unten – wir sangen „Ich tanze mit dir in den Himmel hinein“ und schwingend von einem Bein auf das andere erreichten wir unsere Schlafhütte. Manchmal war es so eisig am Rande der Gletscher, dass wir abschnallen mussten, die Skier tragen und Schritt für Schritt in schon mal eingehauenen Stufen hochkletterten. Runter konnten wir dann nur die Stöcke zwischen die Beine nehmen, was ja sonst verpöhnt ist, denn auf dem Eis konnten wir nicht kurven, es war nur schmale Spur und recht steil. Nach zehn Tagen kamen wir wieder alle unversehr in Obergurgl an. Wir waren dankbar und glücklich und fuhren noch nach Garmisch, um alles ausklingen zu lassen. Die Eltern schickten von zu Hause Geld, sodass wir noch über eine Woche in Garmisch blieben. Dort wanderten wir im beginnenden Frühling, dort blühte es schon, nach dem vielen Schnee wie ein Wunder. Damit endete aber  unsere Hannoverzeit ganz. Heute ist Bammel schon lange tot, Anne Faltin lebt mit 85 Jahren noch in Hannover; Bärbel und ich besuchten sie vor vier Jahren, und wir schreiben uns heute noch. Anne ist geistig in alter Frische und sieht noch so strahlend aus wie eh und je. Inge haben wir aus den Augen verloren. Bärbel und Ursel kennt Ihr alle, wir haben uns allezeit treue Freundschaft gehalten. Ja,  Hannover war meine Loslösung von zu Hause, da bekam ich einen ganz neuen Blick für das Leben, da wurde ich selbständig im Denken.

 

Appenrode, 4.2.1988.

Heldungen-Schleusingen (1938-1939)

Nun sind fast vier Jahre vergangen, ehe ich mich aufraffen konnte, weiterzuschreiben. Ich glaubte über die Klippe des Krieges nicht hinwegzukommen. Außerdem ist mein Gedächtnis nicht mehr so einwandfrei. So nehmt es nicht so wörtlich!

Inzwischen ist Euer lieber Vater im vergangen Jahr gestorben. Dadurch ist hier alles verändert. Ich wohne nun alleine im Pfarrhaus.

Soeben habe ich meine Blätter von 1916 – 1938 noch einmal gelesen. Da bleibt man leicht an den Erinnerungen hängen. Aber das ist alles lebendig in mir geblieben, weil ich aus allen Zeitabschnitten noch Freunde habe. Außerdem ist unser Leben und unser Sosein doch entstanden aus dem, was wir erlebend in uns aufnahmen und fortentwickelten. Sich an etwas nicht erinnern können, heißt ja nicht, es verloren zu haben. Das Vergangene hat uns mitgeformt in jeder Zeit, ob wir es nun bewusst mit in unser Leben genommen haben oder nicht. Auch für Euch ist es wichtig, Euren Kindern soviel Erleben und Erfahren zu ermöglichen, wie es nur geht, und ihnen dabei immer eine Geborgenheit zu verschaffen, die sie in allen Lebensstürmen sichernd begleitet. – Ob und wieweit sie alles annehmen, ist Sache der Kinder. – Alle drängen irgendwann hinaus. Nur wissen sollten sie, wo ihre letzte Zuflucht ist, ganz gleich in welchem Zustand und in welcher Situation sie sich befinden – sie haben ein Zuhause. – Vielleicht ist das überhaupt der Grund, warum ich weiterschreibe. Euer Zuhause entstand aus allem, was wir erlebten, mit oder ohne Euch. Nun bin ich täglich dankbar, dass ich im Alter hier so ein großes Haus, den schönen Garten und die reizvolle Umgebung habe, um Euch eine Heimat geben zu können. Die eigentliche Heimat aber ist in meinem Herzen, und ich  bemühe mich, dass keins da herausfalle. Inzwischen sind wir schon vier Generationen; alle haben sie da noch Platz, jetzt und in alle Ewigkeit. - -

Die Hannoverzeit war abgeschlossen, jeder unserer Vierergemeinschaft musste nun seinen Weg alleine gehen. Wie wir heute wissen, hätten die Wege nicht unterschiedlicher sein können. Ich bekam bald die Aufforderung, mich in Heldrungen an der Unstrut zu melden. Keiner zu Hause hatte je von Heldrungen gehört. Ich war ja in Hamburg, wohin meine Eltern während meiner Studienzeit gezogen waren. Wir wohnten in Othmarschen in der Nähe von Blankenese. Und nun ging es gen Süden. Ich fuhr mit der Bahn und stieg „Bahnhof Heldrungen“ aus, um nach dem Schulleiter zu fragen. Aber da wurde ich schön ausgelacht, denn Heldungen lag eine halbe Stunde entfernt, und der Zubringerbus war derweil abgefahren. So wanderte ich ohne meinen schweren Koffe nach Heldrungen. Gleich in einem der ersten Häuser wohnte Rektor Kalle, der Schulleiter. Ich fragte in dem mir bezeichneten Haus einen Mann, der im Hof Möbel anstrich, und er wies mich ins Haus. Wie aber erstaunte ich, als der Maler selbt der Rektor war, der sich köstlich darüber amüsierte. Wir gingen dann zu Frau Steinacker, einer alten Lehrerswitwe, die zwei winzige Stuben vermietete. Mit ihr war es vom ersten Augenblick an schön, und wir hatten dann gute  Zeit miteinander. Morgens und abends aß ich auf meinem Zimmer oder mit Frau Steinacker. Mittages wurde ich Stammgast im „Ersten Haus am Platze“, im „Schwan“, wo ich ganz herzlich aufgenommen wurde. Dort lernte ich später auch Euren Vater kennen. – Die Schule war achtklassig; jeder hatte eine Klasse zu leiten, und in den oberen Klassen wurde man nach Fachkenntnissen eingesetzt. Ich bekam das zweite Schuljahr mit 55 Kindern im Alter von 7 bis 13 Jahren. Die Älteren immer Sitzengebliebenen saßen hinten, sie hätten ja sonst die Sicht versperrt; und die Kleinen, Eifrigen saßen vorne. Der Rektor warnte mich vor den Eltern, sie seien rabiat und kämen sogar mit dem Messer zur Schule. Wir waren sechs Lehrer, eine schache, alte Lehrerin, auf die in jeder Beziehung Rücksicht zu nehmen war, und ich. Alle Versuche zuvor mit jüngeren Lehrerinnen waren gescheitert aus Angst vor den Eltern. Sie hatten den Rektor weinend und kniend um Versetzung gebeten. – Und dann war alles ganz anders. Ich versuchte, besonder jene Kinder zu lieben, die da schon Jahr um Jahr dasselbe gehört hatten. Was konnten die Kinder dafür, wenn der Eine schon angetrunken zur Schule kam, weil Bier wohl das einzige Gränke im Hause war; wenn der Vater des ganz Großem im Gefängnis saß; wenn  zwei Jungens den Totengräber zum Vater hatten, was damals auf dem Lande ein verrufener Beruf war. Alle waren an sich lieb und hatten ihre Fähigkeiten: der Eine konnte malen, der andere ein Gedicht aufsagen, der Dritte singen, und der Große war allen im Sport überlegen. Er wurde Riegenführer und hat gut Ordnung gehalten mit Stolz. Nur lesen und schreiben konnten sie alle nicht. So hängte ich jeden Tag eine Nachhilfestunde bei freiwilliger Beteiligung an – und da kamen sie alle – und wir übten  und übten, so dass ich am Ende des Jahres alle versetzen konnte, mit zugedrückten Augen allerdings. Keiner der Eltern kam mit gezücktem Messer wie vordem; ich habe sie alle besucht und meine ersten Erfahrungen mit Familien gemacht, wie ich sie vorher überhaupt nicht kannte. Die Leute haben sich daran gewöhnt, dass ich oft beim Totengräber zu Gast war. Ich hatte acht Kinder von ihm in der Schule, die ich oft zum Entlausen nach Hause schicken musste. Ja, da ich es erwähne, da habe ich mich sehr blamiert. Auf der Straße hält mich eine saubere Frau an, ihr Kind habe Nüsse auf dem Kopf, dagegen sollte ich etwas tun. Da ich selbst zu keinem Schluss kam, was „Nüsse“ auf dem Kopf schaden sollten, fragte ich im Kollegium. Da entstand höllisches Gelächter, denn es gab „Nisse“, Läusebrutstätten. Und man erzählte mir väterlich, dass ich nun alle Köpfe untersuchen müsste. Da wollte ich kündigen. Ein Lehrer war dann so freundlich, mir zu zeigen, wie man mit Hilfe von Stricknadeln zwischen den Haaren herumsucht. Aber auch dann habe ich es verweigert; der Lehrer tat es für mich. Alas der eine Vater aus dem Gefängnis kam, bedankte er sich bei mir, dass sein Sohn mit 13 Jahren erstmalig in der Schule gelobt worden sei. Dabei war er mein bester und zuverlässigster Riegenführer im Sport geworden, und malen konnte er eben auch. Sport gab ich übrigens in allen Klassen immer gleichzeitig mit dem Rektor; er nahm die Buben und ich die Mädchen. Schon früh als Erstes machten wir Waldlauf. Im Sommer gingen wir jeden Tag, wenn das Wetter entsprechend war, und das war es damals noch meistens, in den beiden letzten Stunden mit den oberen Klassen zur Unstrut schwimmen. Wer ein Fahrrad hatte, fuhr auf dem sandigen Feldweg und nahm noch einen hinten drauf mit; und das war dann kriminell. Der Rektor war einst irgendein deutscher Meister im Schwimmen gewesen, und das war immer noch seine Leidenschaft. Alle Kinder mussten beim Abgang mit der damals noch achten Klasse den Freischwimmer und den Rettungsschwimmer haben. Die Unstrut ist nicht sehr tief, aber reißende und voller Schlinggewächse. Viele Kinder waren schon dort ertrunken, es gab kein Schwimmbad, nur eine Badestelle, wo man flach hineingehen konnte, und dann eine besonders tiefe Stelle, wo wir ein Einmetersprungbrett angebracht hatten. Da wir immer gleichzeitig zwei Lehrer waren, ging alles bestens. Einer lief am Ufer entlang mit, wenn ein Kind beim Sprungbrett startete und mit dem Strom bis zur flachen Stelle schwimmen sollte. Da wir oft reingesprungen waren und die Kinder herausgeholt hatten, so hatten dies langsam ein großes Vertrauen bekommen und machten alles mit. Für mich ergaben sich da ungeahnte Schwierigkeiten, wenn zum Beispiel Rektor Kalle verlange, dass ich alle Sprünge vormache. Ein Salto vorwärts bei so niedrigem Brett war schon beängstigend. Aber unter vollem Gelächter der Kinder habe ich eben trainiert. So ging es mir auch auf einer Radfahrt nach Wunsiedel, wo im Schwimmbad ein  Zehnmeterturm war. „Wenn Sie zuerst springen, kommen alle nach“, meinte der Rektor. Noch nie hatte ich so etwas gemacht, nicht einmal solch´ einen hohen Sprungturm gesehen! Wir stiegen alle hoch, ich als Erste, so dass gar kein Entrinnen mehr für mich war. Der Rektor war zur Rettung bereit im Wasser. So sprang ich einfach ohne alle Kunst hinein, und alle sprangen wirklich hinterher, auch diejenigen, welche noch nicht richtig schwimmen konnten. Wenn sie wieder hoch kamen, brachten wir sie ja an die Treppe. Ja, Kalle hat mir zu vielem Mut gemacht. Und er hatte so eine zarte Frau, ob sie alle diese Dinge auch mitmachen musste? Kalle nahm mich auch auf dem Motorrad mit zu den sportlichen Treffen der noch gängigen Lehrer des Umkreises. Ich war dort die einzige Frau, weil es weiter keine gab weit und breit. Da haben wir zuerst Leichtathletik gemacht, wobei ich natürlich schlecht abschnitt, die Kugeln waren mir zu schwer, die Speere zu lange. Doch dann haben wir bis  zum Gehtnichtmehr begeistert Faustball gespielt. Was danach kam, war für mich fast ebenso schwer: Es gab einen Berg belegte Brötchen und Bier. Oh, wie musste ich da Biertrinken lernen! Und danach mit Kalle etwa 25 km auf dem Motorrad nach Hause, das strenge Alkoholverbot für Kraftfahrer gab es noch nicht. In Reinsdorf war dies eine herzliche Gemeinschaft bem Sport und beim Feiern, wozu die Ehefrauen mitkamen. Und das war für mich so angenehm in der Fremde. Schlimm war es nur, wenn der Schulrat kam; dies war ein alter zuckerkranker Herr, den man nicht aufregen durfte. Er kam stets unangemeldet, das letzte Stück zu Fuß. Wehe, wir waren da gerade beim Pausenüberziehen! Und mich traf er dann das erste Mal im Trainingsanzug auf der ersten Bank sitzend an. Er war total außer Fassung, und als ich dann ohne schriftliche Vorbereitung unterrichtete, war es um ihn oder besser um mich geschehen. Er hatte mich vor der Klasse zum Würstchen gemacht und dann selbst weiter unterrichtet. Zum Glück war Kalle mit in der Klasse und zwinkerte mir Beruhigung zu. Wir bleiben ruhig, taten einsichtig. Als der Schulrat dann das nächste Mal kam, lag das Konzept vorne, was ich für jedmögliche Fachrichtung ausgearbeitet hatte, und was ich nie benutzt hatte. Er war erfreut, dass ich mir alles so zu Herzen genommen hatte und lobte mich und meinen Unterricht. Dann aber war Kalle dran; er hatte Biologie bei den Großen und zeigte Lichtbilder. Er bat mich im Dunkeln ungesehen hereinzukommen und mich zwischen die Kinder zu setzen. So konnte ich unbemerkt vorsagen. Na, wir legten eine tolle Stunde hin; alle waren zufrieden: Der Schulrat, Kalle, besonders die Kinder und ich. Damals durfte ein Lehrer noch nicht alleine mit gemischten Klassen Fahrten machen, so war ich mit von der Partie bei der siebenten und achten Klasse. Im Sommer machten wir Radtouren, im Winter Skitouren. Es war immer herrlich für mich, denn die Verantwortung trug letztendlich Kalle. Im zweiten Jahr bekam ich ein erste Schuljahr mit 72 Schulanfängern. Sie waren nicht wie heute im Kindergarten gewesen und mussten zuerst stillsitzen lernen. Zuerst liefen während des Unterrichts einige im Klassenzimmer herum, aber das gab sich bald; sie zu interessieren ist ja alles. Nur einmal ist mir ein kleines Mädchen ausgerissen, wir suchten mit den Eltern einen ganzen Tag. Die Kleine war ein heißgeliebtes Kind von Zirkusleuten, die sie angenommen hatten, weil sie selbst nur Söhne hatten. Schon ein Vierteljahr später habe ich dann gekündigt, um zu heiraten. Das war damals ein Grund zum Kündigen, obwohl ich noch keine zweite Prüfung hatte. Ich bekam allerdings die Mitteilung, dass ich nie mehr als Lehrerin arbeiten dürfte.

Ein halbes Jahr nach mir war Euer Vater als junger Hilfsförster nach Heldrungen gekommen. Er wohnte im Schloss, in dem auch das Forstamt war. Natürlich wurde auch er Mittagsgast im „Schwan“ zusammen mit einem Assessor vom Gericht, was auch auf dem Schloss war. Ich saß noch eine Weile am anderen Tisch; später hat Vater immer erzählt, dass ich ein Loch in die Zeitung gebohrt hätte, um ihn dadurch zu beobachten. Euer Vater war ein schöner schmucker Mann. Er hatte einen Lodenumhang aus einem Stück wie ein Kreis geschnitten. Wenn er den mit großem Schwung auszog, das war umwerfend. Bald saßen wir dann an einem Tisch, und unsere Wirtin oder ihre Söhne wollten  uns verkuppeln, indem sie uns Kinokarten zum Gedeck legten, die dann natürlich nebeneinanderliegende Plätze hatten. Vater machte zuweilen Tonsteuermann, was ihm viel Spaß brachte. Gegenüber vom „Schwan“ wohnte das junge Ehepaar Sommer, Besitzer einer Eisenwarenhandlung, das dann bald immer mit dabei war. Wir spielten abends lange Billard, so ein Lochbillard nur größer, wie wir es jetzt haben. Wir fuhren zusammen in den Wald zum Blockhaus, was zum Übernachten für die Jäger erbaut war. Dort waren Schlafgelegenheiten, Geschirr, Getränke im Keller und gesammeltes Regenwasser in der Tonne unter der Dachrinne. Trinkwasser und Esserei brachten iwr im Auto mit. Das Blockhaus stand im Nachbarrevier in Sachsenburg. Doch Vater hatte schon mit 18 Jahren vom Erbe seines Vaters ein Auto bekommen, so waren wir beweglich. Im ersten halben Jahr, als Vater noch nicht in Heldrungen war, hatte ich einen Vikar zum Freund. Er hatte ein Motorrad und ein Auto, und ich durfte oft fahren. Beim Motorrad wurde es zwar kriminell, da ich mit Lus Hilfe startete und flott losfuhr, aber dann nicht anhalten konnte und immer weiter fahren musste, bis es an einem Berg dann klappte. Im Auto fuhren wir zum Kyffhäuser oder in den Harz, da konnte ich immer fahren. Nun wollte ich dies auch bei Vater, und auf vieles Betteln hin durfte ich dann einmal und nie wieder. Kurz vor der Brücke in Sachsenburg nahm ich die Kurve ohne zurückzuschalten im Karacho. Vater erlebte Todesangst, obwohl ich alles im Griff hatte, das war mein Fahrende bei Vater. Aber gleich habe ich mich heimlich zur Fahrschule gemeldet. Da der Fahrlerer in Bad Frankenhausen wohnte, musste ich immer irgendwie dorthin kommen. So bekam ich eben Zahnschmerzen, und Vater fuhr mich oft zum  Zahnarzt, was aber der Fahrlehrer war. Bei Stadtfahrten haben wir uns sehr vorgesehen, aber Vater wartete meist im Café, Cafés waren immer seine große Liebe. Vater hat es nie gemerkt, ich hatte schon wochenlang meinen Führerschein, ehe ich es ihm erzählte. Aber gefahren bin ich dann doch nicht. Das Auto wurde im Krieg auseinandergenommen, und danach hatte ich kleine Kinder und kam gar nicht dazu, den Führerschein zu erneuern.

Nach meiner Kündigung ging ich zuerst auf das Braunsteinhaus, was Ihr ja kennt in Appenrodes Nähe. Dort lebte damals der Revierförster Fesser, bei dem Vater gelernt hatte, als dieser noch in Thüringen war. Unser Vater war dort wie ein Sohn im Hause. Frau Fesser liebte ihn sehr, und der Sohn, der etwa zwölfjährige Hermann, bekam Nachhilfestunden bei Vater. Ich sollte nun dort das Leben im Forsthaus  und den Forsthaushalt kennen lernen. Nie hatte ich später Gelegenheit, Wild zuzubereiten. Braunsteinhaus war ein traumhaft schönes Vierteljahr. Ich schlief in dem Dachstübchen oben links, wo nachts die Fledermäuse ihre Runden in meinem Zimmer drehten. Ganz früh stand ich auf und ging oft mit Herrn Fesser in den Wald. Er war Biologe  und kannte alle Pflanzen bis zum kleinsten Kräuterchen, hat mich dann auch immer wieder befragt, sodass ich schon allerlei Pflanzen kannte damals. In der Frühe ging es um die Wildschweine, da gab es einen ganz hohen schwankenden Hochsitz, von wo aus wir dann unbemerkt die Wildsau und ihre Frischlinge beobachten konnten. Meistens aber gingen wir am späten Nachmittag zu einem der Hochsitze, wo man immer Rehe und Hirsche sehen konnte. Da wurde nicht gesprochen, und man konnte weit über die Blößen sehen und träumen. Selbst der kleine Dackel war mäuschenstill. Geschossen wurde selten, denn Herr Fesser war ein zünftiger Jäger und Heger wie Euer Vater. Da wurde nur Wild erlegt, was den Artgenossen Schaden zufügte wie Böcke mit einem Spieß oder erkrankte Tiere oder Räuber. Und dann wurde nur geschossen, wenn ein Stück lange genug beobachtet worden war und so gut stand, dass es mit einem Blattschuss sofort lag. Zugegeben war ich für mich ganz froh, dass Vater nach dem Krieg nicht mehr jagte, denn ich empfand es immer als grausam. Wenn ein Reh oder ein Schmaltier oder ein Bock geschossen war, wurden sie sofort an Ort und Stelle aufgebrochen. Ich musste einen frischen  Zweig durch den Schweiß ziehen und diesen dem Schützen mit „Weidmannsheil“ an den Hut stecken. Das Aufbrechen geschah so korrekt, dass der Jäger es mit weißen Hemdsärmeln tun konnte. Die Innereien wurden gleich herausgenommen. Dann kam das ganze Tier in den Gummieinsatz des Rucksacks und wurde nach Hause getragen, sofern es kein Hirsch war. Mit Vater war ich hauptsächlich vor der Ehe in Heldrungen zur Jagd. Dort waren wir auch einmal zur Fasanenjagd. Wir scheuchten zu Dritt die Vögel aus dem Ufergebüsch oder aus den Feldfurchen auf, und Vater schoß einen Fasan. Mit Speckkrawatte um den Hals haben wir den dann zu viert gegessen. Sonst waren die Fasanen unsere Freunde, die wir ständig vom Fenster aus am Schloßberg beobachten konnten. Für mich war bei der Jagd das Ausharren draußen bis zur Dunkelheit und das Hineingenommensein in die Natur das Schöne. Mit Herrn Fesser erlebte ich auch meine erste Heuernte. Tief im Wald lag die große Waldwiese. Dort war es einsam und schön bei dem Duft des Heus, bei strahlender Sonne, bei erschöpfender Arbeit und auch in den Ruhepausen am Waldesrand. Aber sonst half ich am Tage Frau Fesser. Dort war damals schon Gastwirtschaft dabei, sodass ich mit bedienen musste, viel abwaschen, riesige Mengen Kuchen backen und die Kuh, die Hühner und die Gänse versorgen musste. Jeden Sonntag kam Vater mit dem Auto, da fuhren wir dann in den Harz. Am Abend erwartete uns das ganze Geschirr vom Tage. An einem Sonntag im Juni haben wir uns dann dort heimlich verlobt. Am gleichen Tage  hatten Fessers wie oft aus Nordhausen Besuch, und es gab abends ein tolles Entenessen mit Wein, wozu nun Herr Fesser eine Tischrede hielt. Wie erstaunt waren wir aber, als er fast nur von uns, unserer Verlobung und unserem zukünftigen Leben sprach. Das Pflichtjahrmädchen hatte unsere Ringe gesehen und alles verraten. Vielleicht wäre ich noch länger im Braunsteinhaus geblieben, wenn nicht der Krieg herannahte. Da fuhr ich dann mit dem Fahrrad nach Heldrungen aus Angst, Vater könnte schon eingezogen werden. Wir haben uns kriegstrauen lassen, nachdem wir unsere arischen Ahnen mit abgelichteten Dokumenten bis zu den Urgroßeltern nachgewiesen hatten. Unsere erste Hochzeit war zeitgemäß und sehr komisch. Der Oberförster holte mich mit seinem alten hochbeinigen Auto bei den Lehrersleuten, wo ich ein paar Tage gewohnt hatte, ab. Er überreicht mir einen großen Rosenstrauß, der über Fleurop von meinen Eltern gekommen war. Vom Schloss dann gingen wir zu Fuß über den Berg auf Schleichwegen zum Rathaus.  (Das private Autofahren war schon verboten.) Es fehlte ein Trauzeuge, der Assessor, der brav mit Blümchen die Straße zum Schloss gegangen war, um uns abzuholen. So kamen wir schließlich zu spät, was der Bürgermeister Inamm im ersten Teil seiner Rede tadelte. Schon war uns lächerlich zumute, dann wusste der Assessor nicht gleich sein Geburtsdatum, doch schließlich waren wir verheiratet. Der Assessor musste nun spazieren gehen, bis wir das Essen bereitet hatten. Der Oberförster hatte eine Sau geschossen, so gab es Wildschweinleber mit Kartoffeln  und Tomatensalat aus unserem Schlossgarten. Abends kam dann auch der andere Trauzeuge, Herr Sommer, mit Frau (gegenüber vom „Schwan“) zu Kaffee und bunten Stückchen. Wir waren alle sehr vergnügt. Am 12. November erst sind wir dann in Hamburg kirchlich getraut worden. Opa Braun hielt die Trauung in der Othmarscher Kirche mit dem Wort aus dem Johannesevangelium „Von seiner Fülle haben wir alle genommen Gnade um Gnade“. Die Verwandten beiderseits waren angereist, soweit das möglich war. Wir hatten von Fessers zwei Enten geschenkt bekommen, weil es im Krieg nun schon kaum etwas gab. Alles andere, besonders die Getränke, hatten meine Eltern aufgetrieben. Es war sogar noch ein richtiger Polterabend mit viel Geschirr zerpöttern und vielen kleinen selbstgemachten Gedichten und Gesängen. Davor galten wir, besonders bei den Eltern Braun, noch nicht als verheiratet. Fünf Tage hatte Vater nach langem Warten Urlaub bekommen, wovon wir einen Tag Hin- und Rückfahrt stehend im überfüllten Zug verbrachten. Nun waren wir also richtig verheiratet, und ich durfte auch mit Vater unter einem Dach in Heiligenstadt bei den Eltern schlafen. In Heldrungen wohnten wir auf dem Schloss in einer Wohnung mit zwei sehr hohen Räumen und einer Küche mit Tonnengewölbe wie eine Kapelle. Vater war ja als Junggeselle voll eingerichtet. Mancher von Euch kennt wohl noch die roten Plüschmöbel mit dem ovalen Tisch. –

