Die Freude

am Herrn

ist unsere Stärke.

 

Eine neue Glocke für Seyda 2017.

 

 

 

 

Meiner Mutter zum 75. Geburtstag

am 19. Oktober 2017.

 

 

 

Ein Bekenntnis soll sie sein, die Inschrift auf der Glocke: „Die Freude am Herrn ist unsere Stärke.“

Es ist dem Bibelwort aus dem Buch Nehemia nachempfunden. Nehemia macht dem Volk Gottes Mut, das – nach 40jährigem Exil – heimgekommen ist und nun Jerusalem wieder aufbaut. Da sind viele Trümmer und da ist viel Unkraut – und nur eine kleine Kraft, begrenzte Mittel, aber: „Die Freude am  Herrn ist Eure Stärke.“ (Neh 8,10). Bibelworte verändert man sonst nicht, aber: Man darf sich selbst angesprochen fühlen. Das ist Luthers Lehre: Dass wir gemeint sind, dass ich gemeint bin. Deshalb: „Die Freude am  Herrn ist unsere Stärke.“

„Wir sind Lutheraner“ ist also hier auch eine Begründung dafür, dass uns die gute Nachricht Gottes gilt und wir sie ergreifen wollen. Es will nicht ausschließen, sondern die Freude teilen. Und es schaffte und schafft Verbindungen: In diesem Jahr des 500. Reformationsjubiläums haben wir es ganz handgreiflich spüren können. Deshalb ist es nicht nur in Deutsch, sondern auch in Englisch und Dänisch auf der Glocke zu lesen: „We are Lutherans“ – „Vi er lutheranere“.

Der große Kontrast zur letzten großen Jubelfeier 1917: Da wollte keiner mit „uns“, mit Deutschland feiern, mitten im Weltkrieg. Aber nun, in diesem Jahr, feiern wir gemeinsam, das Jubiläum hat uns zusammengeführt, nicht nur in Wittenberg, sondern eben auch in Gentha und in Seyda.

 

Bischöfin Marianne Christiansen aus Haderslev war mehrmals zu Gast mit Pfarrerinnen und Pfarrern aus ihrem Bistum. Anlass war die dänische Prinzessin  Hedwig, die Kurfürstin von Sachsen wurde, die Kirche von Gentha stiftete und deren Bild wir erst vor kurzer Zeit dort entdeckt haben: Sie sitzt – anstelle eines Jüngers – selbst am Tisch des Herrn. Wir haben dort einen Platz, nicht irgendwelche Leute in weiter Ferne, sondern wir: Das ist lutherisch. Dieser Herr ist unter uns, wo wir ihm vertrauen, sein Wort hören und Abendmahl und Taufe feiern: Da ist die Kirche – eben auch ganz tief in der Provinz, weit weg von den Zentren und Nabeln der Welt, auch bei uns hier. Das ist die große Freude, eine Entdeckung der Reformation: Und eben keine Eintagsfliege, sondern nun über ein halbes Jahrtausend bewährt und erlebt.

Von der Freude soll die Glocke klingen: Auch der Freude darüber, dass wir für unser Städtchen so viele Menschen haben, die sich einsetzen: Einen Gemeindekirchenrat mit 11 Leuten -  und jeder in Seyda  ist wenn nicht mit einem verwandt, so doch befreundet und bekannt. Alle sind vertreten: Die, deren Familien schon über Jahrhunderte in Seyda zu Hause sind genauso wie die, die nach dem Krieg als Flüchtlinge zu uns kamen. Die wegen der Liebe oder der Arbeit hergezogen sind gehören zur Gemeinde genauso wie die bodenständigen  Handwerker und Arbeiter, die sich tatkräftig einsetzen,  Geschäftsleute und Akademiker. Welche, die ein Leben lang dabei waren genauso wie die, die erst wieder in die Kirche eingetreten sind. Die Schausteller und Artistenfamilien finden sich wieder, die ihre festem Quartiere seit vielen Jahren in Seyda und  Umgebung haben und sonst durch das Land  ziehen, um Freude zu bringen. Die Jungen und die Älteren. Gut, dass wir einander haben. Das wollen die Namen auf der Glocke ausdrücken.

