Der Raubmord in der Seydaer Heide.

Eine wahre Begebenheit.

Erzählung von Hermann Gülicher aus Zahna.

Ein eisiger Schneesturm tobte. Die Schneeflocken fielen dicht zur Erde nieder. Obgleich am Morgen schöner heller Sonnenschein war, so hatte sich das Wetter nachmittags ins Gegenteil verändert, als ein Greis mit weißen Haaren gegen Abend in einem Gasthof in Seyda einkehrte. Das schöne Wetter am Morgen hatte ihn dazu verlockt eine Reise zu unternehmen, die er innerhalb acht Tagen antreten mußte. Er selbst, ein alter Invalide aus dem Siebenjährigen Kriege, in dem er in mancher Schlacht unter den Fahnen Friedrichs des Großen mitgekämpft hatte, war einst in der Schlacht bei Prag verwundet worden. Sein Weib ruhte bereits seit Jahren unter dem grünen Rasen. Nachkommen hatte er nicht. Zu wiederholten Malen hatte er bei den Militärbehörden um eine Unterstützung auf Grund seiner im Feldzuge erhaltenen Verwundung angehalten, auch zugleich auf seine Bedürftigkeit hingewiesen. Jedoch ohne Erfolg. Groß war nun seine Freude, als er den Bescheid erhielt, daß ihm nach langen Jahren eine einmalige Unterstützung von 250 Thalern zuerkannt wäre und er diese persönlich gegen Ausweis seiner Militärpapiere auf dem Landratsamt in Wittenberg in Empfang nehmen könne. Dieses müßte aber noch vor dem Weihnachtsfeste geschehen, was bereits in acht Tagen fällig war.

Die Dämmerung war bereits eingetreten, als er in Seyda eintraf. Den Abend über hatte sich in dem Gasthof, in den er eingekehrt war, weiter kein Gast eingefunden als ein in der Nähe wohnender Schmied. Freudig erzählte er diesem und auch zugleich dem Gastwirt den Grund seiner Reise, betonte auch noch, daß er, wenn es sich tun ließe, morgen Abend wieder hier einkehren würde.

Des nächsten Tages, am Abend, war er dann auch wieder zur Stelle. Auch an diesem Abend war der Schmied wieder anwesend, und fragte den Alten, ob er das Geld erhalten hätte, was dieser vertrauensvoll bejahte. Am andern Morgen trat er die Heimreise wieder durch die Heide an. Kaum war er eine Stunde einsam dahin gewandert, als ihm ein donnerndes Halt! zugerufen wurde. Aber zugleich sauste auch ein schwerer Schmiedehammer auf seinen Kopf nieder, weitere Schläge folgten, und entseelt sank der Greis zur Erde nieder! Dann raubte sein Mörder ihm alle Taschen aus, zuerst das viele Geld, nahm aber auch sämtliche Papiere an sich, die zu einem Ausweis seines Opfers führen konnten, schleifte den Leichnam dann zu einem in der Nähe befindlichen Reisighaufen und bedeckte ihn mit diesem, so daß nichts von ihm zu sehen war.

Der Winter war vergangen; es ist wieder Frühling. Der Schäfer vom Rittergut Gentha hütet am Rande der Seydaer Heide seine Herde. Bald wurde er durch das eigentümliche Benehmen seines alten Hundes aufmerksam. Dieser streckte die Nase in die Höhe und lief dann schnell in den Wald hinein. Bald hörte er, daß dieser kläglich heulte. Gleich darauf kam derselbe zurückgesprungen, und stellte sich laut bellend vor dem Schäfer hin, als wollte er sagen: komm mit, ich habe was gefunden! Dieses war schon einmal der Fall gewesen, als er einmal ein Stück erlegtes Hochwild gefunden hatte. Nun glaubte der Schäfer, daß dieses wieder der Fall wäre, und folgte seinem Hunde, welcher laut bellend vor ihm hersprang. In einiger Entfernung erblickte er nun einen Reisighaufen, vor welchem der Hund stehen blieb, erst die Nase darunter hielt, dann diese in die Höhe streckte und wieder ein klägliches Geheul anstimmte. Als der Hirte in die Nähe des Haufens kam, wurde er starken Leichengeruch gewahr. Er warf schnell die Zacken auseinander und erblickte dann einen alten Mann mit weißen Haaren, die aber größtenteils mit Blut durchtränkt waren. Der Schädel war zertrümmert, auch das Gesicht war mit Blut übergossen. Entsetzt über den grausigen Fund ging er mit seinem Hunde zur Herde zurück, denn es war ihm klar, daß der Alte das Opfer eines Mörders geworden war. Als das Mittagessen ihm von seinem Sohn gebracht wurde, setzte er diesen von seinem Erlebnis in Kenntnis. Die Neugierde trieb diesen auch hin; aber dann eilte er, so schnell er konnte, dem Gutshofe zu und meldete es dem Amtmann von Gentha. Dieser ließ sofort sein Reitpferd satteln und sprengte hinaus zu dem Schäfer, u nd ging mit diesem zur Mordstelle. Als er den Leichnam eingehend besichtigt hatte, ritt er sofort nach Seyda und meldete die Tat bei dem damals in Seyda befindlichen Amtsgericht an, desgleichen bei dem Magistrat. Bald darauf gingen die Gerichtsbeamten sowie der Magistrat und Stadtverordnetenkollegium, zu denen auch der Gastwirt und jener Schmied gehörten, nach der Heide hinaus, geführt von dem Genthaer Amtmann. Als nun der Gastwirt den Leichnam erblickte, rief er sofort entsetzt aus: „Das ist ja der alte Invalide, der kurz vor Weihnachten zweimal bei mir übernachtet hat!“ Dann trat er aber gleich an den Schmied heran und rief mit bebender Stimme, indem er sich vor die Brust schlug: Mensch! entweder ich oder du, einer von uns beiden hat den alten Mann totgeschlagen, keiner weiter als wir beide wußten es, daß er so viel Geld bei sich hatte. Du hast am andern Morgen aufgepaßt, wie der von uns abreiste, und bist dann hintenrum über die Wiesen ihm nachgelaufen!