Vater wurde vorläufig nicht eingezogen, und ich war wieder im Schuldienst, um eingezogene Lehrer zu vertreten. Ich musste aber nach Bretleben, was ich mit dem Fahrrad erreichen konnte. Vater musste auch fort, um eine Vertretung in Goldlauter zu übernehmen. So fuhr ich jedes Wochenende, wo die Kollegen meine Stunden mit übernahmen, nach Suhl. Am Bahnhof holte mich Vater mit dem Auto ab, und wir hatten eine schöne Zeit in Suhl, Goldlauter, Heidersbach und auf der Schmücke. Dort durfte ich erstmalig am Steilhang mit auszeichnen. Na, der Ingolf kann Euch erzählen, welche Genickstarre man bekommt, wenn man um den Baum herumtanzt und die Krone testet. In Heldrungen war nun eine grausige Zeit für mich alleine. Im alten Schloss gab es viele gespenstische Geräusche des Nachts. Durch die zu hohen Fenster konnte ich nicht verdunkeln und musste eine Decke um die Lampe hängen. Dies aber nur im Wohnzimmer, sonst musste ich im Finstern herumhuschen, wenn ich ins Bett oder über einen riesigen Flur zum Klo wollte. Wenn ich noch in der Stadt unterwegs war, es war ja Winter und früh dunkel, nirgends Straßenbeleuchtung, dann war es grausig. Wir hatten Leuchtplaketten am Mantel, damit wir uns nicht umrannten, aber ich musste durch den finsteren Burgtunnel ins Schloss, huh! Noch vor Weihnachten hörte ich mit dem Schuldienst auf, es war mit dem Rad zu beschwerlich über den Berg, und wir sollten ja im Januar wegziehen.

Vater bekam vorübergehend die Stelle Fischbach bei Schleusingen, wo sein Kollege und Freund gefallen war. Nun wurde unsere Wohnung für den Nachfolger vorbereitet. Die Decken sollten heruntergezogen werden. So hatten wir nur noch das Wohnzimmer. Abends holten wir hinter dem Plüschsofa die Unterbetten hervor und legten sie in der Nähe des Kachelofens auf die Erde. So schliefen wir nachts ganz schön hart auf dem Fußboden, obwohl ich schon schwanger war. Aber da waren wir noch jung und glücklich, was machte es da aus? Im Januar zogen wir nach Schleusingen in eine Etagenwohnung über der Gaststätte „Zur Sonne“. Wir gewöhnten uns an den Lärm unter uns. Auch an die schiefen Fußböden, wo man einen Eimer an einer Seite des Zimmers ausgießen konnte, um im Nu den ganzen Fußboden unter Wasser  zu setzen. An der Vorderfront war Fenster an Fenster, mit Not bekamen wir so eine lange Gardinenstange über die ganze Front durch die Fenster da hinein. Die Küche war ohne Fenster mit einem Gang davor, woran dann die Fenster lagen. Auch der Flur war völlig fensterlos, aber oben in der Mitte der Decke war eine Himmelsluke, die man auch öffnen konnte, sodass der Sternenhimmel hereinschaute. Trotzdem hatten wir eine sehr schöne Zeit dort. Wir wohnten noch immer in Vaters Möbeln, die neuen von meiner Aussteuer standen auf einem Speicher, weil dies hier nur vorübergehend war. Wenn Vater tags im Revier Fischbach war, machte ich weite Spaziergänge im leise beginnenden Frühling. Ich war überzeugt, dass alles, was ich in mich aufnahm, meinem Kind in mir zugute kam. So nahm ich alle Schönheit der Natur tief und glücklich in mich auf. Ich habe auch in der Zeit bewusst nichts Schreckliches gelesen, um dem Kind nicht zu schaden. Als die Zeit heran war, wo Heidi geboren werden sollte, kam meine Mutter. Das war für mich sehr beruhigend. Auf einem Spaziergang begannen dann auch am 22. Mai 1940 die Wehen. Mutti aber wollte nicht so schnell nach Hause gehen, Bewegung an der frischen Luft sei gut, und es werde noch lange dauern. Endlich waren wir dann bei der holländischen Hebamme, die aber auch zur Geduld mahnte, sie komme schon zur rechten Zeit. Sie kam abends und blieb die Nacht bei mir. Die Wehen hörten auf, ich war voller Angst. Aber vor sieben oder acht Uhr könne man den Arzt nicht wecken. Dann kam er endlich, gab Spritzen und ging. Nichts geschah außer normalen Wehen, endlich wurde der Arzt wieder gerufen. Da hielt ich ihn fest und sagte, dass ich ihn nicht loslasse, ehe das Kind da sei. So blieb er, turnte auf meinem Bauch herum, und mittags wurde Heidi geboren. Ich hatte Vater rausgeschickt, um schreien zu können und dann weinen vor Glück. Es war ein kleines wohlgestaltetes Mädchen von 6 ½ Pflund und  50 cm Länge. Milch hatte ich für ein halbes Jahr. Mutti brachte mir das Baden, Wickeln und überhaupt alles Notwendige bei. Sie nahm auch Heidi nachts mit in ihr Schlafzimmer, damit sie an die einzuhaltende Nachtspanne gewöhnt wurde. Nach 14 Tagen schlief sie schon durch. Tags stand Heidi immer draußen, wenn ich nicht Spaziergänge mit ihr machte. Es war ein herrlicher Mai; auf der Wiese zog ich sie nackend aus und legte sie zu ihrer Freude so auf die Decke. Mir erscheint dies als eine lange  Zeit, dabei zogen wir schon, als Heidi drei Wochen alt war, ins Altertal.

 

19 Jahre im Altertal. (1940-1959)

Dies war nun Vaters erste feste Stelle nach vielen Wanderjahren. Wir konnten zwischen Altendambach bei Erlau und dem Altertal wählen. Wir entschieden  uns für das Altertal nicht zuletzt, weil Vater dort viele alte Kameraden hatte. Leider sind diese bis auf zwei alle gefallen. – Der Möbelwagen holte unterwegs auch unsere gelagerten Möbel aus Erfurt, und wir hatten nun ein ganzes Haus, worin anfangs allerdings noch Familie Volkmar wohnte. Sie hatten das Haus während zweier Vakanzjahre gehütet. Nach Altertal fuhren wir mit Vaters Auto, worin ich hinten Heidibei mir im Wäschekorb bei mir hatte. Dort war mein erster Weg mit Heidi in den Wald, um sie zu stillen, während ausgeladen wurde. Ich durfte fast nichts helfen, Mutti machte das alles. Wir bestellten den Rest Möbel wie Gewehrschrank und Schreibtisch bei einem Möbeltischler in Schwarza; die Polstergarnitur und die Küche hatten wir schon von Onkel Ernst, meines Vaters verstorbenem Bruder, bekommen. Alles andere hatten meine Eltern mit Ehestandsdarlehen gekauft. Zu meiner größten Überraschung und Freude kam bald per Express das Klavier von zu Hause, welches mir viele, viele schöne Stunden bescherte, und das ich noch heute liebe. Wir hatten wenig Geld. Vater verdiente knapp über 100 Mark monatlich, aber wir hatten den Garten, den Acker, die Wiesen, den Stall und das mietfreie Diensthaus. In den Stall kamen bald Ziegen, Karnickel, Hühne, Gänse oder Enten und Truthähne. Vater blieb noch ein Jahr dort, weil er wieder zurückgestellt wurde. Es kam die Nonnenplage, danach der Borkenkäfer. Vater hatte oft hundert Arbeiter, die auch untergebracht und versorgt werden mussten. Das ist aber zum Teil schon Nachkriegszeit. Jedenfalls waren wir immer vollgeschüttet mit Arbeit. Für mich Städter war alles ungewohnt, trotzdem waren wir sehr glücklich, vor allem mit unserer Heidi, die sich prächtig entwickelte. Alle Verwandten aus Berlin und Hamburg kamen angereist und blieben länger da, so der Stadt und den Bombenangriffen entronnen. Meine Großmutter (Bluth) kam lange und gerne, sie war außer dicken Knien, die sie sehr behinderten, geistig und körperlich gesund und freute sich ehrlich mit uns. Im Sommer saß sie immer auf dem kleinen Platz im Garten und konnte uns beim Heumachen oder bei der Gartenarbeit zusehen. Sie machte sich stets nützlich beim Vorbereiten zum Kochen, zum Einmachen oder beim Stopfen, wozu sie bis zuletzt keine Brille brauchte. Dass einer mal sein  Urenkelkind erlbet hatte, war bei uns einmalig. Sie meinte allerdings, dass sie nun gehen müsste, da die nächste Generation geboren war. Sie starb nach zwei Jarhen, als ich schon mit Eva schwanger war. Diese Oma Bluth, unser Omchen, war mir immer Vorbild. Ihre fünf Kinder waren sehr verschieden und gar nicht alle so sehr lebensgewandt. Omchen hat sie bis zuletzt behütet, sie hat alles verstanden und verziehen und sie alle immer wieder zusammengebracht. Aus einer Millionärin als Mädchen und junger Frau war sie zu einer sich hart durchschlagen-müssenden alten Frau geworden, die dennoch nie klagte, immer fröhlich war und alle zu verstehen suchte, ihre Hilfe nie aufdrängte, aber mit zurückhaltenden guten Worten aus ihrer Erfahrung viel Hilfe spendete. Ich kenne keinen aus unserem großen Kreis der erweiterten Verwandtschaft, der unser Omchen nicht verehrt hätte. Wie gerne würde ich ihr jetzt meine Nachkommenschaft vorstellen, diese meine kräftigen, nein prächtigen Kinder, Enkel und Urenkel. Omchen würde es kaum fassen, dass man soviel Glück haben kann mit seinen Kindern. Das ist ein Geschenk, wofür ich auch täglich dankbar bin. Nach Heidis erstem Geburtstag, an dem die Verwandten anreisten, bekam Vater seine Einberufung. Nun war er bis Ende Juni 1945 Soldat im Nachrichtentrupp der Luftwaffe. Zuerst kam er nach Holland, dann die meiste Zeit nach Russland. Nur einmal, als die Kompanie aufgerieben war, wurde sie im besetzten Frankreich wieder aufgefüllt. Holland fand Vater so reizvoll in seiner sauberen Schönheit, dass er dorthin immer unsere Hochzeitsreise nachholen wollte. Aber das wurde nie verwirklicht. In Frankreich hatte er es gut, weil er von der Schule her französisch konnte und so zum Beispiel dem Koch zugeteilt wurde zum Einkaufen und auch sonst allerlei Dolmetscheraufträge hatte. In Russland fuhr Vater lange das Funkauto „Thornycroft“, worin er auch schlief. Er fuhr Offiziere zur Front, er flog als Funker mit. Ach, ich kann davon nicht erzählen, weil ich nichts genau weiß. Vater schrieb zwar die ganzen Jahre hindurch jeden Tag einen Brief an mich, aber darin stand nur Persönliches. Nach dem Krieg hat Vater kaum aus der Zeit erzählt. Er kam als ein Anderer zurück und fand sich schwer wieder in das tägliche Leben ein und sprach so gut wie nie vom Krieg, nur, wenn sich alte Kameraden einfanden. Vater war am Ende des Krieges zuerst in russischer, dann in amerikanischer Gefangenschaft. Beides war in der CSR, und beidemale brach er aus. Nachts marschierte er und tags verbarg er sich auf Bäumen. Noch in Uniform kam er schließlich im Altertal an. Frau Mans, unsere Mitbürgerin aus Siebenbürgen, die morgens Karten legte und aus dem Kaffeesatz orakelte, befragte die Bibel, die rechts und links einer an einem durchgezogenen Schlüssel hielt, um das Wohlergehen und die Heimkehr von Vater, den sie nicht kannte. Vater kam wirklich zur angegebenen Zeit zurück, und Frau Mans erblicke ihn ganz oben am Waldrand und sagte es mir, obwohl sie ihn noch nie gesehen hatte. Er war es! Wenn man die Bibel und alles Brimborium weglässt, bleibt das Erstaunen über irgendwelche Gaben dieser Frau. Aber ich will nun versuchen, mir die vier Kriegsjahre allein im Altertal zu vergegenwärtigen. Da Vater in den grausamen Krieg gezogen war, kam der Gedanke, dass es für mich schwer sein würde, gar nicht auf, denn immer hatte Vater den schwersten und gefährlichsten Teil zu bestehen, noch dazu fern der Heimat. Da ich Angst hatte, sagte Vater, bevor er wegging: „Du musst bei Geräuschen immer nachsehen, nie in der Angst verharren, denn meistens ist es nichts.“ So schlief ich mit entsicherter Pistole auf dem Nachtisch. Wenn ich etwas  hörte, ging ich mit Hund, ein Dackel, und Pistole um das Haus und es war immer nichts. Nur einmal schrie ein Mann um Hilfe, als ich in den Hof ging. Da rief ich den Kollegen Petri an, der mit anderen kam. Sie fanden einen alten Mann, der schlecht zu Fuß war, aber täglich in den Wald ging. Er hatte sich im Dunkeln verfranst und fand nicht mehr heraus. Die Albrechtser luden ihn auf einen Handwagen und fuhren ihn nach Hause.

Ein andermal pochte es laut an die Läden. Als der Kollege Petri kam, war aber keiner mehr da. - -

Von Holland aus kam Vater auf Urlaub, später von Frankreich und zweimal von Russland in all den Jahren. Zunächst war ich mit Heidi allein, und die Kollegen, die im Revier als Vertreter eingesetzt wurden, schauten nach uns, mehr oder weniger oft, mehr oder weniger angenehm. Opa Braun kam, um mir zu zeigen, wie man den Garten richtig bestellt und tat dabei selbst das Meiste, las mir zwischendurch in der Küche vor, es war schön. Zur Bestellung des Ackers holte ich Saatkartoffeln, und an dem Morgen, wo dann Werner Nötzold mit dem Pferd kam, waren alle Nachbarsfrauen mit Körben da und legten mit Kartoffeln, um es mir zu zeigen und mir zu helfen. Ich war erschlagen vor Rührung. Sie zeigten mir später auch Hacken, Häufeln und Ernten. Vater hatte mir gesagt: „Wenn du mal nicht weiter weißt, geht zum alten Menz!“ Das war Robert Jentschs Großvater, den unser Vater von früher kannte. Er und Familie Jentsch hatten eine Kohlenhandlung. Und wirklich, Opa Menz und Eltern Jentsch haben mir zu jeder Zeit geholfen. – Schon ein Jahr darauf wurde Eva geboren. Meine Mutter konnte kommen. Aber der Zug fuhr nur bis Eisenach, sodass Mutter erst zur Wartburg ging, „Wartestand“. Als sie dann kam, war Eva schon da. Wir hatten eine alte Hebamme aus Albrechts, die recht nach Ziegenstall roch, aber alles bestens ausführte. Eva war schon bei der Geburt ein  halbes Pfund schwerer als Heide, was mir bei der Kriegsernährung sehr wichtig war. Obwohl ich mir sehr einen Buben gewünscht hatte, weil wir zu Hause und bei Tante Dora nur Mädchen waren, war ich glücklich mit Eva. Sie war das Braveste, was man sich denken kann. Ich malte und schrieb im Bett die Geburtsanzeigen und bekam davon eine schlimme Brust. Der alte Medizinalrat aus Suhl meinte: „Wenn das Kind alle Stunde kräftig zieht, so kommt die Brust ohne Schneiden in Ordnung.“ Ich hatte nur Angst, dass Eva verhungern müsste. Sie kriegte aber über Rezept und Apotheke Schweizer Buttermilchpulver zusätzlich, wenn sie lange genug ohne Erfolg gezuckelt hatte. Ich saß dabei vor dem Bett, sodass ich gleich auf das Bett fiel, wenn mir ovr Schmerz schlecht wurde. Aber unser Evchen hat es geschafft, die zweite Brust wieder in Fluss zu bringen. Eva blieb ein braves Kleinkind. Wo man sie hinsetzte, blieb sie sitzen. Im Schaukelpferdchen konnte sie stundenlang sein. Vater kam nur kurz zur Taufe, aber meine Eltern und Schwiegereltern kamen oft, auch Tante Lizzi, meine Cousinen Gretel und Hilde, Evas Patenonkel Carolus, der bei einem Bombenangriff in Berlin umkam, und Onkel Karl-Heinz, der als Apotheker einen Rucksack voll seltener Sachen mitbrachte, Patentante Bärbel Wischnath, dann Onkel Hermann, ein Sohn von Tante Sophiechen, einer Schwester von Oma Braun, bevor er ins Konzentrationslager musste, wo er dann starb. Seine Schwester Hanni wurde Patentante bei Uli. Sie hatte einen unehelichen Sohn, um dessentwegen sie beide nach Russland verschleppt wurden auf Nimmerwiedersehen (nach dem Krieg). Der dritte Bruder  war Richard Voerckel, der mit jetzt noch schreibt. Das nur so nebenbei von Vaters Verwandten. Die Österreicher kennt Ihr inzwischen, Tante Annemarie iste ine Schwester von Onkel Karl-Heinz, sein Bruder ist Onkel Walter mit Tante Gerda. Walter ist Michaels Patenonkel. Onkel Karl-Heinz ist Heidis Pate. –

Zurück zum Altertal. Die Bombenangriffe hatten sich verschärft, in Hamburg war oft Großalarm und vieles wurde zerstört. So kamen Frau Kettner und Sohn Uwe, der etwas in Evas Alter war, um bei uns sicherer zu leben. Sie wohnten in Hamburg im selben  Haus wie meine Eltern. Mit Frau Kettner war es sehr schön, nur bekam der kleine Uwe Diphterie. Nach vielem Einreden auf die Kinderärztin durften sie bei uns im Oberstock wohnen bleiben. Aber Frau Kettner durfte nicht herunterkommen. So brachte ich ihnen alles hinauf, und es ging gut. Wir wurden prophylaktisch geimpft, was mir während der Schwangerschaft gar nicht bekam. Ich war rot und geschwollen wie bei Masern. Eine Calziumspritze hat es dann gebessert, nur juckte es unwahrscheinlich, sodass ich nie schlafen konnte. In der Nacht holte ich dann doch einmal Frau Kettner runter, aber es wurde alles wieder heil. Frau Kettner fuhr nach Hause, wo ja noch ihr Mann war. Zu Ulis Geburt 1944 kam sie dann mit Uwe wieder, um mir zu helfen, weil meine Mutter den Opa nicht allein lassen konnte. Uli hat sich schon zeitig als Junge zu erkennen gegeben. Ich bekam in der Schwangerschaft einen Kropf wie ein Hühnerei nach außen. Der HNO-Arzt wollte schon operieren, als mir die befreundete Kinderärztin riet, bis nach der Geburt zu warten, denn es gäbe auch Schwangerschaftsschilddrüsen. So war es, sie zog sich im Wochenbett heimlich zurück. Und es war ein Junge! Er war wieder etwas schwerer als Eva, sodass gute Voraussetzungen für sein Gedeihen da waren. Mit Heidi und Eva als Betreuer hatte es Uli von Anfang an gut. Da Vater keinen Urlaub bekam, warteten wir ein Jahr bis zur Taufe, die dann Pfarrer Gorgas vornahma, weil Opa Braun krank war. Mit seinen Paten war es schlecht bestellt: Tante Hanni wurde verschleppt und Tante Gretel, meine Cousine, starb bei der Geburt ihres ersten Kindes mit dem Kind. - -

An das Leben im Wald hatte ich mich längst gewöhnt. Vor allem hatte ich nun das ganz sichere Gefühl, dass alles gut werden würde. Die Bomben, die für das Simsonwerk bestimmt waren, waren nur in unserer Nähe eingeschlagen; wir hatten noch immer zu essen, Vater lebte und war selbst von seiner Heimkehr voll überzeugt. Heidi, Eva und Uli entwickelten sich prachtvoll, alle Menschen waren nett zu uns. Da viele Evakuierte kamen, bot ich beim Bürgermeister meine oberste Etage an und bekam einen alten Herrn mit zwei Töchter mit je einem Kind. Sie kamen aus dem Saarland und waren vor den Bomben geflohen, schon in vielen Luftschutzkellern im Rheinland gewesen und sehr verängstigt. Die beiden Männer waren Offiziere in Russland. Es war schön, nicht mehr allein zu sein, aber die eine Frau hatte offene Tuberkulose. Als ich das wegen meines Säuglings Uli beim Gesundheitsamt meldete, meinte man, solange wir nicht alle zusammen in einem Zimmer wohnten, bestünde kein Anlasse, sie fortzuschicken. Ich versuchte halt der Frau klar zu machen, dass sie vom Kinderwagen etwas fern bleiben sollte. Aber sie war empfindlich und fand es unerhört, dass sie nicht soviel Milch kriegte wie der Uli und hat mir schon Kummer gemacht. Sie hatte selbet eine Tochter von ¾ Jahren, die unheimlich viel weinte. So holte ich sie abends zu mir, wenn Ihr schlieft, und beschäftigte mich mit ihr. Oben hatte sie ja alle zusammen außer den schrägen Schlafzimmern nur die Wohnküche. Leider bekam das kleine Mädchen dann überall Ausschlag, auch die Mutter bekam ihn a uf dem Tragearm. Aber sie schämte sich, mit der Kleinen zum Arzt zu gehen. Es war die Krätze, was sie sich viellelicht irgendwo im Luftschutzkeller eingefangen hatte. Das galt für sie als Schande, weil sie wirklich sauber war. So ging ich mit dem Kinderwagen über Heinrichs nach Suhl, was ich ja von Euch her kannte, zum Kinderarzt Dr. Erfurt. Zu Hause badete ich die Kleine mit verschriebenen Mitteln, und alles war bald vorüber. Der kleine fünfjährige Junge der anderen Frau bekam totalen Haarausfall, was man auf die Bodenkammern schob. Wieviele Jahre habt Ihr dort ohne Schaden geschlafen! Auch dieses Haar wuchs wieder nach Franzbrandweineinreibungen. –