Und dazu kommen die Verbindungen, die wir in Seyda haben dürfen, die es schon lange gibt oder die wieder entstanden sind: Ein großer Schatz ist die gute Zusammenarbeit mit der Stadt und nicht selbstverständlich in diesen Zeiten – dafür steht der Ortsteilbeiratsvorsitzende Matthias Wegener.

Martin Luther hat sich bei der ersten Kirchenvisitation 1528, die auch Seyda betraf, für den Bau einer Schule stark gemacht: Und auch heute gibt es sehr gute Beziehungen: Miteinander konnten wir den Bestand der Schule erreichen, miteinander gab es vielerlei Projekte und Begegnungen, so zu den Schul- und Heimatfesten oder beim Deutsch-Polnischen Jugendaustausch: Und dafür steht beispielhaft wie keine andere Frau Jaqueline Meißner, die bis vor kurzem, aber über viele Jahre lang Schulleiterin und Lehrerin an der Grundschule war.

Ein Leuchtfeuer der Liebe und eine stetige Mahnung zur  Menschlichkeit in unserer Mitte ist der Diest-Hof, die diakonische Einrichtung  und Heimat für Menschen mit geistiger Behinderung in Seyda. Die Bewohner und Bewohnerinnen, Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen sind mittendrin in unserer Kirchengemeinde und in unserem Städtchen, sie tragen zur Farbigkeit und zur Freude bei; stellvertretend dafür ist Diakon Andreas Gebhardt auf der Glocke benannt, der den Diest-Hof mit großer Einsatzfreude erfolgreich leitet.

Natürlich hat die Inschrift auch historische Bezüge: „Wir sind Lutheraner“ riefen die Bauern aus dem benachbarten Seehausen, als sie mit ihren erhobenen Gesangbüchern in den Händen vor das Pfarrhaus dort zogen um  zu verhindern, dass ihnen die vertraute Lehre in Liedern und Katechismus – damals durch eine Aktion des preußischen Königs - genommen wurde.

Schließlich ist die alte Glocke, neben der die neue hängen wird, aus dem Reformationsjahr 1717, also zum 200. Reformationsjubiläum gegossen, und ihre Inschrift handelt auch von der Freude nach großem Leid: Nach dem verheerenden Stadtbrand wurde ein neuer Anfang geschenkt, und sie soll nun den „Freudenthon evangelischer Christenheit ins Künftige vermehren“ helfen; auch sind Amtsmann und Kirchenvertreter benannt.

 

Warum wir eine Glocke brauchen? Nun, sie ist ein starkes Stück Heimat – und sie ruft  uns und erinnert uns an die ewige Heimat, die wir haben dürfen, an die Annahme und den Platz bei Gott in Zeit und Ewigkeit, an die Liebe Jesu Christi, die uns gilt – wo wir auch sind auf unserem Lebensweg.

 

Es waren einmal fünf Glocken: Vier im Turm und ein „Vesperglöckchen“ noch in einem kleinen Turm auf der Ostspitze, das alte Bild von Seyda vor dem Stadtbrand 1708 zeigt das. Das Feuer machte dem ein Ende. Und dann kamen wieder nach und nach Glocken auf den Turm – wenn es auch lange dauerte, fast 10 Jahre brauchte die Gemeinde bis 1717, schließlich war ja tatsächlich die halbe Stadt abgebrannt samt der Kirche, also viel zu tun: Und dennoch: Eine Glocke wurde angeschafft.

Schließlich waren es wieder viele: Aber die furchtbaren Kriege kamen, die Weltkriege: Glocken wurden eingeschmolzen für die Rüstung, eine grausame Verwandlung. 1933 gab es wieder eine Glockenweihe – mit einem Umzug von der Triftstraße über den Markt, das haben wir uns nun zum Vorbild genommen für unseren Umzug am 1. November durch das Städtchen.

Freilich, ein Pferdewagen wird es nicht sein diesmal – weder Pferde noch Zuschauer sind das in unseren Tagen noch gewohnt – aber die Zimmermeisterbrüder Frenzel stellen uns ihren Wagen, auf dem die geschmückte Glocke fahren wird, zum Zeichen: Es ist unsere Glocke, uns soll sie rufen, und es ist unsere Freude miteinander. Der Spielmannszug zieht vorneweg, und wir starten diesmal an Schule und Kindergarten, so dass die Schulkinder auch mitlaufen können und selbst die Kleinen aus der Kindertagesstätte die Glocke ganz nah erleben werden -  und dann sicher noch nach Jahrzehnten davon erzählen können, wie die neue Glocke nach Seyda kam.