Obgleich das Kainszeichen des schuldbeladenen Gewissens sich in dem Gesicht des Schmiedes abspiegelte über die so unerwartete Herausforderung, so hatte er dennoch die Frechheit, dem Gastwirt Beleidigungen ins Gesicht zu werfen, daß dieser den Mord begangen hätte während der Nacht, wo der Alte wieder auf der Rückreise war. Darüber geriet der Gastwirt so in Wut, daß er sich gleich auf den Verleumder stürzen wollte. Aber dieser kam ihm zuvor und lief so schnell er konnte davon. Gleich an Ort und Stelle wurde nun über die Sache beraten und der Beschluß gefaßt, den Schmied zu verhaften. Als aber die Polizeibeamten in dessen Behausung kamen, war dieser nicht mehr zu finden, er hatte den Vorsprung zur Flucht benutzt. Ausgesandte Boten konnten nichts über ihn ermitteln, Eisenbahnen, Telegraphen und Fernrufleitungen gab es damals noch nicht. Es war mithin sehr schwer, einen Verbrecher ausfindig zu machen und zu ergreifen. Eine ganze Anzahl von Jahren war bereits verflossen. Die Macht des großen Korsen Napoleon wurde in der großen Völkerschlacht bei Leipzig gebrochen. Auch die Sachsen, welche mit Napoleon gekämpft hatten, traten zu den verbündeten Preußen, Russen und Oesterreichern bei Leipzig über, und zogen mit allen diesen über den Rhein nach Elsaß-Lothringen hinein. Ein sächsisches Dragoner-Regiment kam in Schlettstatt ins Quartier. Bei diesem dienten auch mehrere, die aus Seyda und den nahe liegenden Ortschaften stammten. Einer von denen mußte sein Pferd neu beschlagen lassen. In der Schmiede traf er einen alten Schmiedegesellen an, in welchem er den Flüchtling aus Seyda zu erkennen glaubte. Vorsichtig ließ er sich mit diesem in ein Gespräch ein. Nach Beendigung desselben hatte er die volle Gewißheit, daß dieser Geselle der steckbrieflich gesuchte Schmied aus Seyda war. Er meldete die Sache ganz ausführlich seinem Vorgesetzten. Dieser wieder meldete es dem Rittmeister. Der Dragoner wurde dann noch einmal ganz ausführlich verhört. Die Folge davon war, daß der Schmiedegeselle ebenfalls verhört wurde. Nach anfänglichem Leugnen mußte er eingestehen, daß er der Gesuchte sei. Darauf wurde er gleich festgenommen und von zwei Dragonern nach der Heimat zurücktransportiert.

In Seyda angelangt wurde dem Mörder der Prozeß gemacht und zum Tode durch den Strang verurteilt. Am Tage seiner Hinrichtung wurde er von den Gehilfen des Scharfrichters aus Schweinitz als Zeichen des Abscheus auf einer Ochsenhaut über das Pflaster von Seyda geschleift. Vor seinem Hause angelangt wurde es ihm gestattet, sich zu erheben und noch einmal hinein zu gehen, um Abschied zu nehmen. Aber die Türen waren verschlossen, die Fenster dicht verhängt. Unversöhnt ist er von den Seinen geschieden. Als das Pflaster aufhörte, ließ man ihn aufstehen und den Weg bis zur Richtstätte zu Fuß zurücklegen. Nach der Hinrichtung hat sein Leichnam noch acht Tage zur Schau am Galgen gehangen. Dies ist die letzte Hinrichtung in Seyda gewesen.“

(Heimatgrüße, Evangelische Monatsblatt für den Kirchenkreis Zahna, 1920/7)

Vgl. "Die Geschichte der Kirche in Seyda", Band 3!