Als ich eines Tages vom Einkauf zurückkam, war in Vaters Zimmer Familie Mans eingezogen, das heißt: Da saß eine zigeunerhaft aussehende Frau mit weitem Rock im Sessel und wiegte in diesem Rock unseren Uli, er war wohl ¼ Jahr alt. Daneben saß ein Mann, der nuru gebrochen deutsch sprach, und drei Kinder von 14, 12 und 5 Jahren. Im Hof standen zwei Handwagen mit ihren Habseligkeiten. Ich rief sofort das Forstamt an, welches sie geschickt hatte, und erzählte, dass ich schon die Saarländer hätte. Das sei mein Privatvergnügen, sagten sie, diese hier wurden mir zugewiesen. Nun, sob lieben sie halt auch da. Sie bekamen das große Zimmer vorne rechts, später Vaters Dienstzimmer, und unser Kinderzimmer als Küche. Mans kamen aus Siebenbürgen, waren dort ausgewiesen, zunächst nach Polen gebracht worden, und nun kamen sie hier zur Ruhe. Herr Mans arbeitete als eine Art Hilfsförster im Wald. Sie hatten  nicht viel gerettet, aber zwei riesige rote Teppiche mit langen Wollfasern, an die wir noch lange denken sollten. Dnen damit haben sie uns die Wanzen hereingebracht, die wir noch jahrelang beherbergten, bis später der Michael einmal ganz zerstochen im Körbchen lag. Mans waren längst fort, da verbrannten wir das ganze Körbchen. Vater untersuchte allabendlich alle Betten und stellte die Bettfüße in Petroleum. Es dauerte sehr lange, bis wir sie los waren, da mussten zuerst mal die alten Tapeten runter. Aber auch mit Mansens war ein gutes Einvernehmen. Nur hatte ich immer ein bisschen Angst, dass Frau Mans meinen Kindern etwas antut. Wenn nämlich Herr Mans abends leicht besäuslt nach Hause kam, wurde ihm zuerst eine Schüssel Wasser über den Kopf geschüttet,  und dann flogen die Holzklobem ihm entgegen, immer in meine Küche, durch die er ja musste. Aber er konnte auch rabiat sein, wenn er im Hof mit dem Beil nach seinen Kindern warf, die ihm nie gehorchten, nur der Mutter. Alma, die Tochter, ging nur einkaufen, wenn Mutter günstig aus dem Kaffeesatz gelesen hatte. Dann aber bügelte sie zuerst ihr Kleid auf, um schön  zu sein. Albert war mein Freund und Helfer. Wir waren sehr vertraulich miteinander, besonders dann Ende des Krieges. Da hörten wir gemeinsam den verbotenen Sender „Werwolf“ (Albert war 12 Jahre), schlichen nachts durch den Wald, um in Mäbendorf Kartoffeln zu bekommen und vieles mehr, wovon noch zu sprechen sein wird. –

So hatten wir das Haus voller Leute, den Acker aufgeteilt und lebten gut miteinander. Alles Gemeinsame wie auch Weihnachten, fand in meinem Wohnzimmer statt. Ich hatte ja nur noch die beiden kleinen Zimmer gegenüber vom Eingang. Zwischen den Zimmern wurde sehr viel später dann die Tür zugemauert. In einem  Zimmer schlief ich mit meinen drei Kindern, im anderen war das Wohnzimmer mit Radio. Bei Alarm gingen alle in den Luftschutzkeller, außer uns. Ich habe sogar nachts die Sirene oft überschlafen vor Müdigkeit, aber auch vor innerer Ruhe. Ich badete auch Uli bei Alarm, was sie alle furchtbar fanden. Doch die schlimmste Zeit für uns kam erst am Ende des Krieges. In Oberhof waren noch fanatische Waffen-SS-Leute, die nun dort überall schossen. Die Ukrainer, die oberhalb des Pflanzgartens neben dem Haus untergebracht waren, kamen zu uns aus Angst. Ich ließ sie mitsamt ihren plötzlich anwesenden Mädchen bei mir im Luftschutzkeller sein. Dort hatte ich zwar meine Koffer mit den Wertsachen hingerettet, aber das war nun alles unwichtig. Sie haben nichts genommen, im Gegenteil später viel gebracht. Ich kannte sie ja, weil sie bei mir Holz gespaltet und den Zaun repariert hatten. Unsere Kinder liebten sie, sie spielten mit ihnen, bekamen Speck zugesteckt und einmal ein kleines Kätzchen geschenkt. Es kamen aber nicht nur die Ukrainer, es kamen auch zwei Frauen von der Straße mit  zwei Kindern und einem leeren Kinderwagen. Die wurden nun alle im Wohnzimmer zwischen den Sesseln und auf dem Sofa untergebracht. Die eine Frau bekam Wehen, sodass ich sie zum Aschenhof, damals Entbindungsanstalt, bringen musste, obwohl jeder Ausgang schwer verboten war. Aber ich kannte ja den Waldweg. Sie hat dort ein gesundes Kind geboren, und das etwas größere Mädchen durfte sie auch mit dort behalten. Der Krieg war zu Ende, und die Ausländer verschiedener Nationen, die bei uns im Simsonwerk zur Arbeit verpflichtet waren, fühlten sich nun mit als Sieger. Sie wohnten in den Baracken, hatten im Nu Waffen vom Simsonwerk und rächten sich wie eine wilde Bande. Mancher Albrechtser wurde auf der Straße nur um eines Fahrrads wegen erschossen. Wir hatten lange das Ende herbeigesehnt, auch die Niederlage, weil wir fürchteten, dass ein Sieg den Größenwahn Hitlers steigern würde. Dann wären wir sicher in Russland im Wald eingesetzt worden. So furchtbar die Nachrichten von Stalingrad und vom Rückzug waren, irgendwie musste ja das Ende schnell kommen. Wieviel Leid hatten wir über alle die Völker gebracht! Es ist mir deshalb heute oft wie ein Wunder, dass wir Deutschen wieder in aller Welt geachtet werden und in Ost und West mit dem höchsten Lebensstandard leben. Ein Wunder, dass man uns Glauben schenkt, uns als Freunde anerkennt, unsere Bücher liest, unsere Musik hört und liebt, uns einfach die Möglichkeit gibt, wieder wie Menschen zu leben, die man lieb haben kann, die mitreden dürfen, die mit ihrer Schuld selbst fertig werden müssen, denen man aber verzeiht. Ist das nicht ein Grund genug, dass wir alle Menschen lieben müssen und versuchen sollten, allen zu helfen, damit es ihnen gut gehe und sie nicht in dieselbe Versuchung fallen, die unser Volk damals heimgesucht hat?  Der Krieg war ganz schrecklich, besonders für alle, die viel verloren haben: Menschen, Haus und Heimat. Es ist nun über 40 Jahre her. Alles Materielle konnte inzwischen ersetzt werden, nicht die Heimat, schon gar nicht die Menschen. Wir persönlich hatten keine solchen Verluste, umso mehr sollten wir dankbar sein, auch Ihr heute noch. Alles das, was wir bewusst erlebten, sollte auch für Euch immer Mahnung sein. Ich kann es ja nicht verstehen, wie nach 40 Jahren wieder an Krieg überhaupt gedacht werden kann als Möglichkeit, sich und sein Land zu behaupten. Sind die Wunden so wenig tief gegangen? Es leben doch noch Millionen Menschen, die das alles damals mitmachten. Und da zweifle ich manchmal an meinem Glauben, dass der Mensch von Grund auf gut sei und nur von Machtgier, Egoismus und dem Dünkel, alles besser zu wissen, verdorben werde. Wie kann der Mensch nur denken, dass er mit solchem bösen Tun ein gutes Leben verdient hat? Nichts haben wir verdient, alles wurde uns geschenkt aus solcher Großmut, wie wir sie nie verdient hätten. Wenn wir dies einmal, vielleicht jeder einzeln für sich, bewusst erfahren haben, dann wissen wir auch, dass alle anderen dasselbe Recht auf diese Großmut haben, und wir sollten dankbar sein  und versuchen mitzuhelfen zum Wohle aller. Wir haben es aus dem Krieg besonders eindringlich und empfindlich gelernt, nehmt es uns doch ab, ehe Ihr selbst so schlimme Erfahrungen machen müsst.

In der ganzen Kriegszeit habe ich nur einmal voll die Nerven verloren. Da rannte ich mit der Schütze um nach Heinrichs zur Gärtnerei. An den Baracken vorbei, wo mich die Ausländer anspuckten, mir aber nichts nahmen wie anderen oft die Uhren, und dann war die Gärtnerei zu. Ich lief zu Pfarrer Gorgas, saß weinend und verzweifelt mit seiner Frau auf den Treppenstufen und meinte, dasss meine Kinder nun verhungern müssten, weil wir keine Pflänzchen zur Gartenbestellung bekamen. Aber das war das einzige Mal. Ich bestellte nicht nur den Garten, dazu noch den Acker mit Gemüse und den Pflanzgarten mit Kartoffeln. Letzte bleiben klimperklein, waren aber eßbar. Wenn auch die Kugeln der schießfreudigen Amis über meinem Kopf hinwegsausten, ich bestellte meinen Garten auf dem Acker. Wir durften ja, als nun die Amis bei uns einmarschiert waren, nur an vorgeschriebenen Stunden das Haus verlassen. Ich hörte da unten im Altertal keinen Ausrufer und ging, wann ich dachte, ins Dorf. Im ersten Haus rechts lag die Besatzung, mit der ich mich glücklicherweise mit meinem Schulenglisch verständigen konnte. Sie brachten mich dann mit schwer bewaffneter Eskorte zu Habicht zu Einkaufen. Einmal rissen wir alle aus. Der Sohn von Volkmars kam und erzählte, dass viele bewaffnete Ausländer aus den Baracken im Anmarsch seien, um zu plündern. Wir gingen durch den Waldweg ins Dorf zu Petris. Ich ging als Letzte, schloss die Tür ab und vergaß meinen Korb mit wichtigen Sachen, der nun hinter der Tür stand. Die noch vorhandenen Männer, auch Herr Petri, empfingen die Leute mit Stöcken, bis die Amis dann allem ein Ende machten. Als wir zurückkehrten, war zwar das Glas in der Tür eingeschlagen, aber der Korb stand noch da. Sonst kamen sie einzeln und wollten hauptsächlich Schnaps und Esserei. Ich ließ jeden rein und zeigte meine Speisekammer, meine geringen Vorräte und meine Kinder, die satt werden sollten. Keiner nahm je etwas, nur einer hat mich um Vaters Füllfederhalter gebeten, den ich ihm natürlich schenkte, er war für ihn ein Wunderding. Jeden Tag kamen die Amis mit Maschinengewehren und durchsuchten den Hof und den Hausflur. Einmal waren Mans gerade auf dem Hof, sie mussten ihre Ausweise holen. Bei Herrn Mans meinten sie, dass er gefälscht sei. Sie untersuchten ihn unter dem Arm und fanden da eingebrannte Nummern, woran sie die SS-Männer erkannten. Als sie ihn mitnehmen wollten, rastete Frau Mans aus. Sie alle hatten solche Zeichen in Polen als Umsiedler bekommen. Sie wurde so zornig, dass die Amis ihr mit Erschießen drohten. Aber Herr Mans blieb schließlich da. Ein andermal kamen sie zu mir herein, setzten sich gemütlich in die Sessel, die Beine auf den Tisch, und lasen mir aus einer Liste vor, dass mein Mann bei der SS und im Krieg bei der Waffen-SS war. Erst als ich Fotos in Uniform anbrachte, die Waffen-SS hatte eine ganz andere, glaubten sie mir. –

Eines Nachts klopfte es an der Außentür. Alle kamen an die Treppe herunter, aber keiner getraute sich zu öffnen, auch die Männer nicht. So tat ich es. Es war ein Offizier und sein Bursche, die als Fahnenflüchter heimlich nach Hause wollten ins Rheinladn. Davon gab es viele, auf die erbarmungslos geschossen wurde. Ich nahm sie herein, gab ihnen zu essen und versteckte sie ein paar Tage im Keller. Sie schliefen auf Liegestühlen, ich brachte ihnen das Essen und entleerte ihren Eimer. Außer Albert wusste es keiner im Haus. Die Angst war immer dann, wenn die Ami-Patrouille kamm. Ich hatte mit Albert ausgemacht, dass er die Soldaten zur Hintetür an der Waschküche herausließe, wenn die Kontrolle bis ins Haus kam, während ich sie hinhalten wollte. Aber alles ging gut, nach drei Tagen brachte ich sie in der Morgendämmerung hinten am Rehhäuschen auf den Weg. Ob sie je nach Hause kamen, weiß ich nicht. Viele solcher Soldaten wurden bei uns im Wald erschossen. Zu Kriegsende musste alles Gefährliche abgegeben werden, als da waren Fotoapparate, Messer mit über 10 cm langer Klinge, Nazibücher und vor allem Waffen. Die Fotoapparate lieferte ich ab, die Messer vergrub ich im Garten, wozu leider auch Vaters zwei wunderschöne Hirschfänger gehörten, Hitlers „Mein Kampf“, was wir zur Hochzeit vom Bürgermeister Imann wie jeder Heiratende geschenkt kriegten, verbrannte ich. Das Schlimmste waren die Waffen von Vater im Gewehrschrank, eine neben der anderen. Ich hüllte sie in Gummiregenmäntel und brachte sie mit Albert in den Wald. Witer oben hinter dem Rehhäuschen vergruben wir sie unter Blaubeeren. Aber alle unsere Evakuierten hatten sie gekannt, außerdem hatte jeder Förster Jagdwaffen. Als dann die Todesstrafe für die gesamte Familie bei Waffenbesitz verhängt wurde, holte ich die Waffen mit Albert zurück und ließ sie von Herrn Mans und seinem Sohn Albert zum Bürgermeister bringen, wo sie unter ihren Augen von Panzerfahrzeugen der Amis überfahren und damit zerstört wurden. Nie konnte mir Vater das verzeihen, er hing an seinen Waffen, wo jede einzelne von Spezialisten  und Freunden am Schaft kunstvoll ziseliert war. Ich war beruhigt, doch später, als die Russen schon da waren, schossen Albert und Freunde von ihm hinten auf der Wiese mit einer Pistole. Nun kamen jeden Tag Russen, die die Waffe forderten. Frau Mans dolmetschte. Ich ahnte ja nichts. Eines Tages visitierte ich einfach Mans Küche. Dort fand ich die Nagan-Genickschusspistole, die Vater im Urlaub aus dem Kreig als Erinnerungsstück mitgebracht hatte, in Mans Küchenschublade. Ich sprach mit dem Bürgermeister, der mir riet, sie mit der Begründung zu ihm zu bringen, ich hätte sie im Wald gefunden. Die Russen erkannten die Waffe  und waren befriedigt. Die alten Waffen ohne Munition, nur Museumsstücke, hingen wie manches Museale bei uns an der Wand. Ich warf sie in den trockenen Brunnenschacht. Aber die Jungens, Volkmar und Konsorten, holten sie heraus und spielten damit im Wald, bis sie ihnen abgenommen wurden. So war wirklich alles weg, als Vater heimkam, er war darüber sehr unglücklich. Er hat auch nie mehr eine Waffe angerührt, war in keinem Jagdkommando und ging nie wieder auf Jagd. Eigentlich auch noch aus anderen Gründen: Die ehemaligen Wilddiebe, die er verfolgt hatte, waren nun die Schützen in den Jagdkommandos. Vater erteilte ihnen pflichtgemäß theoretischen Unterricht. Aber mancher Förster ist da in der ersten Zeit durch Jagdunfall ums Leben gekommen. Es passte Vater sowieso nicht, dass man die Jagdwaffen, die zunächst nur in Schrotflinten bestanden, sich für eine Nacht mit abgezählter Munition ausleihen musste und danach über den Verbleib der Munition Rechenschaft geben musste. Bei uns war jedenfalls nach dem Krieg nur noch ein Luftgewehr für Spatzen und ein Bolzengewehr für die Schießscheibe. Wie schon vorweggenommen, lösten die Russen die Amerikaner ab. Sie kamen in kleinen Panje-Wagen mit Pferdchen und sahen vom Kriege gebeutelt und zerlumpt aus. Nun wurde es für mich schwieriger, weil ich kein Wort russisch konnte. Frau Mans musste aushelfen. Eines Tages kamen russische Offiziere und Mannschaft mit einem Wagen, worauf sie ein ganzes Wildschwein hatten. Sie weideten es im Hof aus, schnitten es nach Abbrühen aus der Schwarte und baten uns, ihnen ein gutes Mahl davon zu bereiten. Wir deckten einen langen Tisch, schön mit Decke und Servietten, bereiteten das Wildpret und machten Klöße dazu. Frau Mans, Alma und ich waren da zu Gange. Die Russen waren hoch erfreut; Getränke, viel Wodka, hatten sie mit. Sie bedankten sich und gaben uns noch ein Riesenstück Wildpret für uns. Wir lebten eben etwas unbeobachtet da im Altertal. Auch für die Amis hatte ich öfter Kakao gekocht, wenn sie im Wald etwas  zu feiern hatten, dann bekam ich Kakao geschenkt. Die Russen hatten auf der Talwiese Kuhherden, wohin unsere Kinder gerne gingen. Die Kuhhirten-Soldaten waren ja auch unglücklich fern der Heimat und hatten vielleicht selbst Kinder. Vieles war ganz neu für sie bi uns wie z.B. Wasserspülung oder auch die Motorräder. Sie übten von Albrechts den Berg hinunter, rasten oft vom Wege ab in die Wiesen, überschlugen sich, standen wieder auf und fuhren weiter. Aber wie lange die Russen da waren, das weiß ich nicht mehr. Sehr bald wurde die Grenze zwischen den beiden Besatzungszonen gezogen. Wir blieben bei den Russen, die anderen waren in englische, französische und amerikanische Besatzungszonen aufgeteilt, die später zusammenfielen. Berlin wurde geteilt. Ostberlin blieb unsere Hauptstadt, auch westlich von Berlin noch viel Land, so dass Westberlin wie eine Insel wurde. 1949 wurden die beiden deutschen Staaten konstituiert, was bis heute so geblieben ist.

Im Juni 1945 kam Vater nach Hause. Er war zu Fuß den weiten Weg aus der CSR gegangen und völlig ausgehungert. Vaer musste sich zuerst auch verstecken, aß ungeahnte Mengen Kartoffeln und Grütze und kam nur schwer auf die Beine. Schließlich ging er zur Kommandantur, erzählte alles und bekam Entlassungspapiere. Das war die erste Hürde. Da er in der Partei war, durfte er nur manuell arbeiten. Er ging als Holzhauer mit Axt und Säge in den Wald. Bei dem wenigen Essen und der ungewohnten körperlichen Arbeit fiel ihm das sehr schwer. Aber sie brauchten Forstleute. In Suhl kam Vaer dann vor ein Gericht und wurde entnazifiziert. Ein VVN-Mann, Verfolgter des Naziregimes, trat gleich für ihn ein und verbürgte sich, dass Vaer nichts weiter getan hatte. So war auch dies ausgestanden. Ein normales Leben konnte beginnen. Die Evakuierten kehrten ins Saarland zurück, Mans zogen nach Dietzhausen. Wir hatten wieder jeder unser Bett, wozu in der ersten Zeit gar kein Platz war. Unser Leben ging weiter mit viel Arbeit und der Sorge um das tägliche Brot. Aber da geschah manches Wunder. Morgens lag ein Brot vor der Türe, einer brachte einen Sack mit Tauben. Ein alter Mann aus Heinrichs gab uns die erste Ziege mit Hörnern. Wir kamen mit der Zeit auf vier Ziegen, die alle gute Milch gaben, weil sie im Sommer immer draußen auf der Weide waren. Morgens aßen wir auf dem Herd geröstete Kartoffelscheiben, Kartoffeln nahm Vater mit in den Wald oder auf Dienstfahrt. Wenn man unterwegs wo essen wollte, musste man Kartoffeln und Briketts mitbringen. Wir versetzten alle unsere Armbanduhren und was wir noch Wertvolles fanden und bekamen dafür Mehl, Fett und vor allem Maggigrütze aus alten Wehrmachtsbeständen. Wir fanden auf dem Boden eine große Büchse mit altem ranzigen Pferdefett, was wir mit Brotscheiben ausließen, die den ranzigen Geschmack wegnahmen. Wir hatten eine Pfanne mit Rührgerät, um Kaffee zu mahlen, damit mahlten wir Erbsen oder Rohkaffee, den Vater mal im Strumpf im Urlaub mitgebracht hatte. Wir sammelten Bucheckern, brachten sie teilweise zur Ölmühle und machten sonst Bienenstich damit. Wir bereiteten im Waschkessel aus Zuckerrüben mit viel Arbeit Rübensaft, der ganz herrlich schmeckte. Wir buken in unserem Backofen in der Waschküche Brot und Brötchen. Robert Jentsch schlachtete seinen alten Gaul, der bei uns im Keller aufbewahrt wurde, damit ihn keiner fand, das war schwer verboten. Alle Angehörigen von Robert holten sich im Dunkeln ihr Teil stückenweise. Wir aßen jeden Tag Pferdefleisch, drehten nachts Gehacktes durch den Wolf vom Gaul, machten Koteletten, Gulasch, alles ging und schmeckte fantastisch. Einmal fingen wir auch ein Reh im Eisen; das war nicht gerade jägermäßig, aber eben durch Hunger. Wir haben es nachts verarbeitet und fürchteten immer, dass man den Rauch aus dem Schornstein sehen würde. Auch Hasen haben wir manchmal so gefangen. Werner Nötzold bekam unsere Garage als Pferdestall und bestellte nun  unseren Acker und half mir sehr bei der Heuernte, weil Vater gar keine Zeit dazu hatte. Heuernte auf der Waldwiese und hinter dem Haus war für uns alle ein Fest. Als Ihr noch kleiner ward, veranstaltetet Ihr Springen über die Haufen, spieltet Verstecken darin und abends waren es Eure Wohnungen. Später habt Ihr gerne geholfen. Heumachen war für mich die schönste landwirtschaftliche Arbeit, besonders auch so ganz alleine im Waldstück an der Straße. Ich erinnere mich noch, wie ich aus Versehen in ein Wespennest gestoßen habe, wonach Schwärme von Erdwespen kamen. Ich war am Rücken total zerstochen. Der arme Hund konnte sie aus dem Fell nicht los werden und lief bis in den Bach. Auch die Hansmänner kamen gerne zur Heuernte, Helmuts Schwägerin mit Stöckelschuhen aus Düsseldorf. Ich hatte nie genug Geld, Werner Nötzold lieh es mir immer bis zur nächsten Ersten, da bekam er es zurück. Es war schon eine verrückte Zeit. Und wir wagten es trotzdem, noch Renate und Michael zu bekommen. Und jedes Kind machte mich glücklicher. Ihr ward aber auch alle so wie Königskinder: Schön, frei, lieb, ein Segen.