 

Dabei war es ein mutiger Schritt für die Kirchengemeinde in diesen  Zeiten, denn die Anschaffung übersteigt bei weitem das, was normalerweise in einem Jahr oder gar in zwei Jahren in der Kirchengemeinde an Spenden gegeben wird.

Doch wann, wenn nicht 2017 sollte das geschehen?

 

Und es war zum wiederholten Mal dieses Staunen da, was an das Wunder der Speisung der 5000 erinnert: „Was habt Ihr?“ – „Fünf Brote und zwei Fische, aber was ist das für so viele?“ – und dann reicht es doch. Es geschieht dadurch, dass das eingesetzt wird, was da ist – und dieser Herr eben das Seine dazugibt, Menschenherzen anrührt in der Nähe und in der Ferne. Das ist die Freude!

 

Da gab es zum Beispiel ein Diamantenes Brautpaar, das Ehepaar Dalichow, was sich anstelle von Geschenken von ihren Gästen Spenden für die Glocke erbat und auch die Kollekte der Feierstunde in der Kirche dafür bestimmte.

Da gab es ganz viele große und kleine Spenden aus Seyda und von Menschen, die Seyda verbunden sind: Aber nun in der Ferne leben.

Da hat der Kirchenkreis Wittenberg, die Partnergemeinde aus Hessen und (zuerst!) Freunde aus Mainz große Summen dazugegeben: Und so ist es schließlich (fast!) zusammengekommen.

 

Schon im Februar löste der Gemeindekirchenrat Seyda den Auftrag aus in dem Wissen, dass eine Glocke nicht so schnell gegossen wird. Natürlich in Lauchhammer, der ostdeutschen Glockengießerei in der Nähe: Aber da gab es Probleme. „Wir bekommen das nicht hin. Wir haben keinen Künstler mehr, der die Gestaltung vornehmen kann.“ hieß es am Telefon. Ich erkundigte mich nach der Fertigungsweise, bestellte harte Wachsplatten, bat meine Mutter in Heiligenstadt um Entwürfe – mit denen dann der Kirchenrat sehr einverstanden war – und nach kurzer Zeit lag dies alles in Lauchhammer vor, so dass wir annahmen, dass dem Guss nun nichts mehr entgegenstehen dürfte.

Aber es ging noch weiter. „Ein Mathematiker fehlt uns, der das ausrechnet, welche Form die Glocke haben soll.“ Das war schon ein schwierigeres Problem. Schließlich ist das eine große alte Handwerkskunst und nicht so einfach getan. Aber der Glockensachverständige für Mitteldeutschland, Christoph Schulz, mit dem wir Kontakt aufnahmen, fand Abhilfe. Doch auch das nützte nichts. Ein Brief kam – im Mai! – aus Lauchhammer: Der Auftrag wurde zurückgegeben. In Lauchhammer werden keine Glocken mehr gegossen, hieß es. Was tun? Woher nun noch eine Glocke bekommen, 2017?

 

Und natürlich kommt dann auch die Frage: Warum? Warum, Gott? Wir haben uns doch gemüht. Wir haben Geld gesammelt, und viel wurde gegeben. Wir haben doch etwas Gutes vor, zu Deiner Ehre. Warum geht es nicht?

Ist´s Gottes Werk, so wird´s bestehn. Ist´s Menschenwerk, wird´s untergehn.“ So  hat es Martin Luther gesagt, an seinem Denkmal auf dem Wittenberger Markt ist es angeschrieben. Das will einen guten Mut machen: Das Gottes Werk doch ans Ziel kommt. Freilich manchmal eben nicht so, wie wir das wollen – das merken wir schmerzlich. Und manchmal – diesmal auch – können wir merken, dass die Umwege sich am Ende als gut herausstellen. So auch hier.

 

Der „heiße Draht“ zum Glockensachverständigen Schulz, der sich natürlich sehr in der Branche auskennt, half uns. Er war ja hier gewesen und hatte unser Bemühen gemerkt. „Wir haben ja schon den amerikanischen Chor eingeladen – aber ohne Glocke, was soll da werden?“ Er setzte sich für uns ein. Die älteste (noch bestehende) Glockengießerei Europas, Rincker in Sinn, war bereit, noch eine Glocke für uns zu gießen, nach der Fürsprache von Herrn Schulz, der Glockensachverständiger für ganz Mitteldeutschland ist und eben deshalb auch einen gewissen Einfluss hat.

Die Vorlagen von meiner Mutter halfen uns nun: Wir konnten sie schon vorweisen – und haben damit auch nicht unwesentlich etwas eingespart, was jetzt durch die Änderung des Auftragnehmers teurer wurde.

 

So fuhr ich also voller Freude und Erwartung am 11. September im Dienstwagen des Herrn Schulz mit nach Sinn in Hessen, um die „Glockenzier“ anzubringen.

Ich betrat die alte Glockengießerei, der man ihr Alter auch von außen durchaus ansieht. Ein wenig düster war es, eben wie in einer Schmiedewerkstatt, und vor mir eine große Grube mit schwarzer Asche oder ähnlichem, aus der mich von ganz unten her zwei weiße Augäpfel anblitzten… Ein Schwarzer schippte dort die schwarze Masse  heraus und war selbst ganz voll davon, ein eindrückliches Bild von der harten Arbeit dieses Handwerks, was in seiner grundsätzlichen Arbeitsweise über die Jahrhunderte gleich geblieben ist. Über die Frühstücksstullen meiner Mutter kam ich später mit dem Arbeiter ins Gespräch, er kam aus Kamerun, war aber eigentlich Informatikstudent  und verdiente sich in den Ferien ein wenig mit dieser Arbeit dazu…

Hinter der Grube nun stand unsere „falsche Glocke“ aus Lehm. Die Buchstaben und Wachsplatten waren ja alle vorbereitet, und in mehreren Stunden nun brachten wir – mit tatkräftiger Hilfe auch von Mitarbeitern der Firma Rincker – die „Glockenzier“ an. Zunächst wurden „Striche“ gezogen,  um die Glocke zu strukturieren,  und dann ging es an die Buchstaben. Immer wieder lesen – denn einen Druckfehler, den wird man nun 500 Jahre oder länger sehen und nicht mehr verbessern können. Die Lutherrose mit der Inschrift „Vivit!“  („Er lebt!“  „Jesus lebt!“), das Wappen Martin Luthers, kam auf die Vorderseite. Auf die Rückseite Anker, Kreuz und Herz für Glaube, Hoffnung und Liebe: Nach dem Wort von Paulus im „Hohen Lied der Liebe“, das diese drei Dinge immer bleiben werden. „Nun aber bleiben Glaube, Hoffnung, Liebe: Diese drei. Aber die Liebe ist die größte unter ihnen.“  (1 Kor 13,13).

Als ich vor fast 25 Jahren nach Seyda kam, fand nach wenigen Wochen die erste Jubelkonfirmation statt. Ich schrieb dem alten Pastor von damals, Willy Hagendorf, ob er seinen Konfirmanden nicht ein Grußwort schreiben könnte. Und er schrieb genau dieses Bibelwort. Seitdem habe ich auf unzähligen Schreiben und Gemeindebriefen diese drei  Zeichen gemalt: Anker, Herz und Kreuz. Es ist das, was bleibt, was fest steht und was uns keiner nehmen kann. Deshalb stehen nun diese Symbole auch auf der Glocke, verbunden mit einem angedeuteten Siegeskranz.

 

Beim Anbringen der Buchstaben kam heraus, dass manchmal noch ein Stück fehlte, um „die Runde“ voll zu machen. So gab es noch einige kleine Ergänzungen, die Erwähnung des Ortsnamens „Seyda“ zum Beispiel – das hatten wir vorher ganz vergessen, weil es uns selbstverständlich erschien – aber wer weiß, wie der Ort einmal in vielen Jahrhunderten geschrieben oder genannt wird.

 

Bis zum Feierabend und darüber hinaus haben wir die Fachleute in Anspruch genommen – die uns auch dann noch mit großer Geduld und Freundlichkeit halfen – im Bewusstsein etwas  zu tun, was viele Zeiten überdauern wird, so Gott will.