Renates Geburt war wieder ganz anders als die anderen. Es war nun viel schöner und leichter, weil Vati zu Hause war. Es war dieselbe Hebamme aus Wichtshausen wie beim Uli, die das ruhig und zuverlässig machte. Nun brauchten wir weder die Oma aus Hamburg noch Frau Kettner. Wir hatten damals noch das große Schlafzimmer mit Fenster zum Hof. Ich zog in Vatis Bett um, weil dort mehr Licht und der Frisiertisch waren. Letzteres war zuerst der Wickeltisch. Vati legte mir Wes´chen, wie wir Rentate lange nannten, auf den Bauch, so konnte ich sie alleine versorgen, dann auch schneller aufstehenbis zum Frisiertisch. Ich hatte oft Hilfen, zuerst die Pflichtjahrmädchen, später Lisbeth, eine Umsiedlerin, die ganz mit zur Familie gehörte. Sie liebte die Feld- und Stallarbeit mehr als das Häusliche, was mir ja lieb war. Liesbeth hatte als Kind ihre Eltern verloren und musste mit 14 Jahren auf Bauernhöfen arbeiten. Sie erlbete bei uns erstmalig Weihnachten in der Familie, da war sie so glücklich. Liesbeth hatte zuvor im Osten, jetzt Polen, in einer Spulerei gearbeitet. Drthin fuhr sie nun öfter zu den alten Kollegen und brachte für wenig Geld Spulen mit Baumwolle mit, die ihr die Kollegen verschafften. So strickten wir denn! Drei Spulen zusammen ergaben einen Faden zum Stricken von Strümpfen, Hemden, Schlüpfern. Als Lisbeth auch buntes Garn brachte, und wir von den Großeltern aus Hamburg bunte Wolle bekamen, entstanden Pullover, Kleider und Mützen. Die Mützen waren ein Ding für sich. Die bestrickten Schilder waren aus dem Wald, Schilder mit der Aufschrift „Schonung“ oder „Rauchen verboten“. Wir hatten immer tüchtig zu tun,  zumal Vater sher angespannt in seinem Beruf arbeiten musste. Er musste alleine nachts die Löhnung machen, da war kein Lohnbüro. Vater gründete den Pflanzgarten am Aschenhof, um selbst standortgetreues Saatgut zu ziehen. Dort machte er viele gelungene Versuche, z.B. mit Placenta (Nachgeburt), was er von Onkel Hans aus der Klinik bekam. Bestimmt habe ich nicht allzuviel Zeit für Euch gehabt, aber ich bemühte mich, vieles nachts zu tun mit Coffeintabletten, und ich glaube, wir hatten doch alle eine schöne Zeit. Ihr hattet ja freien Auslauf, immer viele Freunde rundum und erfandet viele Spiele ohne gekaufte Spielsachen. Sonntags sind wir auch meistens in den Wald gegangen bis hin zum Seßles zum Baden. Den kleinen Michael musste ich oft auf dem Rücken tragen. Ostern wurden die Eier im Wald versteckt. Ich vergass manchmal die Plätze, wo der Osterhase alles versteckt hatte, sodass wir zuweilen noch im Sommer Eier oder Apfelsinen fanden. Beim Osterspaziergang verlor ich immer einige Eier, Ihr aber suchtet vor allen Dingen unter den Baumwurzeln, weil Ihr dort die Zwergenwohnungen vermutetet. Heide und Eva waren schon in der Schule, als Michael geboren wurde. Alle anderen Kinder hatte ich zu Hause bekommen, aber Michael kam in der Klinik in Suhl zur Welt. Auch er hatte sich als Bube angemeldet, nur nicht mit einer dicken Schilddrüse, sondern mit Krampfadern vom Fuß bis zum Bauchnabel. Natürlich wollte ich sie einöden lassen. Aber siehe da, im Wochenbett, das diesmal fast vier Wochen dauerte, verschwanden die unangenehmen Adern. Ich war schon vorher fast drei Wochen in der Klinik, Michael wollte nicht so schnell kommen. Zuerst kam ich sofort in den Kreißsaal, weil alle dachten, das fünfte Kind flutscht nur so heraus. Fehlanzeige! Keine Einleitung, kein Hitzekasten, kein nächtliches Walzertanzen mit der Hebamme halfen. Als ich bohnern sollte, streikte ich und fuhr lieber alle Tage mit Vater auf dem Motorrad die holpfigen Suhler Seitengässchen und in den Wald. Michael ließ sich nicht beirren und kam ganz normal von stattlicher Größe und über acht Pflund schwer am 12. August zur Welt. Alle Schwestern kamen mit einem Röschen von der Klinikmauer zur Gratulation und freuten sich mit mir. Danach blieb ich wie gesagt noch vier Wochen dort, weil die Ärztin mich erst hochpflegen wollte. Renatchen war zwar auch nach dem Krieg geboren, aber da war ich noch nicht so ausgepowert wie dann bei Michael. Lisbeth war damals schon weg, weil wir sie nicht mehr bezahlen konnten. Tante Helle war bei Euch. In den nächsten drei Jahren, wo ich je eine Unterleibsoperation hatte, war auch Tante Dora da und Frau Hasenritter half aus. Letztere lebt heute noch mit 87 Jahren im Westen. Babette Volkmar ist nicht zu vergessen, die immer zur rechten Zeit kam. Als ich mit Michael aus der Klinik kam, hattet Ihr vom Hoftor bis zur Haustür rechts und links Bäumchen gesteckt. Wir gingen viel schöner als auf rotem Teppich durch diese kleine Siegesallee bis zum Willkommensschild am Haus. Alle freuten wir uns sehr über das kleine Brüderchen. Da sein erster Laut später „Gogo“ war, nannten wir ihn bir zus Schulzeit Gogo. Über Eure Kindheit und Schulzeit wisst Ihr ja viel besser Bescheid, da hat jeder seine eigenen Erlebnisse. Ihr ward fast immer gesund. Als Kleinkind litt Heide an chronischer Verstopfung, weshalb sie eine Weile in Jena an der Uni-Klinik bei dem berühmten Professor Ibrahim war. Aber das hatte nichts geholfen, sie nur verängstigt, sodass ich mir schwor, nie wieder ein Kind in die Klinik zu bringen. Eva hatte schon als Schulkind Scharlach, wo ich dann mit ihr oben im Giebelstübchen hauste und nur abends, wenn die anderen im Bett waren, unten wirtschaftete und schlief. Jetzt erst erzählte Eva mir, dass der kleine Uli immer zu ihr ins Bett kroch, wenn die Luft rein war, und er hat sich ncith angesteckt. Die Beiden haben sich später noch viel gegenseitig geholfen. Für Eva war diese Zeit der Durchbruch, danach fiel es ihr in der Schule viel leichter. Oft habe ich mir dann Gedanken gemacht, ob bei fünf Kindern das Einzelne zu kurz kommt. Nun habt Ihr jeder nur eins außer Uli, der zwei hat, und könnt auf dieses besonders eingehen. Renate hatte als etwa Dreijährige Lungenentzündung. Da musste sie immer unten im Kinderzimmer am offenen Fenster sein. Sie und  Uli mussten regelmäßig zum Durchleuchten, aber es wurde alles gut ohne jeden Schatten. Michael fiel vom Baum, schon als Schulkind, und war kurz mit Gehirnerschütterung im Krankenhaus, worauf er noch länger zu Hause war und ein Jahr zurückgeschult wurde. Aber er behielt keinen Schaden nach. Heide sprang vom Springturm im Heinrichser Schwimmbad mit Kopfsprung auf einen Schwimmer drauf und hatte Gehirnerschütterung, wonach sie lange alles doppelt und dreifach sah. Renate hatte „Entenfüße“, musste Extraschuhe tragen, die Vater ihr machte, und besondere Gymnastik machen. Aber nun hat gerade sie einen unvergleichlich schönen Gang. Renate war unser Nestflüchter. Sie wollte immer einkaufen und besuchte alle möglichen Leute in Albrechts oder Mäbendorf, wo sie bei Helga Henkel blieb. Uli ging als Einziger eine Zeitlang in den Kindergarten, der ja am anderen Ende des Ortes lag. – Und hier schreibt Euch alle noch Eure Erlebnisse dazu oder erzählt sie Euren Kindern.

Eine Zeitlang waren Onkel Hans Schlegelmilch und Tante Luise oft bei uns. Besonders Onkel Hans spielte gerne mit uns allen Völkerball oder Federball mit Netz und Volleyball. Wenn die Hansmänner kamen, wurde vor allen Dingen Tischtennis gespielt, da waren sie Profis. Ihr alle lerntet dies sehr früh und trainiertet im Hof, wovon noch viele Fotos zeugen. Wir Großen spielten aber auch alle Woche abends bei Helles in Mäbendorf Tischtennis. Wir nahmen dann Schlegelmilchs, die noch auf dem Aschenhof wohnten, mit im Auto. Helles hatten einen Bekannten aus Kölleda, der gut spielte, und immer Kämme jeder Art als Gewinne mitbrachte. Einmal fuhr mir Vater, als ich mit Onkel Hans das Auto herausschieben wollte, über meinen Fuß, wonach ich lange humpelte. Aber ich fuhr mit nach Mäbendorf, wurde verdonnert, die Waffeln zu backen und spielte dann noch einbeinig mit. Als auch Nötzolds noch mitkamen, fuhren wir im Winter mit angehängtem Schlitten. Wer darauf saß, hatte den Schnee bis hoch in den Hosenbeinen. Gleich nach dem Krieg lernten wir durch Helles die Hansmänner kennen. Helmut und Günter kamen mit großen Säcken, um bei Anton Helle Holz zu holen, da es in Erfurt kein Brennmaterial gab. Dies blieb auch eine Freundschaft für das Leben wie mit Schlegelmilchs. Tante Luise starb dann im Westen, und Onkel Hans hat eine neue junge Frau. Tante Helle ließ sich scheiden und heiratete den Fabrikanten Schuch in Suhl, wodurch sie drei Kinder aus dessen erster Ehe bekam. Wenn wir damals so feierten, waren außer dem jungen Apotheker und Frau verschiedene Maler aus Suhl dabei; später viel und gerne der Fotograph Heiri Walleiser, mein spezieller Freund, der als Edelkommunist aus der Schweiz kam, und mit dem ich endlos diskutieren, aber auch tanzen und radfahren konnte. Von Albrechts kamen Jentschs und Nötzolds dazu. Bis auf Hansmanns, Nötzolds und Tante Helle sind alle im Westen. Ihr erinnert Euch alle an einige unserer Feste. Aus Alkoholmangel tranken wir selbstgemachten Kornschnaps, aus Beeren gemachten Wein, und einmal brachte Helmut so was wie Haarwasser mit, was die Männer dann auch mit Todesverachtung tranken. In der Zeit nach dem Krieg glaubten alle Männer, nun die verlorenen Jahre nachholen zu müssen. Das Geld war nichts wert. Alle fingen in der Stunde 0 mit 40 Mark wieder an. Aber vorher kaufte man die unsinnigsten Sachen zum Trinken, Rauchen und Amüsieren. Tabak haben wir im Garten angebaut, die Blätter getrocknet, fermentiert und ewig auf dem Herd stinken lassen, dann zerkleinert und in Zeitungspapier zu Zigaretten gedreht. Manchmal machte Vater mit noch viel mehr Gestank Kautabak. Aber die Feste hatten ihr Schönes. Meistens waren sie bei uns, manchmal bei Helles. Weil Ihr ja oben schlieft, räumten wir unten alle drei Zimmer, die damals noch ineinander übergingen, aus und so zu gemütlichen Ecken und Tanzflächen. Die Wände bemalte ich mit Onkel Hans auf Rückseiten von Tapetenrollen. Ich weiß noch, wie Onkel Hans die Kuh von Barcelona malte  und ich von Busch Agathe mit dem Reifrock. Wir machten Verse, irgendeiner spielte Klavier, wir sangen, und wir hatten ein richtiges Grammophon zum Aufziehen. Mitten im Tanz, wenn die Musik immer langsamer wurde, musste schnell einer kurbeln. Wir hatten noch keinen Diamanten, sondern Stahlnadeln oder umgearbeitete Stecknadeln; es waren nur wenige Schallplatten, diese schweren, zerbrechlichen, wir spielten halt immer wieder dasselbe. Kaweraus waren übrigens in der letzten Zeit auch dabei. Wir machten Schießwettbewerbe und andere Spielchen. Zu Silvester brachten die Männer einmal die Hörnerziege „Liese“ ins Zimmer, um ihr Wein zu geben. Günter Hansmann konnte am laufenden Band Witze erzählen, noch schlimmer als Klaus Gengelbach. Wir bogen uns vor Lachen, obwohl wir eben auch schon vieles kannten mit der Zeit.

Ihr gingt in Albrechts und zeitweise in Mäbendorf zur Schule, Heidi und Eva die letzten Jahre in Suhl.

Zu Tollwutzeiten zogt Ihr mit Knüppeln los, weil die tollwütigen füchse bis ins Dorf kamen und sc hon ihr Geifer am Wegesrand ansteckend war, wie Euch die Lehrer sagten. Die Schulzeit war im Rückblick bestimmt eine schöne Zeit,  zumal ja im Dorf dann alle Klassenkameraden gut zusammenhielten. Nur zweimal wurde ich zur Schule zitiert auf die Schnelle. Einmal hatte Heidi, Vater Geheiß entsprechend, sich nichts gefallen zu lassen und zurückzuschlagen, mit einem Knüppel im Schulhof herumgeschlagen. Da musste ich sie aus dem Schulkeller, wo man sie eingesperrt hatte, holen. Ein andermal hatte Uli einen riesigen eisernen Ofen umgeschmissen, weil er als Erster am Ofen auf einer langen Bank saß, wo nun alle schubsten. Aber sonst war ich ja im Elternbeirat und erfuhr dort alles  und nichts Schlechtes. Ihr lerntet alle zeitig schwimmen, konnten gut skilaufen und habt überhaupt alles mitgemacht, was möglich war. Zum Fasching habt Ihr Euch verkleidet, zur Kirmes seid Ihr im Umzog mitgezogen und habt beim Gickelschlagen zugesehen. Als dann mal in  Heinrichs der Zirkus war, hatten wir nicht das Eintrittsgeld, gingen aber trotzdem hin eben in die Tierschau. Mir war das furchtbar, aber Ihr hattet auch so Eure Freude. Ich denke schon, dass Ihr so glücklich ward, wie es Kinder eben sein können, und ich war es mit Euch. Fast 20 Jahre Altertal sind eine lange Zeit. Später fuhr ich oft abends mit dem Fahrrad nach Suhl zur Kulturgemeinde oder aber auch mit Schlegelmilchs zum Tanz oder nur zu Schlegelmilchs, wo wir uns vorlasen und erzählten. Als sie dann weg waren, fuhr ich öfter nach Heinrichs zum Chor oder zur Bibelstunde, aber auch weiterhin nach Suhl ins alte Kulturhaus. So  unbedingt hatte ich es ja gar nicht nötig, denn immer mal hatte ich mein Konzert ganz privat für mich im Altertal. Da war die Sängerin, Fräulein Blumentritt, die zeitweise als Lehrerin aushalt; da war Inge Fleichhauer, die Gesang studierte, beide musste ich am Klavier begleiten. Da war Helmut Hansmann, der mir auf dem Klavier und mit Gesang viele schöne Stunden bereitete. Helmut bemühte sich sehr, mir Bach nahe zu bringen und mich in die Kunst der Fuge einzuführen, ohne Erfolg. Abends machte er mir Wunschkonzert, wo bestimmt Brahms „Feldeinsamkeit“ und Schumanns „An den Mond“ und Schuberts „Wanderers Nachtlied“ und „Morgenröte“ dabei waren. Da war auch Tante Dora, die als Pianistin ausgebildet war und mir viel Chopin und Liszt vorspielte. Alle brachten noch Musikerfreunde mit, denn im Altertal konnte man sich gut erholen. Wir Großen fuhren auch alle zusammen (Schlegelmilchs und Helles eingeschlossen) nach Erfurt, wenn Helmut eine Premiere hatte oder sein erstes Schubertkonzert gab oder aber zu Günters Geburtstag. Ich fuhr mit nach Meiningen, als  Hansmanns dann dort am Theater waren, habe die „Zauberflöte“ mit Helmut als Sarastro und „Salome“ von Richard Strauß in ganz toller Erinnerung. Das waren gewiss alles kleine Genüsse, aber wir lebten so in der Einsamkeit, dass es alles große Erlebnisse wurden. Wenn ich in Suhl nur einmal den Dresdener Kreuzchor sah und hörte, dann war ich so erfüllt, dass dies lange nachklang. Drum seid nie traurig, wenn Ihr vielleicht denkt, zu wenig zu erleben. Das Wenige wird viel, wenn Ihr es voll erlebt. Es war ja auch mein Traum, einst mit meinen Kindern Hausmusik zu machen. Heidi hatte Klavierstunde bei Herrn Fleischhauer, der seinen Namen gemäß Heidi wirklich mal mit dem Kopf auf die Tasten haute, und die Noten in seinem Zimmer zerstreute. Zum Glück war anstatt Heidis Kopf die Taste kaputt. So kam sie bald zu Fräulein Teubert nach Suhl, und sie hat immer etwas daraus gemacht bis heute. Sie konnte Sabine auf der Geige und Flöte begleiten und zu aller Gesang spielen. Renate kam auch zu Fräulein Teubert, aber die Zeit war wohl zu kurz, weil wir dann Suhl verießen. Eva lernte das Gitarrenspiel, was sie in ihrem Beruf gut brauchen konnte. Damals spielte sie immer „Janosch hat einen Garten schön“. Uli versuchte sich mnit der Geige, aber es waren wohl unsere Nerven, die das dann nicht aushielten. Der Anfang des Geigespiels ist immer ohrenerschütternd. So musste ich auf die Enkel warten, wo es dann schon besser klappte. Eure Kindergeburtstage, Eure Basteleien, Eure Spiele, Eure Schularbeiten, das alles hat mir meine Schultätigkeit voll ersetzt. Und Ihr seid in der Abgeschiedenheit nie einsam gewesen, Ihr hattet Euch, Eure Schulkameraden, Eure Nachbarn und uns  und die Großeltern. UndIhr seid alle lebenstüchtig geworden und nehmt dieses starke Erlebenkönnen mit in Euer und Eurer Kinder Leben. Altertal war bestimmt für Euch eine glückliche Zeit, ich merke es, wenn Ihr davon erzählt, besonders die Älteren. Nun wohnt Renate wieder dort in der Nähe, aber der Glanz ist nicht im Wiedersehen, der Glanz liegt in der Erinnerung. Nur war Ihr aus dieeit mit ins Leben genommen habt, ist wichtig. Alles, was Euch innerlich geformt hat, ist bleibend. Nun war die Eva hier und hat auf dem Spaziergang viel vom Altertal erzählt. So gehen meine Gedanken erneut zurück. Es wurde mir wieder klar, wie schön wir es damals alle hatten, und vor allem, wie Ihr Kinder eigentlich alles mitbekommen habt, was zum Menschsein gehört. Die Liebe zur Natur war dort lebensnotwendig und selbstverständlich, das Kreative im Erfinden von Spielen und Spielsachen, vom Ausschmücken Eurer Räume vom Erfinden von kleinen Geschenken für die anderen, das Einfügen in die Gemeinschaft, nicht nur Eure geschwisterliche, sondern auch die der Dorf- und Nachbarsjugend, das Hilfsbereite als Selbstverständlichkeit, was sich dann auch von der Familie a us auf die Anderen ausweitete, das Annehmen des Andersseins anderer Menschen, wo Ihr schon alle so verschieden ward, und die Fröhlichkeit, die innere Freude, die von einem zum anderen sprang. Ja, ich glaube, diese Fröhlichkeit habt Ihr Euch alle bewahrt und sie Euren Kindern weitergegeben. Ich kam aus einer relativ reichen Familie, wo wir alle zusammen zweimal im Jahr verreisen konnten. Wie sehr wünschte ich mir damals nur einmal mit allen Kindern an die See fahren zu können. Nun, da hatten wir noch kein Zelt, das kam erst so langsam auf, schon die weite Fahrt für uns alle hätte unsere Mittel überschritten. Aber alle habt Ihr die Ostsee noch ausgiebig kennen gelernt, die Jüngeren mit uns auf unseren ersten Zeltfahrten und dann die Enkel alle mit Euch oder mit uns, da bin ich froh. Eine sehr liebe Erinnerung habt Ihr alle an Babette Volkmar, die in jedem Notfall zur Stelle war und Euch lieb betreute. Ich besuchte sie jetzt mit Renate. Sie ist 85 Jahre alt und erinnert sich noch stark an Euch alle. Sie war ja auch Brigadier bei den Kulturfrauen im Wald, wo sich Vater ganz auf die verlassen konnte. Wenn ich heute das kleine Forsthaus dort betrachte, was unverändert steht, bin ich erstaunt, wieviel Platz wir dennoch hatten. Die Küche war zuerst nicht gedielt, dadurch kalt auf dem Boden. Ich weiß, in einem Winter ließen wir den Wasserhahn leise laufen, damit das Wasser nicht einfror, wobei aber nachts der Ausguß durch den nur schmalen Strahl gefroren war, und wir am nächsten Morgen eine dicke Eissicht auf dem Fußboden hatten. Trotz kräftigen Herdheizens dauerte es tagelang, ehe alles trocken war. Wir haben dann gedielt, und Ihr liebtet es, mit Hausschuhen an den Füßen zu bohnern, indem Ihr eine Schlidderbahn daraus machtet. Das Wasser fror oft ein im Winter, weil das Rohr vom Hydranten, vorne an der Ecke außerhalb des Zauns, nicht tief genug in der Erde lag. Da hatten wir dann bisi Anfang Mai kein Wasser. Wir tauten Schnee, den es damals immer in Massen gab, aber was blieb von einem Haufen Schnee übrig als ein bisschen schmutziges Wasser. Also zogen wir mit dem Handwagen und Waschbütte und Eimern in die Nachbarschaft den Berg hoch, bis wir später auf den Gedanken kamen, den Hydranten jeden Tag kurz zu öffnen und dort allen Tagesbedarf zu holen. Da dort das Wasser stark kam, entstand rund um den Hydranten ein Eisberg, der es immer schwerer, aber auch lustiger machte, dort Wasser zu zapfen. Wenn der Schnee weg war, machten wir Holzfeuer im Hof über dem Wasserrohr, bis es auftaute. Sonst war Eis ja etwas Schönes. Alle Kinder zusammen hatten zuerst nur ein Paar Schlittschuhe, was dann umschichtig an jeden Schuh passend gemacht werden musste. Aber alle konnten gut laufen, übten mit diesem alten Paar Kurven auf dem Tümpel am Haus und auf den Wiesen. Im Frühjahr war dann Hochwasser auf diesen Wiesen, da wurden die Zinkwannen aus der Waschküche zu Wasser gelassen und Paddel aus Holz geschnitzt. Skilaufen konnten auch alle von klein auf mit geschenkten alten Skiern, selbstgefummelten Bindungen und normalen Schuhen. Dennoch sprangen alle über die selbstgebaute Sprungschanze. Eva holte dann mal mit der Schule zu unser aller größtem Erstaunen einen Preis beim Skilanglauf in Oberhof. Eva war überhaupt ehrgeizig. Heid und Renate fiel es in der Albrechtser Schule nur so zu, Eva erreichte es auch, aber sie war fleißig und musste viel lernen. Sie wollte aber auch alles können. Sie hatte ein großes Stück im Garten zur Selbstbewirtschaftung, wo es nur so grünte und sprießte; und wenn es mal Lücken gab, grub sie Vasen mit Sträußen in die Erde, so dass man es nicht merkte. Eva lernte als Erste das Melken, so dass wir dann a uch mal über die Melkzeit hinaus weg konnten. Sie machte auch selbst Futter, für die Tiere war dann gesorgt. Noch jetzt träumte sie, sodass sie nachts voll naßgeschwitzt aufwachte, weil sie vergessen hatte, die Ziegen zu melken, deren Euter am Platzen waren. Eva hat auch unmögliche Suppen gekocht, die aber sogar Vater mitgegessen hat. Heidi hatte es am schwersten, denn sie trug immer die Verantwortung für alle kleineren Geschwister. Einmal saßen alle eng beisammen auf dem kleinen quadratischen Schusterschrank in der Küche und hatten Angst. Das Bild kann ich bis heute nicht vergessen. Aber oft seid Ihr nicht alleine gewesen, Vater und ich gingen getrennt aus. - -