 

Auf dem Rückweg der langen Autofahrt nutzte ich die Zeit, vom Glockensachverständigen Vieles über Glocken und ihre Geschichte zu hören. So erfuhr ich, dass die Glocken  ursprünglich aus Asien, aus China und Indien, kamen. Schließlich trafen sich einmal ägyptische Kaufleute – die Glocken im Angebot hatten – und irische Seeleute, und die Iren erwarben von den Ägyptern eine Glocke und brachten sie in ihre  Heimat.

Im 8. Jahrhundert nun kam Bonifatius, ein iroschottischer Mönch, nach Mitteleuropa in unser Gebiet. Er wollte nicht mehr in der „stabilitas loci“ nur in seinem Kloster in Irland bleiben, sondern ihn trieb es hinaus, die Gute Nachricht, das Evangelium von Jesus Christus,  unseren Vorfahren zu bringen. Er fällte auf einem Berg die „Wotanseiche“, machte damit deutlich, dass die germanischen Götter keine Macht hatten, und baute Kirchen, Schulen, Krankenhäuser. Er brachte den christlichen Glauben und damit auch diese Weise zu leben (mit Glauben, Liebe und Hoffnung): Dass zum Beispiel für die Kranken und Alten gesorgt wurde. Und dann hat er wohl nach Irland geschrieben: „Bringt mir beim nächsten Besuch eine Glocke mit!“ So kam die Kirchenglocke nach Mitteldeutschland, die älteste, die noch heute klingt, ist 1038 geweiht und hängt wohl in Bad Hersfeld. Eine ältere hat man auch noch in einem alten Nordseehafen gefunden, versenkt. Jedenfalls wurde diese unsere Tradition damit begründet: Dass Glockenklang dazugehört.

 

Sogar in den 95 Thesen Martin Luthers, die am 31. Oktober 1517 die Reformation auslösten, haben die Glocken – mittendrin – ihren Platz. Die 55. These heißt: "Meinung des Papstes ist unbedingt: Wenn Ablässe, was das Geringste ist, mit einer Glocke, einer Prozession und einem Gottesdienst gefeiert werden, dann muss das Evangelium, das das Höchste ist, mit hundert Glocken, hundert Prozessionen, hundert Gottesdiensten gepredigt werden."

Im Deutschlandfunk wurde sie in diesen Tagen von Katharina Kunter, einer Historikerin, so interpretiert: "Als ich die These gelesen habe, fühlte ich mich eigentlich gleich so an ein großes Glockenbrausen zu Weihnachten oder zu Neujahr erinnert. Aber das – und jetzt ist eigentlich das Tolle – kannte Luther noch gar nicht. Im Mittelalter wurde immer nur eine einzelne Glocke geläutet. Und das finde ich das Tolle an dieser These, dass man es hier eigentlich mit einer Imagination des brausenden Evangeliums von Luther zu tun hat, obwohl er eigentlich in der Zeit selber nur das einzelne Glockenläuten kannte."

 

Am 6. Oktober nun kam das Erlebnis des Glockengusses in Sinn.

Um 6 Uhr früh am Morgen ging es los, in Seyda. Herr Hans-Karl Heepe, 80 Jahre alt und Bewohner des Diest-Hofes, wollte unbedingt dabei sein und stand schon lange vorher abfahrtsbereit am Pfarrhaus. Ansonsten hatte ich eher die Seydaer eingeladen, die es nicht weit nach Sinn hatten, weil sie dort, in Hessen, arbeiten. Denn es waren tatsächlich viele Stunden Fahrzeit: 15 Minuten vor der verabredeten Zeit waren wir endlich da.

Wir stiegen aus. Da heulten Sirenen auf und  zwei Krankenwagen hielten vor der Glockengießerei. Was war geschehen? Der Glockenmeister Rincker wurde abgeholt. Lächelnd beruhigte er uns von der Bahre aus: „Es findet statt, es findet statt. Nur ich kann nicht dabei sein.“

Lieber Gott, was soll das werden? Aber es gibt mehrere Meister in der Werkstatt, ein eingespieltes Team lernten wir kennen, unter Leitung des Bruders des Meister Rincker, der auch  Meister ist.

Der Ofen war schon angeheizt, lautstark war es  zu hören. 1000 Grad waren schon erreicht in dem großen Kessel, leuchtend rot glühte das Metall.

„Fest gemauert in der Erden
steht die Form, aus Lehm gebrannt.“

Genauso war es, wie vor vielen  hundert Jahren: Unsere Form, in der Grube eingemauert, mit einem gemauerten Kanal, wo das flüssige Metall dann an die Öffnung, die noch mit einem Zapfen verschlossen war, fließen sollte.

„Heute muss die Glocke werden,
frisch, Gesellen! seid zur Hand.
Von der Stirne heiß
rinnen muss der Schweiß,
soll das Werk den Meister loben.
Doch der Segen kommt von oben.“

So hat es Friedrich Schiller gedichtet, erstaunlich viele ältere Leute konnten mir in den vergangenen Tagen diese erste Strophe des Gedichtes aufsagen, nachdem ich nur die ersten Worte gesagt hatte – und so kann ich es nun auch.

Das Urelement des Feuers mit seiner Kraft, was Metall  zum Schmelzen bringt: Wir standen erwartungsvoll davor, die Luft war rußgeschwärzt, was die Fotos beeinträchtigte, über denen wie ein Film zu hängen schien.

Und dann fiel das Messgerät aus – 1100 Grad sollten es werden… Es wurde ersetzt – früher ging es ja auch ohne digitale Technik. Aber die 1100 Grad wurden nicht erreicht. Besser noch eine halbe Stunde warten… Wenn die Glockengießer auch mit viel Ruhe an ihr Handwerk gingen, so lag doch eine große Spannung in der Luft. Schließlich streiften die kräftigen Männer langsam ihre Handschuhe über: Jetzt musste es losgehen. „Doch der Segen kommt von oben!“ Der Glockengießer bat, jetzt nicht zu lange zu sprechen, denn nun schien das Metall die richtige Temperatur zu haben und die Gelegenheit günstig.

Pfarrerin Gabriele Geyer aus Schönberg in Franken, die auch - mit ihrer Gemeinde - zum Glockenguss da war, sprach das Gebet und den Segen:

„Unsere Hilfe steht im Namen des Herrn, der Himmel und Erde gemacht hat. Es ist ein besonders bewegendes Ereignis, das uns heute hier in der Gießerei Rincker zusammenführt, ein Ereignis, auf dass wir lange hingearbeitet und uns gefreut  haben.

Gott, sieh auf dieses Werk unserer Hände und lass den Guss gelingen.

Segne alle, die daran arbeiten.

Leite die feurigen Ströme des heißen Metalls und schenke unseren Mühen Erfolg.

In Deinen Händen, Gott, sind meine Zeiten, mein ganzes Leben, alle Tage, Stunden und Augenblicke.

Im Namen des Vaters, des Sohnes und des Heiligen Geistes. Amen.“

 

Und dann zischte das heiße Metall aus dem Kessel, die Glockengießer standen angespannt auf den Glockenformen und leiteten den Strom hinein. Absolute Stille war gefordert, man hörte das Glucksen der flüssigen Masse, der rechte Zeitpunkt war zu finden. Und er wurde gefunden.

Große Erleichterung! Wissendes Lächeln in den rußgeschwärzten Gesichtern der Arbeiter. Aus vielen Kehlen erklang nun „Großer Gott, wir loben Dich“ und „Nun danket alle Gott“.

Die Anspannung fiel ab. Der Meister wurde gesprächig, stellte alle seine Mitarbeiter vor – oft waren sie viele Jahre dabei.

Er erzählte von seinem Großvater, der im Krieg nach Berlin bestellt wurde und dort Auskunft geben sollte, wie möglichst effektiv die Glocken für die Rüstungsindustrie abgehängt werden könnten. Er sagte: „Immer, wenn die Glocken abgegeben werden mussten, war der Krieg verloren.“ Er rief dann seine Frau an und sagte ihr: „Ich habe heute etwas Leichtsinniges gesagt. Vielleicht komme ich nicht wieder.“ Aber der Beamte zeigte ihn nicht an. Er kam heim – und konnte später wieder Glocken gießen.

Der Enkel erklärte uns die Bestandteile der Bronzeglocken: 78% Kupfer und 22% Zinn. Im Zweiten Weltkrieg war es technisch nur sehr eingeschränkt möglich, Kupfer und Zinn zu trennen,  und es wurde praktisch kaum durchgeführt. Die Aktion, die Glocken abzugeben, sei eine Maßnahme der Machthaber gewesen, um die Kirchen zu schwächen – den Glockenklang aus den Orten zu verbannen.