Nun bin ich abgekommen vom Haus. Neben der Küche war das Kinderzimmer, wo Ihr zuerst schlieft. Später aber war die Bank genau passend hinten in die Ecke gezimmert, darinnen war mein alter Wickeltisch, an dem Ihr alle und schon Tante Dorle und ich gewickelt wurden, groß und quadratisch. Dies war der beste Spieltisch, den man sich denken kann. Einmal konnte eine große Runde mit vielen Freunden daran Platz finden, zum anderen konnte auch jeder sein Teil für sich haben für Schularbeiten. Ich hielt dort oft meinen Mittagsschlaf auf der Bank, um Euch alle in der Nähe zu haben. Lange stand davor dann das Ställchen für unsere Kleinsten, worin dann aber alle gerne spielten. Vorne war der Kachelofen. Kachelöfen waren in jedem Zimmer. Vater bekam viel Deputatholz, was auf dem Hof mit der Zweimann-Handsäge gesägt wurde, auf dem Hackeklotz – auch schon von Euch – gehackt wurde und von großen Haufen dann in den Holzstall gestapelt wurde. Das war eine Kunst für sich, Luft sollte durchziehen zum Trocknen, aber einfallen durfte auch nichts. Wir haben damals ausschließlich mit Buchenkloben geheizt, was bessere Hitze als Kohlen gab. Fichtenholz war nur zum Anmachen da, wozu wir dann zuerst Spänchen machen mussten. Unten im Haus waren noch drei Zimmer, wovon das gute Zimmer gleichzeitig Vaters Dienstzimmer war. Dann unser aller Eßzimmer und Aufenthaltsraum mit Klavier und unser Elternschlafzimmer.  Oben war nur ein wandgerades Giebelzimmer, worin Heidi und Renate schliefen, was zur Not auf heizbar war. Daneben eine schräge Dachkammer für Michael. Die ander schräge Kammer war Evas Zimmer, welches einem Wintergarten glich, voller Blumen und Gewächse trotz seiner Winzigkeit. Für Uli hat Vater dann noch eine schräge Kammer zur anderen Seite mit Holz abgeschlagen, was klein, aber sehr gemütlich wurde. Bad und Klo waren auf der Giebelseite zum Wald hin, daneben noch eine schräge winzige Abstellkammer, worin wir einmal ein riesiges Wespennest hatten, ein Kunstwerk, welches wir am liebsten gar nicht zerstört hätten. Aber gerade unter dme Fenster war unsere Gartensitzecke, wo wir im Sommer auch unsere Stachel- und Johannisbeeren pulten. Vom Klofenster oben konnte man abends am besten die Rehe beobachten. Sie wussten wohl, dass da nicht geschossen wurde, und trafen sich zum Äsen, und die Kitze spielten miteinander. Hirsche kamen nur zuweilen im Winter an die Fütterung gleich hinter der Wiese, sie waren sonst höher auf den Bergen. Wildschweine kamen nachts auf den Kartoffelacker, die wir nur vertreiben konnten, indem wir vom Friseur viele ausgekämmte Haare holten und diese in die Rillen vergruben. Das kitzelt die Schweine wohl am Rüssel. Apropos: Wildschwein. Einmal trafen Heidi und ich eins in der Nähe des Aschenhofs beim Skilaufen, da haben wir Reißaus genommen. Und ein andermal war ich mit Eva mit dem Fahrrad zu den Großeltern nach Schleusingen gefahren, sie lebten dort im Altersheim. Schon die Hinfahrt war abgewechslungsreich. Wir besuchten in Erlau die Eltern Hasenritter. Große Freude bei Frau Hasenritter. Wir hörten, dass in der Küche Schlagsahne geschlagen wurde, also Kaffeetrinken mit verschimmelter Johannisbeertorte und flüssiger Schlagcreme. Aber wir aßen mit Todesverachtung aus lauter Anstand alles. Dann fuhren wir noch auf den Kohlberg, wo die Großeltern Kawerau mnit Göddi waren. Die Oma war Schweizerin, dort gab es Mokka mit Schweizer Sahne und ganz tolles Schweizer Gebäck. Dann war es schön bei den Großeltern Braun, sodass wir lange verweilten. So ereilte uns die Dämmerung auf dem Rückweg, und wir wollten abkürzen. Im Wald kamen wir dann auf einen Wegestern und mussten uns nun entscheiden, welche Richtung wir wählten, wir fuhren immer weiter weg vom Ziel. Es war schon recht dunkel, als wir einen Bauern trafen, der uns sagte, dass das nächste Dorf Eisenberg sei, wovon wir noch nie gehört hatten. Es sei unmöglich, noch den Weg nach Hause zu finden. In Eisenberg gab es ein Gasthaus, welches gerade zwangsweise geschlossen worden war. Dennoch gaben sie uns ein schmales Fremdenzimmer mit einem Bett und etwas zu essen. Das einzige Telefon war auf der Poststelle am anderen Ende des langen Dorfes. Dorthin gingen wir nun, um zu Hause Bescheid zu sagen. Vater hat mich ausgelacht mit Recht, denn ich habe eben keinen Orientierungssinn; bis heute verlaufe ich mich immer. Wir schliefen kaum und machten uns im frühsten Morgengrauen auf, nachdem wir den Weg erfragt hatten. Eva sollte ja zur Zeit in der Schule sein. In einem Tal am Weg lag plötzlich eine riesige Wildsau. Wir hatten solchen Schreck, dass wir vorbei und in rasender Eile weiterfuhren und dadurch so zeitig zu Hause waren, dass wir noch alle wecken konnten. Sonst hatten wir zum Wildschwein eine enge Beziehung, denn wir bekamen zwei Frischlinge, die die Mutter verlassen hatte. Wir haben sie zu den Ziegenlämmern in den Stall getan, wo sie sich schon der ersten Nacht alle dicht beisammen hingelegt hatten, Ziegenlämmer und Schweine, um sich zu wärmen. Das eine kleine starb, das andere nahm brav die Flasche und fraß bal mit den Zicklein aus einem Napf. Unser „Wutz“ wurde unser Haustier, es wuchs schnell, war ganz zahm, legte sich auf den Rücken, um am Bauch gekrault zu werden, und tobte sonst mit den Ziegen auf der Wiese herum. Leider musste wir es weggeben, als wir fortzogen; bei den neuen Leuten hat es sich nicht eingewöhnt, hat vieles zerstört und ist immer durch den  Zaun ausgebrochen, sodass sie es töten mussten. Natürlich hatten wir auch manchmal kranke Rehe mit Würmern im Hals oder einem gebrochenen Bein, das geschient werden musste; auch Eichhörnchen oder einen wilden Hasen. Letzerer war im Ziegenstall, wo er aber ganz frech am Euter der Ziegen zuckelte und sie dabei zerbiss, sodass wir ihn heraustun mussten. Wenn die Tiere groß und gesund waren, wurden sie sowieso in die Freiheit entlassen. Hunde hatten wir natürlich immer. Zuerst einen Rauhaarteckel für die Jagd, dann alle möglichen vom Vater aufgelesenen Hunde, die Pflege brauchten. „Wacker“ ist mir noch in Erinnerung, ein Foxterrier, der mal Jugendsieger war, und nun alt. Er rannte nach allem sich Bewegenden und riß sogar den Männern auf dem Fahrrad die Hosen herunter. Besondere Angst hatte Herr Blatt, unser Postbote. Wacker fraß eines Tages die Hühner mit Federn, sodass ihn Vater erschlagen musste. Wir hatten ja einen großen Zwinger, aber als wir eines Tages nach Hause kamen, war im Zwinger neben unserer Hündin noch ein dreimal so großer Hund, der sich unter dem Drahtgitter durchgegraben hatte, aber es war zum Glück nichts passiert. Unser schönster Hund war „Asta“, eine echte Wachtelhündin, die Vaters treuer Waldbegleiter war. Sie blieb bei Vaters Rucksack neben dem Auto sitzen, bis er von den Holzhauern zurück kam. Mit den Holzhauern hatte er allerdings manchmal die Frühstücksstullen aus dem Rucksack geholt und verzehrt. Amsta kam bei Königerode später auf unerklärliche Weise weg, sie war noch mit nach Friesdorf umgezogen. Sehr erfreut ward Ihr alle, dass Werner Nötzolds Pferde in unserer ehemaligen Garage standen. Der Gustav, der Pferdeknecht, war auch besonders kinderlieb. Und eines Tages fanden sich zwei Esel eni, die man in der Nähe im Wald gefunden hatte. Das war eine Freude, sie waren sichtlich kinderlieb und blieben zunächst mal da, bis wir herausfanden, dass sie vom Suhler Domberg ausgerissen waren. Dort mussten sie in das Lokal auf dem Berge den ganzen Proviant heraufschleppen. Ulis nächster Geburtstag wurde auf dem Domberg gefeiert. Wir nahmen Kuchen, auch für die Esel, im Rucksack mit und wanderten dorthin. Die Esel durften dann an  unseren Tisch kommen, und Ihr hattet Eure Freude. Uli beschloss, später Eselsführer zu werden. Er wollte auch eine kleinen Wagen haben. Michael sollte Bäcker werden, und  Uli wollte das Brot allen Leuten gratis ins Haus bringen. Ihr merkt, dass das Wiechertmärchen „Die beiden Brüder“ da ein bisschen Pate gestanden hatte. Für mich war die Altertaler Zeit wohl die glücklichste, als Ihr alle noch zu Hause ward. Eure Probleme waren meine Probleme, da war für meine eigensten zum Glück nicht viel Platz. Ihr ward alle lieb und habt Euch gut entwickelt, ein jeder in Freiheit zu dem, was er geworden ist. Das ist bezeugt durch Eure Verschiedenheit; Ihr hattet zwar viele Freiheiten, aber immer doch in Grenzen, die die Familie setzte. Das ist bis heute so geblieben, und das wünsche ich Euch auch so mit Euren Kindern. Das Wort „verbieten“ sollte es in unserem Vokabular nicht geben, denn nichts sollen die Kinder aus Zwang, sondern alles aus Einsicht tun, sonst ist es nur vorübergehend. Lasst sie sich ihren Anlagen gemäß entwickeln. Lasst sie ihren Hobbies leben, wenn sie Euch auch noch so irre erscheinen. Seid selber bescheiden und dankbar, dass Ihr so herrliche Kinder habt und freut Euch an ihnen. Alle werden ihren Weg gehen, wozu sie allein fähig sind, begleitet sie in Güte mit Euren Erfahrungen. Wenn Ihr in der Kindheit Vertrauen gebildet habt, wird dies andauern, auch wenn Ihr es manchmal nicht denkt. Als Ihr noch Kinder ward, war ich auch manchmal im Zweifel, was aus Euch werden sollte, aber nie verzweifelt, immer voller  Zuversicht, dass alles gut werde.  Und es wurde alles besser, als ich je dachte. Und wenn mal das Leben sehr hart zuschlägt, denkt an Eure Kindheit und werdet froh darüber. Die Zeiten waren viel magerer als jetzt, die Probleme für uns Eltern bestimmt nicht geringer. Doch weder Zurückschauen und um Verlorenes trauern noch in die Zukunft mit Bangen schauen bringt etwas; man muss heute und jetzt voll und ganz leben, und versuchen muss man, das Seine auch für seine Familie zu tun. Das ist unsere verdammte Pflicht, auch wenn wir noch nicht wissen, welche Früchte es trägt. Und Geduld müssen wir erlernen und warten können, denn „gut Ding will Weile haben“. Schafft Euch Freunde, die Euch das Leben sehr erleichtern. Obwohl wir im Wald lebten, hatten wir viele Freunde.  Und wenn diese zu noch so ungünstiger Zeit kamen, ich ließ immer alles stehen und liegen und war ganz für den Besuch da, auch ohne Handarbeit oder Stopfkorb. Die lieben Besucher sollten denken, dass ich viel Zeit habe, und dass ich mich sehr freue, wenn sie kommen, wann auch immer. Alle Arbeit im Haus lief ja nicht weg. Später haben mir Freunde oft erzählt, wie angenehm sie das empfanden, weil nie der Gedanke aufkam, dass sie störten. Sie sollten sich immer als Bereicherung unseres Lebens fühlen und waren das natürlich auch. Durch Fernsehen und viele hektische Arbeit ist das heute oft anders. Ich überlege mir sehr, wann und ob ich andere besuchen kann, ohne ihnen auf den Wecker zu fallen.

Was für mich noch lebenswichtig war für die Zukunft, war die Erfahrung mit den Bewohnern der Baracken. Oft habe ich in Friesdor mein Denken und Handeln danach ausgerichtet. Ich ging in  Heinrichs zur Kirche, weil wir bei Emmelmanns Einführung Kaweraus kennen lernten, die bald unsere Freunde wurden. Ich wollte nach dem Krieg aus der Kirche austreten, weil mir das ständige Reden von Gott bei meinem Schwiegervater uns sein entgegengesetztes Poltern und Handeln und Menschen verachten so widersinnig erschienen. Gewiss,  Opa Braun hatte im Gefängnis gesessen, weil er frei von der Kanzel gegen den damaligen Gauleiter gewettert hatte. Als er vom Tütenkleben zurückkam, hatte er für immer Redeverbot. Seine erste Frau war mit einem Gutsbesitzer durchgegangen, als er im ersten Weltkrieg als Feldprediger eingesetzt war. Ich mochte Opa persönlich sehr gerne, aber als Pfarrer durfte er dennoch nicht so negativ reden. Opa Braun war Euch allen ein herzensguter Großvater und mir ein guter hilfsbereiter Schwiegervater. Besonders Heidi und Eva haben in Heiligenstadt sehr viel Gutes erfahren  und gelernt. Erst durch Helmut Risch und Hermann Kawerau bin ich ein überzeugter Christ geworden. Hermann hatte Geduld für alle Fragen, und wir haben dann manches zusammen getan. So die Baracken. Mit Irene Öckel fing es an, die ja treu zur Jungen Gemeinde kam und mich auch mit zu sich nach Hause nahm. Vater Öckel konnte nur gebrochen deutsch sprechen, trank zuviel und hatte zwei Kinder aus erster Ehe: Der Sohn war ein leichter Krimineller, die Tochter halbblind. Letztere hat Vater im Pflanzgarten untergebracht, aber sie konnte nicht einmal die Pflänzchen richtig sehen. Mutter Öckel hatte auch zwei Kinder mit in die Ehe gebracht, eins davon war Irene, dann hatten sie noch mindestens vier Kinder bekommen. Ein Haufen Enkel wimmelte noch da mit herum. Es war alles schmutzig, eng und fremd für mich, aber ich ging oft und gerne hin, weil sich alle so ehrlich freuten. Sie wurden von den Leuten gemiden wie alle Barackenbewohner. Ich besuchte die lungenkranke Schwester von Irene auf dem Aschenhof, was sie mir nie vergaß. Ich war zu Irenes Hochzeit, wo es in Suppentellern einen Berg Fleisch und Kartoffeln gab, dazu eine Flasche Bier ohne Glas. Dann war Tanz; ich tanzte mit allen. Als aber ihr Bruder mit Messerstecherei anfing, ging ich, obwohl mir alle gut zuredeten und auch nichts passierte, denn die anderen Brüder hielten ihm den Kopf unter den Wasserhahn und beruhigten ihn. Nur ich hatte so etwas eben noch nie erlebt. Irene kam eines Tages von ihrem Vater völlig blau geschlagen ins Altertal und wollte bleiben. Hermann holte uns dann ab, weil er wusste, dass es mir als Kindsentführung ausgelegt werden könnte. Wir brachten sie zurück, nachdem uns die Eltern versichert hatten, dass so etwas nicht mehr vorkäme. Irene bekam ein Baby von einem großen, schönen jungen Mann, der aber schnell nach dem Westen verschwunden war. Irene überzeugte den armen Trottel, der sie dann heiratete, dass es sein Kind sei, und dann starb es auch noch.  Irene wurde des Mordes bezichtigt, das Kind obduziert, aber es war Versagen einer Drüse. Ich ging nachts mit Irene zum Friedhofswärter, um den Schlüssel zur Leichenhalle zu erbetteln. Wir öffneten den Kindersarg, damit sie beruhigt war, dass sie dem Kind nichts angetan hatten. Also, Öckels hielten mich in Atem. Die anderen Barackenbewohner lernte ich auch alle kennen. Zu einer fast neunzigjährigen Frau ging ich sonntags nach dem Gottesdienst, um ihr davon zu erzählen. Sie besuchte ich auch mehrmals in der Woche. Diese Oma vertrug sich mit keinem in der Familie. Da ich glaubte, dass sie sterben würde, sie lag schon lange fest, überredete ich sie, doch zu verzeihen, um nicht mit diesem Haß in den Tod zu gehen. Nein, sie wollte nicht und lebte auch noch lange. Sie erzählte mir tolle Sachen, dass sie den Himmel offen gesehen hätte im großem Glanz, nur sie und ihr Mann. Als ich einmal sonntags zu dieser Frau wollte, musste ich durch das Schlafzimmer gehen. Da lagen die vier halbwüchsigen Kinder mit ihren Freunden kreuz und quer in den Ehebetten. Eure Vater hatte immer ein bisschen Angst um mich, weil er dachte, dass sie mich mal umbringen, aber dessen war ich sicher, dass sie mir eher beistehen würden. Solche Art war ich von Berlin nur von vielen Bettlern gewohnt, die auf der Straße saßen oder an die Tür kamen. Immer hatten wir Angst davor als Kinder und machten einen Bogen, nur die Leierkastenmänner liebte ich. Und wenn ich heute das Lied von Schubert über den Leiermann singe, shee ich die Leierkästen vor allem im Hof meiner Großmutter, wo cih dann eingewickeltes Geld hinabwerfen durfte. Mit Gerlinde zusammen wollte ich in Friesdorf mir mal einen alten Leierkasten kaufen, aber die sind jetzt unerschwinglich.  Ich habe überhaupt oft von Vagabunden, von Landstreicherleben geträumt, weil mir diese Menschen die einzig freien schienen. „Lumpaci vagabundis“ ware in herrlicher Film mit Rühmann.  Und da habe ich so ein kleines bürgerliches Leben im Dorf gehabt, doch ich muss sagen, dass ich mich auch dort nicht eingeengt fühlte, „Die Gedanken sind frei“ war immer mein Motto. Danach habe ich immer gelebt. Vielleicht pflege ich auch deshalb meine vielen Freundschaften in der Ferne so, weil sie mir den Blick weiten und mich in Gedanken verreisen lassen. Zwei Sachen wünschte ich mir von Jugend an, einmal eine Weltreise zu machen und zum anderen Schäfer zu werden. Es ähnelt sich durchaus, denn auch der Schäfer träumt in die weite Welt, wenn er allein mit seinen Schafen in der Natur ist. Diese ist unbegrenzt für ihn, grenzenloser noch als für den Weltreisenden. Aber ich bin halt ein braver Bürger geworden, wie es schon meine Eltern und Großeltern waren.

Während der fast 20 Jahre Altertal ward Ihr nun alle größer geworden. Heide hat da schon die Armut zu Hause echt empfunden. Ihre Freundin aus Albrechts, Brigitte, hatte viele Kleider, jedes Jahr zu Pfingsten ein neues, dort wurde reichlich und für Heidis Begriffe auserlesen gegessen. Heidi bekam von Tante Luise abgelegte Sachen, die passend gemacht wurden, aber im Geschmack wohl oft von  unserem abwichen. Heidi ging nach Suhl zur Oberschule. An sich fuhr sie mit dem Bus, der in Heinrichs viele Mitschülerinnen mitnahm. Aber schon damals vertrug sie dies schlecht und musste sich oft erst in den Park schmeißen in Suhl, ehe sie zur Schule gehen konnte. Wenn der Bus mittags weg war, liefen sie die 6 km mit ihren Schultaschen. Und da kam sie oft mit völlig erfrorenen Händen weinend nach Hause. Sie waren auch wirklich dick und blau, und Heidi schrien schon am Berg von Mäbendorf hoch. Abends ging sie nach Heinrichs mit anderen Heinrichsern aus ihrer Klasse  zur Jungen Gemeinde, von wo sie mit Angst aber Überwindung im Dunkeln nach Hause kam. Immer konnte ich sie ja nicht abholen. Sie hatte sehr nette Klassenkameradinnen, die auch mir immer viel Freude machten. Ilse Lobenstein, die Tochter eines Kollegen von Vater, war die beste Freundin, die auch bei uns übernachtete. Auch in der Oberschule war Heidis Problem, dass sie so wenig anzuziehen hatte bis hin zur Tanzstunde. Ehe sie zum Studium konnte, musste sie im Simsonwerk ein Jahr Fabrikdienst machen und wie jeder Arbeiter an der Maschine arbeiten. Das war sehr hart, aber Heidi war von Kind an praktisch veranlagt, was sie im Altertal oft unter Beweis stellte, und was ihr ihr Leben lang geholfen hat.

Uli ging nicht sehr gerne in die Schule und erlebte eine  Zeit, mit 12 Jahren etwa, wo er zu Hause ausreißen wollte. Er erzählte es mir, und weil er sich das wohl durch Bücherlesen so leicht vorstellte, machten wir ein Experiment.  Uli holte mich von der Kirche ab, und wir gingen über den Berg ohne Essen oder Geld nach Zella-Mehlis. Da hatte Uli eigentlich schon genug, aber ich erzählte ihm, wie das nun sei, wenn man so ohne alles wegwanderte. Die Eltern Schlegelmilch wohnten in Zella, aber zum Glück waren sie nicht zu Hause. So mussten wir weiter zu Fuß über Suhl nach Hause. Uli hat nichts mehr vom Weggehen gesagt. Als es nun an die Berufswahl ging, hatte er sich zum Gärtner entschlossen. Durch eine Suhler gynäkologische Ärztin, die ich gut kannte, bekam ich den Vorschlag, bei dem ihr befreundeten Herrn Reichelt vorzusprechen. Wir fuhren mit Uli nach Schleusingen und fanden einen Gärtner, wie er im Buche steht. Er pflanzte gerade barfuß mit Riesenhänden ein Bäumchen mmit Andacht und Spruch. Uli dachte zwar, dass es nicht weit genug von  zu Hause war, aber dann kam er immer und war wohl froh um die relative Nähe. Opa Wilcke hatte uns etwas Geld vererbt. Davon kauften wir das erste Moped. Bei Reichelts war Uli ganz in der Familie. Bei Frau Reichelt ging es streng und ordentlich zu, was aber gut tat. Ein Sohn, der gerade Abitur machte, war noch zu Hause und nahm Uli mit zu seinen Kumpeln. Uli hat dort viel gelernt, und Reichelts lieben ihn noch heute wie einen Sohn. Haben sie ihm als Zeichen dafür doch nun die große Krippe vermacht, Uli steht auch immer in Dankbarkeit mit den beiden nun Alten in Verbindung.