Tatsächlich standen 1942 in langer Reihe die Glocken von Seyda und  Umgebung auf dem Kirchplatz und wurden nach Hamburg abtransportiert (und dort zerschlagen). Hermann Göring soll gesagt haben, dass einmal nur 12 Glocken in Deutschland übrig bleiben sollten…

Auf jedem Kirchturm bei uns hier blieb nur eine, meist eine kleine Glocke hängen. Nur Seyda und Naundorf schafften es in den 50iger Jahren, eine „Ersatzglocke“ aus Eisen anzuschaffen, die aber normalerweise nur eine Lebensdauer von 50 Jahren hat. Bronze stand nicht zur Verfügung.

 

Wollen wir dankbar sein, dass wir das in unseren Tagen erleben können: Eine neue Glocke für Seyda! Klingen soll sie, durch die Zeiten! Dass es sich lohnt, Gott zu vertrauen. Dass seine Liebe uns trägt. Dass wir eine Hoffnung haben, durch Jesus.

 

Nun wird das Fest vorbereitet: Am 1. November wollen wir mit der neuen Glocke durch unser Städtchen ziehen. Mit Grün  und mit roten und weißen Rosen soll sie geschmückt sein.

Der 1. November – wir beginnen also damit die nächsten 500 Jahre Reformationsgeschichte!

Der Termin hängt natürlich mit dem Chor zusammen, dem Valparaiso University Chorale von der größten lutherischen Universität in den U.S.A., der diesmal mit seinem Präsidenten kommen will.

Vor ein paar Jahren kam ein Anruf aus Wittenberg: „Wir haben hier so viele Chöre, könnt Ihr nicht mal einen nehmen?“ So kam dieser Chor zu uns, und es wurden ganz herzliche Begegnungen daraus. Manche Höhepunkte haben wir schon erlebt, so dass Richtfest an der Kapelle in Mark Zwuschen, eine Konfirmation in Seyda und eine in der kleinen Kirche in Gentha: Mit den kräftigen Stimmen der Studentinnen und Studenten unter der fachkundigen Anleitung von Christopher Cock. Der Manager des Chores, Jeff Hazewinkel, organisierte viele Chorfahrten. Es gelang ihm – aufgrund der Qualität des Chores – eine Partnerschaft mit dem Thomanerchor  herzustellen. Schließlich wurde der Chor zum Staatsakt der Bundesregierung am Nachmittag des 31. Oktober 2017 in der Schlosskirche gebeten. Und dann, dann kommt er zu uns – aus alter Verbundenheit,  zu unserer Glockenweihe.

 

Die dänische Bischöfin, Marianne Christiansen, kann nun zu diesem Termin leider nicht kommen. Sie war aber vorher öfter da – und wird auch wieder kommen, und dann werden wir auch mit ihr noch einmal feiern. Von ihr ist die Idee mit den vielen Luftballons mit der Lutherrose, die unseren  Zug begleiten werden. Im Frühjahr hat sie uns 40 Konfirmanden aus ihrem Bistum geschickt, die eine fröhliche Begegnung mit unseren Konfirmanden  (wir waren auch 40, mit denen, die im Herbst Konfirmanden geworden sind  und denen, die gerade konfirmiert waren!). Wie „über das Wasser gehen“ war es, zu Gast zu sein  und Gastgeber zu sein bei Menschen, die man noch nie gesehen hat und die eine andere Sprache sprechen – aber es war eine herzliche, gute Erfahrung. In Wittenberg pflanzten wir einen Lutherbaum und sangen dazu das – spontan selbstgedichtete – Lied:

„Wir sind Lutheraner! Vi er lutheranere!“ (Refrain)

1.     Ist´s Gottes Werk, so wird’s bestehn. Ist´s Menschenwerk, wird´s untergehn.

2.   Gott über alle Dinge fürchten / lieben / und vertrauen!

3.   Mit unsrer Macht ist nichts getan. Ein feste Burg ist unser Gott!

4.   Wenn die Welt morgen untergeht / pflanz ich heut ein Apfelbäumchen.

„Wir sind Lutheraner! Vi er Lutheranere!“