Eva machte zuerst in Suhl die mittlere Reife und lernte dann dort im evangelischen Kindergarten als praktische Zeit für die Lehre als Kinderdiakonin. Heidi begann ihr Studium in Leipzig. Sie studierte Germanistik und Kunsterziehung. Sie hatte kleine Buden und immer wenig Geld, aber sie war nun in der Stadt. Dort lernte sie ganz andere Menschen als zuvor kennen. Nur Uta und Maria sind aus der Unizeit bis heute in ihrem Umkreis geblieben. Dazu ihre beiden Kunstprofessoren. Leipzig ist Heidis Heimat geworden, welches sie nur kurz später im Schuldienst verließ. So war die Situation 1959: Heidi war in Leipzig, Eva ging nach Suhl zum Kindergarten, Uli war in Schleusingen, Renate und Michael gingen noch zur Schule. Da sollte Vater die Stelle wechseln, weil zuviele alte Nazis dort waren angeblich. Die uns zugewiesenen Stellen waren alle unmöglich für Schulkinder, diese mussten im Winter in Internate. So wurde es Friesdorf.

 

Aus der Friesdorfer Zeit 1959 – 1978

Vater kannte in Magdeburg einen ehemaligen Staatsförster, der nun den Kirchenforst in der Kirchenprovinz Sachsen unter sich hatte. Herr Grenzendörffer riet Vater sehr zu, zur Kirche zu kommen. Vater kündigte beim Staat, noch ehe wir wussten, wohin wir kommen würden. Da wollte der staatliche Forstwirtschaftsbetrieb in Suhl einlenken, aber es war zu spät. Jedenfalls brauchte nach Vater keiner mehr die Stelle  zu wechseln, keiner wurde mehr fälschlich verleumdet.Wippra war zu besetzen, und wir sahen es uns an. In Wippra selbst wohnte noch lange der Vorgänger. Das alte Pfarrhaus in Friesdorf zeigte man uns nur zaghaft, außerdem ein Traumhaus in Biesenrode auf dem Berg. Der Eigentümer hatte sich innen alles holzgetäfelt mit ganz großen Fenstern und weiter Sicht. Im Winter war es nur mit Skiern zu erreichen, auch nicht mit dem Auto. Dennoch wollten wir hinziehen. Doch die Besitzer brauchten eine Tauschwohnung in einem größeren Ort, weil sie alt und krank waren. So wurde es nichts. Friesdorf war alt und baufällig, wenig einladend. Es wohnte Frau Pastor Huth dort, die noch zu unserer Zeit 90 Jahre alt wurde. Dazu der Kantor Lüdicke mit Frau, drei alte Fräulein und eine  Umsiedlerfamilie mit vielen Karnickelställen. Als wir nach der Besichtigung, wo ich mit Frau Huth auf der Verenda gesessen hatte, dann in Königerode bei Schrecks schliefen, kam abends ein Anruf aus Friesdorf, bei dem uns Frau Huth sagen ließ, dass wir komen sollten; sie glaubte, dass wir die Richtigen seien, auch für die Gemeinde. Das war für mich ein Omen und entschied. - -

Bald wurde im Altertal verbissen gepackt und vieles weggeworfen. Ich dachte, eine Welt fällt zusammen. Ich hing sehr am Altertal, den ganzen Krieg waren wir da so behütet gewesen, Ihr seid alle dort aufgewachsen, es war mir wirklich ganz Heimat geworden. Dazu kam, dass wir Eva und Uli zurücklassen mussten. Wir saßen noch lange zwischen Kisten, bis der Möbelwagen kam. Täglich ging ich in der Abenddämmerung den kleinen Rundweg nach Heinrichs zu, um immer wieder Abschied zu nehmen. Dann war es soweit. Vater übernachtete mit Michael bei Bruno Walden in Dietzhausen und fuhr mit Michael und Asta am anderen Morgen los  auf dem Motorrad mit Beiwagen. Renate und ich fuhren im Möbelwagen mit. Ich saß mit Renate im kleinen Sitzraum auf der Bank im Anhänger, wo wir nicht einmla viel sehen konnten, weil der große Möbelwagen vor uns war. Nachts hielten wir irgendwo, und man sagte uns, dass nun Schlafzeit sei, und wir könnten da auf der Bank schlafen bis zur Weiterfahrt. Ich überredete dann den sehr unfreundlichen Spediteur, vor dessen Haustür wir hielten, uns in seniem Haus warten zu lassen. Dort saßen wir im Vorraum auf einem Sofa und bekamen gnädigst etwas Tee. In aller Frühe ging es weiter. Als wir in Friesdorf ankamen, war Frau Huth noch in allen Räumen. Nur der Gemeinderaum, später Vaters Dienstzimmer, war leer, aber ohne Fensterscheiben, nur mit Pappe davor. Es war November. Die Möbelleute scimpften, rissen den Gartenzaun weg und begannen alles in das eine große Zimmer zu schichten. Inzwischen räumte Frau Huths Tochter die eine Hälfte des großen Zimmers, woraus später mit Zwischenwand Schlaf- und Eßzimmer wurden. Es war dicke Luft bei den Möbelleuten, ebenso bei Huths, und wir beiden Würstchen hätten uns verkriechen mögen. Die Packer brauchten auch die Kisten wieder, so packten wir alle Bücher und alles Geschirr aus. Inzwischen kam Vater, und wir waren froh, als alle Möbelleute weg waren. Ganz zuletzt in dem vollgepackten Gemeinderaum wurden die Ehebetten aufgestellt, wo Vater mit Renate und Michael schlief. Ich schlief auf dem Sofa im anderen Zimmer, über mir hing die Decke halb herunter, rund um mich waren Geschirr und Bücher. In der Ecke zu Frau Huths Teil des Zimmers stand ein Kanonenkachelofen, der später noch lange im Eßzimmer stand. Daneben stellten wir das Plüschsofa, einen Tisch und Stühle. Das war nun lange Zeit unsere Wohnecke. Auf dem Kanonenöfchen kochten wir Kaffee oder Suppe und aßen meistens Semmeln mit Butter und Blutwurst, denn eine Küche hatten wir ja auch noch nicht. Renate und Michael konnten nicht zur Schule, weil wir gar keinen Schulranzen und keine Sachen fanden. Michael hat sich gleich auf der Straße mit Jungens angefreundet und deren Neugier befriedigt. Vater ging in den Wald, um sein Revier kennen zu lernen. Renate war totunglücklich. Ich las von Stefan Zweig „Joseph Fouche“, um nichts anderes denken zu müssen. Aber es tat sich etwas im Haus. Zuerst wurden die drei alten Schwestern ausgesiedelt, die im späteren Gemeinderaum im Anbau wohnten. Dort wurde zuerst gemacht für die Umsiedler, die von oben da hinein zogen. Nur Lüdickes blieben, wo sie waren. Nun wurde oben für Frau Huth gemalert, die dann, als alles fertig war, hoch zog. Wir hatten die Schulranzen herausgekramt, damit die Kinder zur Schule konnten. Ich brachte Renate zum Bahnhof, wo alle Kinder auf das Wipperlieschen warteten, und fragte, wer zu ihrer Klasse gehöre. Da meldete sich nur Monika Fitztum von Eckstedt. Rudolf Apel gehörte a uch noch dazu. Ich bat Monika, Renate mit in die Klasse zu nehmen. Renate war ganz unglücklich, wurde auch in der Klasse lange nicht anerkannt, bis sie mal beim Skilaufen groß rauskam. Michael fand sich viel schneller ein. Mich besuchte öfter Herr Pfarrer Münzenberg und sagte mir: „Ein Glück, dass dies meiner Frau nicht passiert, ich hätte keine ruhige Minute mehr.“ Er bat mich darum, doch später mal die Kinder zum Kindergottesdienst zu sammeln. Er war damals der irrigen Meinung, dass ich Theologie studiert hätte.

Nun, was später sein würde, wusste ich nicht, aber jetzt hatte ich jede Menge Zeit. So ging ich am nächsten Sonntag auf die Straße und sammelte die Kinder ein zum Kindergottesdienst, die dann die nächsten Male andere mitbrachten. Alle Gottesdienste fanden in der alten Schule statt, was später Tischtennisraum und Kino wurde. Langsam bekam ich auch zu Hause zu tun, denn unsere Wohnung wurde frei. In der Küche war ein alter Steintrog wie bei Schweinen im Stall als Spüle unter dem Wasserhahn. Das stank erbärmlicfh. Lüdickes Klo war Plumsklo von oben herab neben unserem späteren Eßzimmer. Wir hatten ein Häuschen mit Herz im Garten. Mit Hilfe der Holzhauer wurde mit der Zeit vieles gemacht. Wir bekamen die allererste Klärgrube in Friesdorf. Die Leute kamen von der Straße, um es mal zu benutzen und zu ziehen. Die Holzhauer entfernten den Schweinetrog in der Küche, und es wurde ihnen schlecht dabei. Wir bekamen ein richtiges Spülbecken mit Wasserhahn. Wasser gab es ja aus der Pumpe im Vorgarten, das elektrisch hochgepumpt wurde. Als wir kamen, war noch der Pumpschwengel dran, und Vögel nisteten darin. In der Küche stellten wir eine Grude auf, die die Küche mitheizte, und worin man mit Koksglut kochen konnte. Als der erste Winter vorbei war, wurde alles leichter. Die Veranda war wunderschön, der Garten wurde voll umgestaltet. Am Gartenende, das wäre heute links vom Konsum, war ein verwunschener Eingang. Überhaupt war alles etwas verwunschen und wild im Garten und auch im Haus wie in einem alten Schloss. Das entsprach ja eigentlich meinem romantischen Gemüt. Die alten Sträucher und Bäume hatten schon etwas reizvolles, natürliches. Vater hat in seiner Korrektheit einen gepflegten schönen Garten daraus gemacht. Die Veranda wurde unten ringsherum verbrettert, damit es nicht mehr zog. Oben kamen rechts und links Glasfenster hin. Als der Uli dann seine Kakteenliebe entdeckte, standen rundherum Kakteen, die im Winter im kleinen Zimmer waren. Auch auf dem Mittelbeet, wo nun zu jeder Jahreszeit etwas blühte, wuchsen winterharte Kakteen, andere große wurden im Sommer dort verteilt zusammen mit einer Agave. Die Gemüsebeete waren im Vorgarten. Hinten waren nur noch große Erdbeerbeete, woran sich Lüdickes Garten anschloss. Das Haus war nicht unterkellert. Während des dreißigjährigen Krieges baute man noch auf Dreck, und so alt war dieses Haus halt. Ein Raum war später unter der Erde entstanden, dort war nun die Wasserpumpe, und unsere Kartoffeln wurden da eingelagert. Weckgläser kamen in die große Speisekammer; für die Äpfel und Birnen baute Vater Regale im hintersten Raum und unter der Decke vorne, wo noch zwei Regale übereinander Platz hatten. Im Anschluss daran war noch der Kohlenraum. Das große Zimmer mit der Veranda wurde Vaters Dienstzimmer und gleichzeitig  unser gutes Zimmer. Dahin musste man vom Eingang über den kalten Hausflur durch das kleine  Zimmer (Eßzimmer), was  zuerst Kinderzimmer war, dann durch unser Schlafzimmer, wo wir durch den Kleiderschrank und einen Vorhang die Betten etwas abgeschirmt hatten, ins Dienstzimmer. Ein kleines Zimmer gegenüber vom Hauseingang war zuerst unser Eßzimmer, später mein Zimmer mit Klavier, Couch, Schreibtisch wie jetzt hier. Dort spielte sich fast alles ab. Mit der Zeit wurde es so gemütlich, so heimelig, dass wir uns alle dort wohl fühlten. Renate wurde gleich im ersten Frühjahr dort konfirmiert. Sie saß als einzige Konfirmandin auf einem hohen Hochzeitsstuhl, dass man sie kaum sah. Ihre Klassenkameradinnen waren zur Jugendweihe gegangen und mussten drum ein Jahr bis zur Konfirmation warten. Neunte und zehnte Klasse musste Renate in Mansfeld absolvieren. Da fuhr die gnaze Meute mit dem Wipperlieschen nach Mansfeld. Wenn sie den Zug mittags versäumt hatten, kamen sie den weiten Weg zu Fuß zurück, sie hatten da so ihre Abkürzungsstrecken, auch durch den Tunnel. Renate wollte Heilgymnastin werden. Aber Annelotte auch, und deren Mutter hatte einen guten Draht zu Dr. Ohles, eine war nur gefragt im Kreis. So wurde Renate zur Vollschwester ausgebildet. Sie war schon für Halle-Dölitz vorgesehen, hatte schon die Fahrkarte, als sie nach Bernburg umdirigiert wurde. Das war nun Renates Auszug in die Welt. Sie hat sich schon damals gut in alles hineingefunden und dort außer im Internat beim Rudern und mit lieben Freunden ihre Erfahrungen gesammelt.

Bald war auch der Michael dran, weil er schon mit 14 Jahren in die Lehre ging. Druch Dr. Damert bekam er die Lehrstelle in Niederröblingen, um Landmaschinenschlosse zu werden. Sein Chef Friedeqwald war gut, aber immer Chef. Er schob Michael als Untermieter  zu seiner Tante Berta ab. Und die war eine richtige liebe Tante für unseren kleinen Michael. Sie war froh, nicht mehr alleine zu sein,  und Michael war ihr ein guter Helfer in allen Lebenslagen. Nun bekam er das Moped, um sonntags nach Hause zu fahren. Der Uli war nach zwei Lehrjahren nach Halle übergesiedelt, wo ihn sein Papa Reichelt im Botanischen Garten für das dritte Lehrjahr unterbrachte. So konnte er am Wochenende gut mit der Bahn nach Hause kommen. Das war nun eine ganz neue, aber sehr interessante Arbeit für Uli. Eva war auch nicht mehr in Suhl, sie lernte in Wolmirstedt, wo sie außer dem theoretischen Unterricht mit schwer behinderten Kindern lebte und arbeitete. Ihre erste Stelle war dann in Magdeburg bei Pfarrer Neumann im evangelischen Kindergarten. Dort lernte sie auch später ihren Friedrich kennen, der in derselben Gemeinde Vikar war. Als Heidi ihr Studium abgeschlossen hatte, bekam sie ihre erste Stelle in Neugersdorf in Sachsen, ganz am äußersten Ende. Sie hatte es dort schwer mit den Kindern und mit dem Menschenschlag überhaupt. Sie kündigte. Sie ging nach Leipzig zurück, was nun wohl ihre Wahlheimat blieb. Renate kam an das Krankenhaus in Stralsund. Michael ging nach Apolda in die Glockengießerei von Schilling. Er arbeitete dort in der Schmiede und lernte noch das Gießen echter Bronzeglocken kennen mit allem Ritual, was dazu gehört. Uli machte seine Zehnklassenschule nach, arbeitete in Luckenwalde und Gera und studierte schließlich in Neugattersleben, wonach er Gartenbauingenieur war. Alle Kinder waren nun selbständig, kamen aber zu meiner großen Freude viel nach Hause. So wie das Altertal die Zeit der Kinder war, wurde nun Friesdorf die Zeit der Enkel. Es begann mit Sabine 1965. Sabine wurde in Wippra geboren und blieb ein Jahr bei uns, während Heidi in Leipzig wieder als Hortnerin arbeitete. Esw war schön, wieder so ein kleines Wesen bei sich zu haben. Heide kam jedes Wochenende,  und Sabine entwickelte sich sehr gut. Zu ihrer Taufe kam Friedrich das erste Mal mit nach Friesdorf; unsere Familie war natürlich vollständig vertreten, dazu Maria Bräutigam und Christian Noack als Paten. Herr Pfarrer Gengelbach taufte, und Maria spielte das  Harmonium, wobei sie immer zwischendurch das Lied „Weißt du, wieviel Sternlein stehen“ einflocht. Im folgenden Jahr war Evas Hochzeit in Friesdorf, die auch Herr Pfarrer Gengelbach hielt. Frau Gengelbach spielte Orgel, und dazu spielte Friedrichs Freund Christian ganz herrlich Bachtrompete. Die Großmutter Meinhof aus Halle war gekommen, dazu Tante Käte, ihre Schwester, die Missionarin, und zum ersten Mal Eberhard. Die alten Damen schliefen bei Ursel Sonntag, wo sie morgens mit der Trompete geweckt wurden. Ich hatte gerade meine schlimme Bandscheibe, aber  Ursel Sonntag und Erika Hanke aus der Jungen Gemeinde machten alle Küchenarbeiten. Besonders eifrig im Helfen waren auch Renate und Ebus. Im April 1967 wurde dann Thomas in Kölleda geboren. Bei Friedrichs Einführung in die Gemeinde Beichlingen wurde Thomas getauft. Zu Friedrichs Gemeinden gehörte auch Vaters Geburtsort Battgendorf. Dort lag Vaters Vater, Pfarrer Paul Künzel, begraben. Thomas wurde mit zwei Jahren sehr krank und lag in Wippra im Kinderkrankenhaus. Eva bekam unter diesen aufregenden Umständen ihr kleines Mädchen Susanne. Als Thomas wieder nach Hause kam, war er wie sein Schwesterchen Susanne, konnte nicht mehr laufen und sprechen und musste gefüttert werden. Aber er erholte sich bei der liebevollen Pflege und ist heute ein kräftiger, hochbegabter Student und macht seinen Eltern und auch mir sehr viel Freude. Susanne hat Gott schon mit dreiviertel Jahren zu sich gerufen, aber im Hause Meinhof lebt sie weiter mit.

Renate arbeitete im Krankenhaus in Stralsund. Als ich nach achtmaliger Ausrenkung bei einem Schiropraktiker in Halberstadt noch immer nicht laufen konnte, aber viel schwimmen sollte, fuhr ich zu Renate. Es war zwar nicht das warme Schwarze Meer, was mir verordnet wurde, es war eiskalte Ostsee, wo sonst kein Mensch am Badestrand war, aber mit täglichem Training des Gehens verbunden, half es doch. An Ulis Geburtstag wurde ich es für immer los. In Stralsund lernte ich Gerhard kennen, der uns sehr lieb mit dem Auto über Rügen fuhr und immer zur Stelle war, wenn wir ihn brauchten. Er verlobte sich später mit Renate und wurde Bettinas Vater. Aber „Vater werden ist nicht schwer, Vater sein dagegen sehr“, davor hatte er Angst, und Renate kam in letzter Minute zurück zu uns nach Friesdorf. So w urde Bettina auch in Wippra geboren. Wieder hatten wir ein goldiges kleines Baby bei uns, diesmal drei Jahre lang. Renate arbeitete bei Dr. Ohles in der gynäkologischen Klinik in Wippra. Drei Jahre später zogen sie leider nach Premnitz, nachdem ich eine Nervenkrise hatte und vier Monate in Halberstadt in der Klinik war. Dies hatte aber auf keinen Fall etwas mit den Enkeln zu tun.

In Premnitz war ich öfter  und fand es immer sehr schön dort. Es erinnerte mich vieles an meine Berliner, meine märkische Zeit, der Wald dort mit Sand, Heide und Kiefern und Mutschkäppchen. In Friesdorf hatte der Michael seine alte Schulkameradin Martina geheiratet. Sie hatten sich neu kennengelernt, weil Martina mit Renate zusammen im Krankenhaus arbeitete. Bei Feiern in Wippra holte Michael sein Schwesterchen ab und blieb dann noch ein bisschen da und tanzte mit Martina. Sie heirateten wie Eva in der Friesdorfer Kirche. Diesmal traute nun Friedrich die beiden und taufte auch später den Ingolf in Beichlingen. Ingolf wurde also auch in Wippra geboren, und die Drei lebten ja nun in unserer Nähe. Da in Apolda keine Wohnungsmöglichkeiten bestanden, zogen sie in das Haus von Martinas Großeltern mit ein. Sie hatten zunächst nur ein kleines Zimmer und darin ein Sofa, worauf sie beide zusammen schliefen. Ingolf stand dann später in der Küche der Oma. Aber Michael hat bald mit dem Um- und Ausbau begonnen. Die Großeltern haben Martina das Haus vermacht. Jetzt lebt nur noch die Oma. Das obere Stockwerk haben sich die Drei sehr schön hergerichtet mit unendlich viel Arbeit. Ingolf ist ein lieber Junge, an dem alle ihre Freude haben können.

Nach seinem Studium hatte der Uli seine erste Stelle in Mühlhausen, wo gleichzeitig seine jetzige Frau Carola ihre Lehrerinnenausbildung machte. Sie zogen dann zusammen nach Westerhausen. Carola war dort Lehrerin, Uli arbeitete in Quedlinburg und machte Zuchtversuche mit neuen Kartoffelsorten, womit er bald das Weltniveau erreichen wollte. Vor Westerhausen hatten Uli und Carola heimlich in den Ferien geheiratet. In Westerhausen ist Sarah geboren und zwei Jahre später dann schon in Quedlinburg Anne. So hat der Uli als Einziger zwei Kinder, und ich nun insgesamt sechs Enkel. Sarah und Anne haben sich auch ganz prächtig entwickelt. Da sie nun in meiner Nachbarschaft wohnen, wird später über sie zu berichten sein. In der Friesdorfer Zeit kamen die vier Schulenkel: Sabine, Thomas, Bettina und Ingolf meistens in den Ferien  zu uns. Als Einzelkinder fühlten sie sich wohl in der Vetterngemeinschaft, wie Geschwister eigentlich. Das waren für mich noch einmal herrliche Zeiten, wo wir  zusammen wandern, erzählen, spielen und singen konnten. Natürlich fuhren auch alle mit ihren Eltern auf Urlaub. Heidi reiste mit Sabine schon mit zwei Jahren an die Ostsee. Sie hatte ein Zelt und fuhr dann eigentlich jedes Jahr, bis Sabine größer war und sie nach Bulgarien oder Ungarn reisten. Manchmal  zelteten sie am gleichen Zeltplatz wie wir in Nonnewitz oder Rappin, und einmal war ich mit den beiden in Dranske in einem Bungalow von der Uni Leipzig. So langsam hatten wir drei Steilwandzelte und ein kleines Dreieckszelt, sodass wir alle an die See konnten. Unser Zeltanfang war ja abenteuerlich. Wir erbten ein selbstgemachtes Zelt von Tante Lizzi. Opi baute ein Vorzelt, worunter wir sitzen und auch kochen konnten. Wir erlebten schöne Jahre damit, bis es uns bei Sturm  zweimal unter sich begrub und schließlich so morsch war, dass wir es nicht mehr zusammenflicken konnten. In der Mitte stand ein riesiger Speer, woran eigentlich alles hing. Das Heckfenster war geflickt mit einem großen schwarzen Kreuz, sodass das Ganze wie eine Kirche aussah. Wenigstens konnte ich es immer finden bei meinem schwachen Orientierungssinn. Einige aus der Familie trafen sich meistens in Nonnewitz oder Rappin. Bettina und Thomas waren auch noch bewindelt, als wir sie mit Renate mit in Nonnewitz hatten. Einmal wohnten wir: Renate, Bettina, Thomas und ich auch in einem Premnitzer Zelt in Kützkow an der Havel. Ein andermal brachte uns Charly aus Premnitz nach Stahlbrode an der Ostseeküste gegenüber von Rügen. Da war auch Sabine mit. Die Kinder schliefen in dem kleinen Zelt und hatten dort manche Angst auszustehen. Heidi hat  Hiddensee für uns entdeckt und war mit Sabine oft dort. Einmal war ich dann auch mit Renate und Bettina in Heidis Quartier bei Frau Knoll. Hiddensee ist wohl die schönste Ostseeinsel überhaupt. Obwohl wir sonst am liebsten in Nonnewitz waren, bekamen wir später immer Rappin am Jasmunder Bodden. Besonders für Opi war das Klima dort gut, und er fühlte sich sehr wohl in der prallen Sonne  und in der Seeluft überhaupt. Er war auch öfter mit Euch alleine dort, wenn ich zu Hause nicht weg konnte. In den letzten Jahren heir war es immer Opis Wunsch, noch einmal an der See zu zelten. In ein festes Haus wollte er nicht, sich auch nicht binden an feste Mahlzeiten, und zleten konnte er halt nicht mehr, leider.

Ich hatte 1963 angefangen zu arbeiten, und zwar als Schreibhilfe beim kirchlichen Forst in Vaters Büro. Dies machte ich, bis Vater in den Ruhestand ging. Und in Friesdorf weiß ich nicht, was mich dazu trieb, war es das Wohnen im Pfarrhaus, war es ein inneres Drängen oder war es ein Nachholebedürfnis, meinem Dank Ausdruck zu verleihen – ich gründete meine Gemeinde. Und das habe ich trotz anwachsender Arbeit nie bereut. Vielleicht brauchte ich auch irgendwann mal eine Bestätigun meiner selbst; als Frau und Mutter oder Großmutter ist alles, was man tut, selbstverständlich und findet nie eine Anerkennung. Ja, jetzt schon im Alter, wo Ihr allel lieb und dankbar der alten Zeiten gedenkt, aber damals doch nicht.

Sonntags im Gottesdienst saßen hinter mir meist alte Leute, dazwischen aber saß Helga Otto mit 18 Jahren. Als ich sie fragte, ob sie nicht Lust hätte, mal mit jungen Mädchen zu mir zu kommen, gründeten wir in der folgenden Woche mit sieben Mädchen zwischen 18 und 23 Jahren die Junge Gemeinde. Diese Sieben blieben der Stamm über Jahre hinaus, andere kamen und gingen. Wir trafen uns in meinem kleinen Zimmer. Wir haben dort ernste Probleme gewälzt bei entsprechender Literatur, haben viel und schön gesungen, gespielt und erzählt. Wir sangen auch in Gottesdiensten, luden die Gemeinde zu fröhlichen, gut vorbereiteten Festen ein und waren uns in Freud und Leid immer nahe. Einmal hatten wir mit sehr viel Mühe ein Theaterstück eingeübt „Sein wie die Träumenden“ von Leskow. Wir führten es im Winter in der Kirche auf, hatten mit Silberpaper Scheinwerfer aus Tischlampen gemacht und zwei Bühnen nebeneinander in dem Altarraum aufgebaut. Je nach Bedarf wollten wir dies anstrahlen. Und dann war zur Abendstunde der Aufführung Sturm und Gewitter, sodass der Strom abgeschaltet war. So musste immer ein Mitspieler Kerzen auf einem Teller von einer Bühne zur anderen tragen. Da das Stück in Sibirien spielt, und es um Sturmgeräusche geht, die der dort ausgesiedelte Sträfling immer hört wie Stimmen, weil er glaubt, dass sein Onkel kommt, den er erschießen wollte, weswegen er verurteilt ist – da passten der Sturm und die flackernden Kerzen so gut, dass es uns grausig den Rücken herunterlief. Nie haben wir dieses Stück vergessen. – Wir machten auch schöne Ausflüge mit Fritze Huth oder feierten gemeinsam Fasching. Diese Mädchen bildeten den Grundstein zum Chor und zum Treffen der jungen Frauen, die sie nun selber waren. – Inzwischen hatte ich den Kindergottesdienst ausgeweitet, in dem kleinen Dorf waren es über 30 Kinder. Im Sommer gingen wir in den Steinbruch, wo ich auf einem Berg wie auf einer Kanzel stand; die Kinder saßen im Halbkreis unter mir. Manchmal wanderten wir auch zum Missionsplatz, auf dem Berg gegenüber vom Schwimmbad. Immer aber haben wir Gottesdienst gehalten, danach gespielt und gesungen. Einmal in der Woche war Kindernachmittag; dort wurde gemalt, gebastelt, musiziert. Da entstanden auch Gemeinschaftsgemälde für die schlechte Wand im Gemeindesaal, die letzten hängen jetzt nach zehn Jahren noch dort. Im Sommer war immer ein großes Sommerfest, wozu wir selbstgemachte Theaterstücke aufführten, mal ein Musical, Volkstänze einübten und viele Lieder. Dann wurden die Nachbargemeinden eingeladen. Die Biesenröder kamen mit dem Wipperlieschen und wurden mit Ständchen abgeholt. Den Piskabornern gingen wir bis zum Steinbruch entgegen, wo sie dann mit geschmückten Pferdewagen ankamen. Frau Retzlaff kochte für alle mittags Suppe, die Friesdorfer Frauen beackten jede Menge Kuchen, die Jugne Gemeinde servierte in weißen Schürzchen, ohne, dass ich sie darum gebeten hätte. Wir hielten Gottesdienst in der Kirche und zogen dann durch das Dorf mit vielen selbstgemachten Instrumenten, einer zog mit hohem Stock mit Bändern voran und gab den Takt an. War das Wetter schön, gab es draußen Wettspiele jeder Art auf dem Schützenplatz. Jeder ovn der Jungen Gemeinde nahm eine Riege. Einmal spielten wir „Christophorus“, nach einer Geschichte selbst getextet und inszeniert. Er ist mir noch gut in Erinnerung, weil wir da den richtigen Bach benutzen konnten, worüber Christophorus den Jesusknaben in seinen Gummistiefeln trug. Bei Regen durften wir in den Saal bei Retzlaffs. Dort machten wir Schattenspiele hinter gorßen Laken oder wir spielten mit unseren selbstgemachten Puppen Puppenspiele. Wir hatten uns sogar ein eigenes Kino gemacht. Jeder hatte auf Pergamentpapier etwas zu den Geschichten gemalt. Diese Bilder wurden alle aneinander geklebt und um einen Stock gerollt. Eine Pappkiste, vorne ausgeschnitten, war der Vorführapparat, dahinter war eine Taschen- oder Tischlampe, sodass die Bilder strahlend durchsichtig waren, und einer erzählte dazu. Da Gerlinde und Heidi Walter dazu Matthias und Simone Samtleben Klavierstunde bei mir hatten und immer etwa ein Dutzend Kinder das Flöten lernten, konnten wir unsere und oft auch die Gottesdienste der Gemeinde schön gestalten. Weihnachten waren wir immer alle beschäftigt.Im Krippenspiel durften alle Kinder mitspielen, die Musikanten mussten zusätzlich flöten, trommeln, triangeln und anderes. Der Chor war auch eine feine Sache, weil die Friesdorfer eben sehr musikalisch sind. Wie oft haben wir mit Zittern auf der Empore gestanden, uns aber wie die Engel gefühlt. Zu allen Festtagen sangen wir, am meisten Freude aber machte es uns, wenn wir ganz für uns alleine singen konnten. Singen verbindet sehr, wir gehörten so richtig zusammen, das blieb bis heute. Mit dem Chor luden wir auch die ganze Gemeinde zu fröhlichem Beisammensein ein. Wir hatten dann Decken über die Bänke gelegt, die Tische mit viel Blumen und Kerzen schön gedeckt, jede Menge Bowle bereitet und uns vor allen Dingen ein abendfüllendes Programm ausgedacht mit kleinen Sketchen, Quodlibets, Kanons und vielen Spielen, auch einmal einer Talkshow. In der Gemeinde kannte ich jeden, war auch in jedem Haus schon gewesen, vielfach auch in Rammelburg, was ja zu Friesdorf gehörte. Heute erinnert mich die Streichholzkirche von Matthias an Friesdorf, der Wandteppich an Rammelburg, den mir die Frauen zum Abschied schenkten, die kleinen Keramiksänger vom Chor und viele geschenkte Rammelburger Keramiken an alle. Dazu kommen immer wieder Briefe und Besuche, obwohl ich nun schon zehn Jahre fort bin.

 

Die letzte Zeit in Appenrode ab 1978.

Wir gedachten eigentlich in Friesdorf unseren Lebensabend zu beschließen, doch plötzlich hieß es: „Raus! Platz für den Nachfolger!“ Dieser  zog dann nie dort ein, und das Haus verfällt langsam. Wir fanden hier in Appenrode die ideale Ruhestandswohnung. So wie ich es mir immer gewünscht hatte: Platz genug für alle, schön in der Wohnung, schön im Garten und schön in der Umgebung. Es sollte doch für Euch wieder so etwas wie Heimat werden. Wieder wohnen wir in einem alten 1691 gebauten Pfarrhaus. Vater ging es chon nicht gut, als wir hier ankamen. Da hatten wir die Treppen nicht bedacht, die nun sein größtes Handicap wurden. Vater hat sein Leben lang viel gearbeitet und seinen Wald über alles geliebt. So wurde ihm hier der Anfang sehr schwer. Anderer Wald war nicht sein Wald, das war schon immer so gewesen. Aber ohne Beschäftigung war Vater auch hier nicht. Das alte Haus und der gorße Garten erforderten alle seine Kräfte. Zum Glück hatten wir dann einen Farbfernseher, der Vater viele schöne Stunden bereitete und ihn ablenkte. Er las auch nun wieder ivel in alten schweren Büchern wie Vergil oder Plato und las seine gelibeten französischen Schriftsteller. Kreuzworträtsel ließen Vater nicht in Ruhe, bis er sie alle gelöst hatte. Sehr viel weggefahren sind wir nicht mehr, weil Vater zwar gut im Auto fahren konnte, aber eben nicht zwischendurch laufen. So kam es, dass auch Ille, unsere Hündin, fast nur im Garten ihren Auslauf hatte. Einmal fuhr Vater mit nach Berlin zu Tante Lizzi, da er aber auch dort das Haus fast nie verlassen konnte, wollte er nie wieder mit in den Westen fahren. Es ist besonders traurig, weil Vater es sich vorher immer so gewünscht hatte. Wenn er auch wenig fort kam, so hat Vater doch immer großen Anteil an Euer aller Leben genommen.

In den ersten Jahren kamen die vier Schulenkel noch in den Ferien  her; nun gehen nur noch Sarah und Anne zur Schule in Ellrich. So habe ich sie immer dicht, denn der Uli zog ein Jahr nach uns nach Ellrich in das Sperrgebiet, 5 km von uns entfernt. Er übernahm dort die Orchideengärtnerei und hält dort immer alles auf neustem Stand, um mit der Welt konkurrieren zu können. Es ist schön, dass ich Uli und seine Familie so nahe habe. Im Sommer können die Kinder mit dem Fahrrad herkommen. Sie haben mich auch oft besucht, wir haben geflötet, sind herrlich spazieren gegangen mit Gesang, haben vorgelesen, gemalt und gespielt. Der Uli fühlt sich nun für mich verantwortlich und betreut mich ganz lieb. Eva zog mit der Familie nach Heiligenstadt, wo Vaters Ahnen alle herstammen. Friedrich predigt jetzt in der einzigen evangelischen Kirche im katholischen  Heiligenstadt, in St. Martin, wo auch schon Opa Braun predigte. Oma und Opa Braun wohnten dort lange im Haus der Familie Wenk (Oma war eine geborene Wenk) am Holzweg 3, wo Heidi und Eva als Kinder oft waren. Thomas machte in Heiligenstadt sein Abitur und studiert nun in Leipzig Theologie. Auch von Heiligenstadt ist es nur eine Stunde Autofahrt zu mir.

Sabine hat Geige und Bratsche gelernt und ihren Abschluss an der Volksmusikschule gemacht. An der Hochschule wurde sie dann wegen großen Andrangs nicht genommen und arbeitete drum vorübergehend bei „Wort und Werk“, wo Bücher und Kunstgewerbeartikel verkauft werden. Nebenbei machte sie noch das Examen als Dekorateurin. Nun hat sie ihren Tilo geheiratet, der Pianist und Komponist wird. Außerdem haben sie den Joseph, der im Mai zwei Jahre alt wird. Sie haben sich eine eigene Wohnung nach ihrem Geschmack eingerichtet. Sabine kommt öfter mit Joseph zu mir, was mir immer große Freude bringt. Er istein sehr hübsches strahlendes Kind, sehr interessiert an seiner Umwelt und schon ein kleiner Bastler.

Nachdem Renate hier in Appenrode den Alexander geheiratet hatte, zog sie nach Coswig und arbeitete dort auf einer Lungenstation. Renate und Alexaner haben ihre Ehe getrennt, sind aber weiter gute Freunde, wie auch Alexander weiterhin zur Familie gehört. Um uns etwas näher zu sein, zog Renate mit Bettina nach Suhl und arbeitet dort auf einer chirurgischen Station. Renate kam immer oft zu uns, auch die Fünfstundenfahrt von Coswig, nun sind es nur noch gute zwei Stunden, da nutzt sie alle freien Tage zu meiner Freude, um herzukommen. Bettina war ein Jahr ganz bei uns, als sie bei Uli ihr praktisches Jahr als Gärtnerin machte. Ihren Gartenbaufacharbeiter hat Bettina in Erfurt vollendet. Es war ein sehr schönes Jahr mit ihr hier; Bettina hat sich viel um den Garten gekümmert, aber vor allen Dingen konnte sie nun gut Gitarre spielen und hat mir damit viel Freude gemacht, zumal sie dieselben Lieder liebte wie ich zum Teil noch aus meiner Wandervogelzeit. Jetzt wohnt Bettina in Suhl bei ihrer Mutte und hat eine kleine Claudia – Elisabeth, die nun im Mai schon ein Jahr alt wird. So ist die Zeit der Urenkel angebrochen. Damals sah ich es als ein Wunder an, dass meine Großmutter bei Heidis Geburt Urgroßmutter wurde. Heute habe ich schon zwei  Urenkel, und was für Prachtexemplare! Ich bin so glücklich, wenn ich in ihrer Nähe sein kann. Noch einmal kommen mir alle die Zeiten in Erinnerung, wo Ihr geboren wurdet und aufwuchst und die Zeiten der Enkel. Nur unser Opi ist nun nicht mehr bei uns  und kann dies nicht mehr miterleben. - -

Von Michael aus ist es nur eine gute Stunde Autofahrt über den Harz zu uns. Er kommt regelmäßig alle vierzehn Tage mit Martina und Ingolf und Ymo zu uns. Ymo ist der ganz liebe kleine Teckel, der unserer Ille ähnelt. Michael arbeitet weiter im Wald bei Vaters Nachfolger. Martina, der die Familie über alles geht,  hörte in Rammelburg bei den Behinderten auf und arbeitet nun mit mehr oder weniger Freude in der Wippraer Apotheke. Infolge hat die Zehnklassenschule erfolgreich beendet und macht seine Lehre, delegiert vom Staatlichen Forstwirtschaftsbetrieb Wippra als Waldfacharbeiter auf dem Ratsfeld am Kyffhäuser mit dem Ziel, einmal Revierförster wie der Opi zu werden. Er wählte auch Opis Konfirmationsspruch zu dem seinen. Ingolf ist begeisterter Rot-Kreuz-Helfer seit vielen Jahren und wurde da oft ausgezeichnet.

Heidi wohnt nach wie vor in Leipzig, hat aber nun nach vielen schweren Jahren bei Frau Echte eine schöne große Wohnung, die ise sich selbst hergerichtet hat. Sie arbeitet an der Universität im Kultursektor in dem Unimuseum für Literatur und bildende Kunst, wo sie vierteljährlich neue Ausstellungen mitgestaltet. Heidi besucht mich oft und liest mir viel interessante Bücher und Artikel vor, und wir diskutieren über die wesentlichen und letzten Dinge.

Nun fahren alle selbst in Urlaub. Ich kann ja seit 12 Jahren im Westen meine Verwandten und alten Freunde besuchen, was ich auch fast jedes Jahr tat. Die Ellricher sind Bergsteiger geworden, sie trainieren in der Tatra in der CSSR, nachdem sie auch viele Jahre an der See waren. Im Winter gehen sie skilaufen nach Schnepfenthal bei Friedrichsroda in Thüringen. Die Kinder fahren nun schon mit in Ferienlager außer dem Urlaub mit den Eltern. Auch hier im Harz wandern die Ellricher viel und finden seltene Blumen  und Gewächse, wo do Uli und Carola beide Biologen sind. Die Sonntage und die Ferien gehören ganz der Familie. Oft und gerne sind alle bei Carolas Eltern und Schwester in Bollstedt.

Michael fuhr viele Jahre mit der Familie in einen Bungalow vom Forst an die Ostsee oder in Alexanders Gartenhaus in Radebeul, wo übrigens auch Uli und Eva mit den Familien waren. Mit dem Auto kann man von dort überlalhin um Dresden und die Sächsische Schweiz besuchen. Heidi bevorzugt weiter Hiddensee und  Ungarn, wo sie liebe Freunde hat. Sabine war mit Tilo schon auf Radtour an der Ostsee; nun wird Joseph zwei Jahre alt, so will Sabine mit ihm nach Ungarn fahren. Dort kann sie in der befreundeten Großfamilie immer leben. Aber sonst kommt sie zu mir und entgeht damit der schlechten Luft in Leipzig. Ich freue mich immer. Eva war mit Thomas in Polen, im ehemaligen Pommern, dieses Jahr geht es nach Ungarn.  Zweimal schon waren sie in einem Zeltlager in der CSSR, wo sie auch liebe Bekannte aus Witzenhausen trafen. Aber Thomas machte auch schon weite Radtouren mit Freunden, z.B. nach Dresden über Appenrode und Leipzig. Er fuhr zu verschiedenen Kirchentagen und weilte in den Sommerferien in Bad Doberan, um dort Kirchenführungen zu machen und damit bei freier Kost und Unterkunft an der Ostsee sein zu können. Ein Jahr zeltete er auch in  Ummanz,  um von dort aus ganz alleine mit dem Fahrrad die Insel Rügen zu erobern.

Renate war zuweilen mit ihrer Premnitzer Freundin Ingrid in Ungarn, wenn Bettina bei mir war. Auch in der CSSR war sie mehrmals in verschiedener Besetzung. Bettina ist nun schon gebunden durch Claudia, aber sie wird im Sommer paddeln, wenn Renate mit Claudia bei mir ist. Davor hoffe ich aber Bettina noch öfter bei mir mit ihrer kleinen Claudia zu sehen. Aber das müsst Ihr alles selber ausführlich schreiben. Führt mal schon Ferientagebuch! Hier in Appenrode war vor  zwei Jahren ein erweiterter großer Familientag. Diesen konnte Opi noch miterleben. Es kamen die Österreicher, dazu dann alle Geschwister und Schwiegerkinder mit Familien. Wir aßen bei Küchenthals und waren sonst angeregt und froh hier im Pfarrhaus und vor allem im Garten. Ich denke gerne daran zurück.

Als ich vor 6 Jahren enien Herzinfarkt hatte, war ich so erstaunt und dankbar, dass es mir danach wieder so gut ging, dass ich noch einmal mit Gemeindearbeit anfing. Ich hatte einen sehr lieben großen Frauenkreis. Aber mit 70 Jahren habe ich grundsätzlich mit allem Schluss gemacht.

Nun sorgen alle Kinder und Enkel für mich, und manchmal kann ich vielleicht auch noch ein bisschen für sie da sein. Und das ist es wohl im Alter: Nicht mehr tun für andere, sondern einfach da sein, aber dies bewusst mit aller Lebensfreude, aller Anteilnahme, ein bisschen mit Erfahrung und viel mit Einfühlung. Nun ist es nur noch mein Wunsch und Ziel, dass Ihr Euch nach meinem Tode alle vertragt, Euch weiter trefft und helft uns uns in guter Erinnerung behaltet. Ich weiß, wie gut ich es habe. Viele alte Menschen sind einsam. Ich habe Euch alle, die Ihr mir alle viel Zeit und viel Liebe widmet, ganz besonders der Uli. Dazu habe ich liebe Verwandte, außer Tante Dorle  und Tante Lizzi nun auch Vaters viele Vettern und Cousinen. Und dann habe ich sehr viele gute Freunde. Jeden Abend wandern alle an mir vorbei, angefangen mit Euch allen einzeln, aufgehört mit den Gemeinden. Da bringe ich dann alle Sorgenund Wünsche für Euch vor Gott. Zum Schluss erbitte ich eine gute Nachtruhe für alle Menschen mit guten Träumen und friedvollen Gedanken und bitte, dass Gott die Herzen der Menschen wenden möchte, dass wir alle wieder auf unserer Erde in Frieden leben können, und dass kein Kind mehr Angst zu haben braucht. Ich bin gewiss, dass dies irgendwann sein wird, ganz gewiss! Hermann Claudius schreibt:

„Es wandeln sich die Reiche,

es wandelt sich die Welt,

doch Gott, der bleibt der Gleiche,

der sie in Händen hält.“

 

Eure Mutter

Ostern 1988.

 

 

 

 

 

Aus meinen liebsten Dichtungen.

Rainer Maria Rilke

Nichts ist mir zu klein, und ich lieb es trotzdem

und mal es auf Goldgrund und groß,

und halte es hoch, und ich weiß nicht wem

löst es die Seele los ---

 

Ich lese es heraus aus deinem Wort, aus der Geschichte der Gebärden, mit welchen deine Hände um das Werden sich gründeten, begrenzend, warm und weise.

Du sagtest leben laut und sterben leise

und wiederholtest immer wieder: Sein.

 

Wer seines Lebens viele Widersinne

versöhnt und dankbar in ein Sinnbild fasst,

der drängt die Lärmenden aus dem Palast,

wird anders festlich, und du bist der Gast,

den er an sanften Abenden empfängt.

Du bist der Zweite seiner Einsamkeit,

die ruhige Mitte seinen Monologen;

und jeder Kreis, um dich gezogen,

spannt ihm den Zirkel aus der Zeit.

 

Siehst du nicht meine Seele, wie sie dicht

vor dir in einem Kleid aus Stille steht?_ _ _

 

Du bist so groß, dass ich schon nicht mehr bin,

wenn ich mich nur in deine Nähe stelle.

Du bist so dunkel; meine kleine Helle

an deinem Saum hat keinen Sinn.

Dein Wille geht wie eine Welle,

und jeder Tag ertrinkt darin.

Nur meine Sehnsucht ragt dir bis ans Kinn

und steht vor dir wie aller Engel größter:

Ein Fremder, bleicher und noch unerlöster,

und hält dir seine Flügel hin.

O Herr, gib jedem seinen eignen Tod.

Das Sterben, das aus jenem Leben geht,

darin er Liebe hatte, Sinn und Not.

 

Alles wird wieder groß sein und gewaltig.

Die Lande einfach und die Wasser faltig,

die Bäume riesig und sehr klein die Mauern;

und in den Tälern, stark kund vielgestaltig,

ein Volk von Hirten und von Ackerbauern.

Und keine Kirchen, welche Gott umklammern

wie einen Flüchtling und ihn dann bejammern

wie ein gefangenes und wundes Tier,_

die Häuser gastlich allen Einlassklopfern

und ein Gefühl von unbegrenztem Opfern

in allen Handeln und in dir und mir.

Kein Jeseitswarten und kein Schaun nach drüben,

nur Sehnsucht, auch den Tod nicht zu entweihn

und dienend sich am Irdischen zu üben,

um seinen Händen nicht mehr neu zu sein.

 

Wir haben, wo wir lieben, ja nur dies:

Einander lassen; denn dass wir uns halten,

das fällt uns leicht und ist nicht erst zu lernen.

 

Herbst.

Die Blätter fallen, fallen wie von weit,

als welkten in den Himmel ferne Gärten;

sie fallen mit verneinender Gebärde.

Und in den Nächten fällt die schwere Erde

aus allen Sternen in die Einsamkeit.

Wir alle fallen. Diese Hand da fällt.

Und sieh dir andre an: Es ist in allen.

Und doch ist einer, welcher dieses Fallen

unendlich sanft in seinen Händen hält.

 

   Ich finde dich in allen diesen Dingen,

denen ich gut und wie ein Bruder bin;

als Samen sonnst du dich in den geringen,

und in den großen gibst du groß dich hin.

Das ist das wundersame Spiel der Kräfte,

dass sie so dienend durch die Dinge gehen:

In Wurzeln wachsend, schwindend in die Schäfte

und in den Wipfeln wie ein Auferstehn.

 

Christian Morgenstern.

Ich habe den Menschen gesehen in seiner tiefsten Gestalt,

ich kenne die Welt bis auf den Grundgehalt.

Ich weiß, dass Liebe, Liebe ihr tiefster Sinn,

und dass ich da, um immer mehr zu lieben, bin.

Ich breit die Arme aus, wie Er getan,

ich möchte die ganze Welt, wie Er, umfahn.

 

Du kannst dein eignes Leid nicht tragen,

es dünkt so tief dir und so schwer?

So musst nach fremdem Leid du fragen,

versenken dich in fremde Klagen –

die eignen hörst du dann nicht mehr.

Das eigne Leid muss klein dir scheinen,

wenn du bedenkst das Weh, die Not,

durch die viel tausend Augen weinen!

Wenn du von allem Schmerz den deinen

nur kennst, so bist du seelisch tot.

 

Meine Liebe ist groß wie die weite Welt,

und nichts ist außer ihr,

wie die Sonne alles erwärmt, erhellt,

so tut sie der Welt von mir.

Da ist kein Gras, da ist kein Stein,

darin meine Liebe nicht wär,

da ist kein Lüftlein noch Wässerlein,

darin sie nicht zög einher!

Da ist kein Tier vom Mücklein an

bis zu uns Menschen empor,

darin mein Herze nicht wohnen kann,

daran ich es nicht verlor.

Meine Liebe ist weit wie die Seele mein,

alle Dinge ruhen in ihr,

sie alle, alle, bin ich allein, und nichts ist außer mir!

 

Alles fügt sich uns erfüllt sich, musst es nur erwarten können

und dem Werden deines Glückes Jahr und Felder reichlich gönnen.

Bis du eines Tages jenen reifen Durft der Körner spürst

und dich aufmachst und die Ernte in die tiefen Speicher führest.

 

Wieviel Schönheit ist auf Erden

unscheinbar verstreut;

möchte ich immer mehr des inne werden.

Wieviel Schönheit, die den Taglärm scheut,

in bescheidnen alt und jungen Herzen!

Ist es auch ein Duft von Blumen nur,

macht es holder doch der Erde Flur,

wie ein Lächeln unter vielen Schmerzen.

 

Friedrich Hölderlin.

In jüngren Tagen war ich morgens froh,

des Abends weint ich; jetzt, da ich älter bin,

beginn ich zweifelnd meinen Tag, doch

heilig und heiter ist mir sein Ende.

 

Aus Hyperion:

Doch uns ist gegeben, auf keiner Stätte zu ruhn,

es schwinden, es fallen die leidenden Menschen

blindlings von enier Stunde zur andern,

wie Wasser von Klippe zu Klippe geworfen,

jahrelang ins Ungewisse hinab.

 

Novalis.

Gib mir Vertraun und Zuversicht auf meinem Lebenspfad

und gib in banger Nacht mir Licht und festen Mut und Rat.

            Die Ruh der Seele sei mein Lohn; mich lehre die Natur:

            Die göttlichste Religion sei Menschenliebe pur.

_

Wir suchen überall das Unbedingte,

und finden immer nur Dinge.

 

Der ist der Herr der Erde, wer ihre Tiefen misst,

und jeglicher Beschwerde in ihrem Schoss vergisst.

Die mächtigen Geschichten der längst verflossnen Zeit,

ist sie ihm zu berichten mit Freundlichkeit bereit.

Er trifft auf allen Wegen ein wohlbekanntes Land,

und gern kommt sie entgegen den Werken seiner Hand.

 

Hermann Hesse.

So musst du in allen Dingen Bruder und Schwester sein,

dass sie dich ganz durchdringen,

                        dass du nicht scheidest Mein und Dein.

Kein Stern, kein Laub soll fallen – du musst mit ihm vergehn!

So wirst du auch mit allen allstündlich auferstehn.

-

Es führen über die Erde Straßen  und Wege viel,

aber alle haben dasselbe Ziel.

Du kannst reiten und fahren zu zwein und zu drein,

den letzten Schritt musst du gehen allein.

 

Drum ist kein Wissen noch Können so gut,

als dass man alles Schwere alleine tut.

-

Wer den Weg nach innen fand,

wer in glühendem Sichversenken

je der Weisheit Kern geahnt,

dass ein Sinn sich Gott und Welt

nur als Bild und Gleichnis wähle:

Ihm wird jedes Tun und Denken

Zwiegespräch mit seiner eigneen Seele,

welche Welt und Gott enthält.

-

Wie eine Welle, die vom Schaum gekränzt

aus blauer Flut sich voll Verlangen reckt

und müd und schön im großen Meer verglänzt –

wie eine Wolke, die im leisen Wind

hinsegelnd aller Pilger Sehnsucht weckt

und blass und silbern in den Tag verrint –

Und wie ein Lied am heißen Straßenrand

fremdtönig klingt mit wunderlichem Pein

und dir das Herz entführt weit über Land –

so weht mein Leben flüchtig durch die Zeit,

ist bald vertönt und mündet doch geheim

ins Reich der Sehnsucht und der Ewigkeit.

-

Welkes Blatt.

Jede Blüte will zur Frucht, jeder Morgen Abend werden.

Ewiges ist nicht auf Erden als der Wandel, als die Flucht.

Auch der schönste Sommer will einmal Herbst und Welke spüren.

Halte, Blatt, geduldig still, wenn der Wind dich will entführen.

Spiel dein Spiel und wehr dich nicht,

lass es still geschehen.

Lass vom Winde, der dich bricht,

dich nach Hause wehen.

Alles will sich nun verhüllen und entfärben,

Nebeltage brüten Angst und Sorgen,

nach der Nacht voll Sturm klirr Eis am Morgen,

Abschied weist, die Welt ist voll von Sterben.

Sterben lern auch du und sich ergeben,

Sterbenkönnen ist ein heilges Wissen.

Sei bereit zum Tod – und hingerissen

wirst du eingehn zu erhöhtem Leben.

 

Stufen.

Wie jede Blüte welkt und jede Jugend

dem Alter weicht, blüht jede Lebensstufe,

blüht jede Weisheit auch und jede Tugend

zu ihrer Zeit und darf nicht ewig dauern.

Es muss das Herz bei jedem Lebensrufe

bereit zum Abschied sein und Neubeginne,

um sich in Tapferkeit und ohne Trauern

in andre, neue Bindungen zu geben.

Und jedem Anfang wohnt ein Zauber inne,

der uns beschützt und der uns hilft, zu leben.

Wir sollen heiter Raum um Raum durchschreiten,

an keinem wie an einer Heimat hängen,

der Weltgeist will nicht fesseln uns und engen,

er will uns Stuf´ um stufe heben, weiten.

Kaum sind wir heimisch einem Lebenskreise

und traulich eingewohnt, so droht Erschlaffen,

nur wer bereit zu Aufbruch ist und Reise,

mag lähmender Gewöhnung sich entraffen.

Es wird vielleicht auch noch die Todesstunde

uns neuen Räumen jung entgegen senden,

des Lebens Ruf an uns wird niemals enden …

Wohlan denn, Herz, nimm Abschied und gesunde!

-

Ein altes Herzweh in vernarbter Brust,

üb ich der fernen Jugend Lieblingslust:

Dem weißen Zug der sommerlichen Wolken

mit stillen Augen stundenlang zu folgen.

Und alles, was ich sah und tat und litt,

geht in den hohen Wolkenzügen mit.

Ich nach ewigen Gesetzen segeln,

was einst mir wild erschien und frei von Regeln.

Und seh die Züge ohne Lust noch Leid

Hinüberfahren in die Ewigkeit.

 

August.

Das war des Sommers schönster Tag,

nun klingt er vor dem stillen Haus

in Duft und süßem Vogelschlag

unwiderbringlich leise aus.

In dieser Stunde goldnen Born

gießt schwelgerisch in roter Pracht

der Sommer aus sein volles Horn

und feiert seine letzte Nacht.

 

Im Nebel.

Seltsam, in Nebel  zu wandern!

Einsam ist jeder Busch und Stein,

kein Baum sieht den andern,

jeder ist allein.

Voll von Freuden war mir die Welt,

als noch mein Leben licht war;

nun, da der Nebel fällt,

ist keiner mehr sichtbar.

Wahrlich, keiner ist weise,

der nicht das Dunkel kennt,

das unentrinnbar und leise

von allem ihn trennt.

Seltsam, im Nebel zu wandern!

Leben ist Einsamsein.

Kein Mensch kennt den andern,

jeder ist allein.

 

Walter Flex.

Keines Menschen Alltag ist frei von erbärmlichen Stunden,

alles Menschenleben ist Kranken und Wiedergesunden.

Doch in der schwächsten Stunde auch flehe ich nicht um mein Leben.

Gott, du kanns es mir nehmen, du hast mir´s gegeben.

Eines erfleh ich im Stande der Schwachheit von dir allein:

Lass die kraftlose Stunde mein letztes Stündlein nicht sein!

Gott, du hast mir noch immer die matten und schlaffen Stunden zum würdigen Leben umgeschaffen –

Lass mich vom Brot des Todes nicht feige und unwürdig essen,

lass in der heiligen Wandlung mich alle durchlittene Schwachheit vergessen.

 

Eduard Mörike.

Herr, schicke, was du willst, ein Liebes oder Leides!

Ich bin vergnügt, dass beides aus deinen Händen quillt.

Wollest mit Freuden und wolles mit Leiden

mich nicht überschütten!

Doch in der Mitten liegt holdes Bescheiden.

 

Septembermorgen.

Im Nebel ruhet noch die Welt, noch träumen Wald und Wiesen.

Bald siehst du, wenn der Schleier fällt,

herbstkräftig die gedämpfte Welt

in warmem Golde fließen.

 

Conrad Ferdinand Meyer.

Aufsteigt der Strahl, und fallend gießt

er voll der Marmorschale Rund,

die, sich verschleiernd, überfließt in einer zweiten Schale Grund.

Die zweite gibt, sie wird zu reich,

der dritten wallend ihre Flut,

und jede nimmt und gibt sogleich

und strömt und ruht.

 

Manfred Hausmann.

Denn oft sind Worte wie Papierlaternen,

wohlfeier Tand nur, bis ein Licht sie sacht

erhellt und immer durchsichtiger macht.

Dann hängen sie gleich zauberischen Sternen

in der Unendlichkeit der Nacht.

 

Der Wald.

Des Morgens, wenn die Dämmerung nach Erdbeeren und Irrkraut riecht,

ehe die Sonne durch den wirren Schwung des tropfenden und kühlen Laubes kriecht…

der Pirol ruft schon hin und wieder, der Tau am Buchenstamm

versammelt sich und sickert silbrig nieder

im Minzekraut und auf den Straßendamm…

es duftet leicht vom Grunde auf,

in jeden Wipfel drängt das Wachstum sich hinauf,

und alles steht so ungeheuer da und so uralt

und schläft nicht mehr und ist nicht wach…

dann träumt der Wald

und denkt den weggesunknen Zeiten träumend nach.

 

Liebe.

Wenn wir uns nicht mehr haben und uns sehnen,

dann ist´s, als hätten wir uns endlich ganz.

Doch wenn wir eins im andern uns geborgen wähnen,

verdunkelt sich die Lust, verblasst der Glanz.

Die Ferne ist es nicht und nicht die Nähe.

Ach, immer lebt das Innigste allein.

Lass uns, wie gut es auch, wie schlimm es um uns stehe,

lass uns barmherzig zueinander sein!

 

Herbst.

Die Schneegans im Wolkendampf mit ruhigem Gesang kennt ihren Weg.

Aber der Mensch weiß nicht, wohin.

 

Wer des Lichts begeht, muss ins Dunkel gehen.

Was das Grauen mehrt, lässt das Heil erstehn.

Wo kein Sinn mehr misst, waltet erst der Sinn.

Wo kein Weg mehr ist, ist des Wegs Beginn.

 

Totgeweiht.

Der Hammer hebt sich, zögert und fällt nieder.

Die Glocke summt. Die Stunde ist gegangen.

Was sie gewährt an Fülle und Verlangen,

treibt mit ihr fort, treibt fort und kehrt nicht wieder.

Doch unbeirrt wie eine Woge gleitet

Die neue näher, schicksalsschwer befrachtet,

und sinkt in Nichts, wo das Geheimnis nachtet,

indessen schon die dritte sich bereitet,

die schweigend ansteigt, schäumt und weiterflieht

und aber eine aus dem Dunkel zieht.

Und jede trägt Gesang und Not von hinnen.

Denn alles Leben schwebt im Meer der Zeit.

Was sich bewahrt, hat keine Wirklichkeit,

was nicht vergehen will, kann nicht beginnen.

 

Spätlese.

Im schlaffen Laube vom Frosthauch gestreift

Die schwere Traube erfüllt sich und reift.

Es werden die Schmerzen ihr zugefügt,

nun auszumerzen, was nicht genügt,

bis sie zur feinsten Geistsüße sich klärt,

wie sie dem Reinsten zuletzt widerfährt.

Aber das Falbe im Winter der Welt,

das Freudlose, Halbe vermodert und fällt.

 

Joseph von Eichendorff.

Wünschelrute.

Schläft ein Lied in allen Dingen,

die da träumen fort und fort,

und die Welt hebt an zu singen,

triffst du nur das Zauberwort.

 

Mondnacht.

Es war, als hätt der Himmel die Erde still geküsst,

dass sie im Blütenschimmer von ihm nun träumen müsst.

Die Luft ging durch die Felder, die Ähren wogten sacht,

es rauschten leis die Wälder, so sternklar war die Nacht.

Und meine Seele spannte weit ihre Flügel aus,

flog durch die stillen Lande, als flöge sie nach Haus.

 

Johann Wolfgang von Goethe.

Meeresstille.

Tiefe Stille herrscht im Wasser,

ohne Regung ruht das Meer,

und bekümmert sieht der Schiffer

glatte Fläche ringsumher.

Keine Luft von keiner Seite!

Todesstille, fürchterlich!

In der ungeheuren Weite reget keine Welle sich.

 

Wanderers Nachtlied.

Der du von dem Himmel bist, alles Leid und Schmerzen stillest,

den, der doppelt elend ist, doppelt mit Erquickung füllest,

ach, ich bin des Treibens müde!

Was soll all der Schmerz und Lust?

Süßer Friede, komm, ach komm in meine Brust.

 

An den Mond.

Füllest wieder Busch und Tal    still mit Nebelglanz,

lässest endlich auch einmal   meine Seele ganz;

Breitest über mein Gefild   lindern deinen Blick,

wie des Freundes Auge mild   über mein Geschick.

Jeden Nachklang fühlt mein Herz   froh- und trüber Zeit,

wandle zwischen Freud und Schmerz   in der Einsamkeit.

Fließe, fließe, lieber Fluss!   Nimmer wird ich froh,

so verrauschte Scherz und Fuss,    und die Treue so.

Ich besass es doch einmal,    was so köstlich ist!

Dass man doch zu seiner Qual    nimmer es vergisst!

Rausche, Fluss, das Tal entlang,    ohne Rast und Ruh,

rausche, flüstre seinen Sang   Melodien  zu.

Wenn du in der Winternacht   wütende überschwillst,

oder um die Frühlingspracht   junger Knospen quililst.

Selig, wer sich vor der Welt   ohne Hass verschliesst,

einen Freund am Busen hält   und mit dem geniesst.

Was, von Menschen nicht gewusst   oder nicht bedacht,

durch das Labyrinth der Brust   wandelt in der Nacht.

 

Willst du immer weiter schweifen?

Sieh, das Gute liegt so nah.

Lerne nur das Glück ergreifen,

denn das Glück ist immer da.

 

Grenzen der Menschheit.

Wenn der uralte,  Heilige Vater mit gelassener Hand

aus rollenden Wolken  segnende Blitze  über die Erde sät,

küss ich den letzten   Saum seines Kleides,

kindliche Schauer   treu in der Brust.

Denn mit Göttern   soll sich nicht messen  irgend ein Mensch.

Hebt er sich aufwärts   und berührt   mit dem Scheitel die Sterne,

nirgends haften dann   die unsichern Sohlen

 

und mit ihm spielen   Wolke und Winde.

Steht der mit festen,    markigen Knochen   auf der wohlgegründeten

dauernden Erde,   reicht der nicht auf,   nur mit der Eiche

oder der Rebe   sich zu vergleichen.

Was unterscheidet    Götter und Menschen?   Dass viele Wellen

vor jenen wandeln, ein ewiger Strom:   uns hebt diei Welle,

verschlingt die Welle,   und wir versinken.

Ein kleiner Ring   begrenzt unser Leben,

und viele Geschlechter   reihen sich dauernd

an ihres Daseins    unendliche Kette.

 

Das Göttliche.

Edel sei der Mensch, hilfreich und gut! Denn das allein unterscheidet ihn von allen Wesen, die wir kennen. Heil den unbekannten höhern Wesen, die wir ahnen! Ihnen gleiche der Mensch; sein Beispiel lehr uns jene glauben. Denn unfühlend ist die Natur; es leuchtet die Sonne über Bös und Gute, und den Verbrecher glänzen wie dem Besten der Mond und die Sterne.

Wind und Ströme, Donner und Hagel rauschen ihren Weg und ergreifen vorübereilend einen um den andern. Auch so das Glück tappt unter die Menge, fasst bald des Knaben lockige Unschuld, bald auch den kahlen schuldigen Scheitel. Nach ewigen, ehernen, großen Gesetzen müssten wir alle unseres Daseins Kreise vollenden. Nur allein der Mensch vermag das Unmögliche: Er  unterscheidet, wählet und richtet; er kann dem Augenblick Dauer verleihen. Er allein darf den Guten lohnen, den Bösen strafen, heilen und retten, alles Irrende, Schweifende nützlich verbinden. Und wir verehren die  Unsterblichen, als wären sie Menschen, täten im Großen, was der Beste im kleinen tut oder möchte. Der edle Mensch sei hilfreich und gut! Unermüdet schaff er das Nützliche, Rechte, sei uns ein Vorbild jener geahnten Wesen!

 

Nikolaus Lenau.

O Menschenherz, was ist dein Glück?

Ein rätselhaft geborner

und, kaum gegrüßt, verlorner

unwiederholter Augenblick.

 

Friedrich Rückert.

Du meine Seele, du mein Herz,

du meine Wonn, o du mein Schmerz,

du meine Welt, in der ich lebe,

mein Himmel du, darein ich schwebe,

o du mein Grab, in das hinab

ich ewig meinen Kummer gab!

Du bist die Ruh, du bist der Frieden,

du bist der Himmel, mir beschieden.

Dass du mich leibst, macht mich mir wert,

dein Blick hat mich vor mir verklärt;

du hebst mich liebend über mich,

mein guter Geist, mein bessres Ich!

 

Friedrich Nietzsche.

Ecce Homo.

Ja! Ich weiß, woher ich stamme!

Ungesättigt gleich der Flamme

Glühe und verzehr ich mich.

Licht wird alles, was ich fasse,

Kohle alles, was ich lasse:

Flamme bin ich sicherlich.

 

Theodor Storm.

Sprüche.

Von Unglück erst zieh ab die Schuld,

was übrig bleibt, trag in Geduld!

 

Mondlicht.

Wie liegt im Mondenlichte    begraben nun die Welt;

wie selig ist der Friede,    der sie umfangen hält.

Die Winde müssen schweigen,    so sanft ist dieser Schein,

sie säuseln nun  und weben    und schlafen endlich ein.

Und was in Tagesgluten   zur Blüte nicht erwacht,

es öffnet seine Kelche   und duftet in die Nacht.

Wie bin ich solchen Friedens   seit lange nicht gewohnt

Sei du in meinem Leben   der liebevolle Mond!

 

Meeresstrand.

Ans Haff nun fliegt die Möve   und Dämmrung bricht herein,

über die feuchten Watten   spiegelt der Abendschein.

Graues Geflügel huschet  neben dem Wasser her.

Wie Träume liegen die Inseln   im Nebel auf dem Meer.

Ich höre des gärenden Schlammes   geheimnisvollen Ton,

einsames Vogelrufen  - - so war es immer schon.

Noch einmal schaudert leise  und schweiget dann der Wind,

vernehmlich werden die Stimmen,   die über der Tiefe sind.

 

Nikolaus Lenau.

Drei  Zigeuner fand ich einmal liegen auf einer Weide, als ich einsam in müder Qual schlich durch die sandige Heide. Hielt der erste für sich allein in den Händen die Fiedel, spielte, umglüht vom Abendschein, sich ein feuriges Liedel. Hielt der zweite die Pfeife im Mund, blickte nach ihrem Rauche, froh, als ob er vom Erdenrund nichts vom Glücke mehr brauche. Und der dritte behaglich schlief, und sein Cymbal am Baum  hing, über die Saiten der Windhauch lief, über sein Herze ein Traum ging. An den Kleidern trugen die drei    Löcher und bunte Flicken, aber sie boten trotzig und frei Spott allen Erdengeschicken. Dreifach haben sie mir gezeigt, wenn das Leben uns nachtet, wie mans verraucht, verträumt, vergeigt und es dreimal verachtet. Nach den Zigeunern lange noch schaun musst ich im Weiterfahren, nach den Gesichtern dunkelbraun, nach den schwarzlockigen Haaren.

 

 

 

 

Aus der Beerdigungspredigt am 24. April 2002 in Appenrode,

von ihrem Schwiegersohn Friedrich Meinhof:

 

Liebe Familienglieder, liebe Trauergemeinde!

Meine Schwiegermutter hat sich gewünscht, dass ihr Konfirmationsspruch

in dieser Stunde erwähnt wird: „Der Herr hat seinen Engeln befohlen, dass sie dich behüten auf allen deinen Wegen.“ (Ps. 91,11)

Und sie schreibt dazu in ihren Erinnerungen: „Mein Konfirmationsspruch stand über meinem ganzen Leben. Als Konfirmandin war ich enttäuscht, weil er keine Forderung enthielt. Meine Großmutter und mein Vater meinten, dass ich den schönsten Spruch erhielt. Heute sehe ich das auch so, mein ganzes Leben war ein Geschenk ohne jede Vorbedingung, was ich dankbar immer wieder neu angenommen habe trotz vieler Fehltritte. Beschenktwerden macht ebenso glücklich wie das Schenkendürfen  utner Menschen.“

Wie das sein kann in einem langen Leben – von Gottes Engeln behütet sein und von Gottes Fülle Gnade um Gnade nehmen, das haben wir an ihr und mit ihr erlebt. Der allmächtige und barmherzige Gott ist uns allen sehr nahe gewesen mit seiner Freundlichkeit und Treue. Sie hat das bis ins Alter gewusst und gelebt, als Kinder und Enkel für sie zu sorgen hatten; nicht mehr tun für andere, sondern da sein, mit aller Lebensfreude, aller Anteilnahme, ein bisschen mit Erfahrung und viel Einfühlung.