Die

Geschichte

der

Kirche

in

Seyda.

2. Teil

Das kursächsische Amt Seyda und die Reformation.

Die „ordentliche“ Geschichtsschreibung für Seyda begann mit dem Jahre 1501. Da kaufte der Kurfürst Friedrich der Weise die Herrschaft, das heißt „1 Stadt, 1 alten Schriftsassen mit 1 Dorfe, 15 Amtsdörfer und 9 wüste Marken von den Schenken von Landsberg“. Der Kaufpreis betrug 20.000 Meißner Gulden. (anders Hempel 23: 20.000 rheinische Goldgulden). Damit wurde Seyda ein kurfürstlich-sächsisches Amt und war eines der drei Wittumsämter zur Versorgung der auf dem Schloß Lichtenburg bei Prettin wohnenden kurfürstlichen Witwen mit Lebensmitteln. Ein kurfürstlicher Amtsmann bezog das Schloßgebäude. (SSLB 23.2.24).

Aus dem Verkaufsbrief geht hervor, dass die Herrschaft Seyda vorher schon an den sächsischen Kurfürsten verpfändet gewesen sein muß, denn Hans, Otto und Heinrich, Schenken von Landsberg, bekennen im Verkaufsbrief u.a.: „so haben wir seine gnaden mit sechs tausent gulden die wir schuldig vnd auff der herrschafft Seyda vorschryben synt, zu entrichten“ (Thüringer HauptStaatsarchiv Weimar, Ernestinisches Gesamtarchiv, Reg. Aa 960-967, Bl. 4 v). „Solche Verpfändungen waren gerade am Übergang von der Natural- zur Geldwirtschaft die Regel. Die Territorialbesitzer versuchten damit häufig, ihre finanziellen Engpässe zu überwinden. Sehr häufig konnten aber die verpfändeten Güter dann nicht mehr eingelöst werden und gingen an den Gläubiger über.“ (Brief aus dem Thüringischen Hauptstaatsarchiv Weimar vom 8.5.98, Frau Blaha). „Seyda wurde kursächsisches Amt mit einem Vorwerk. Die Verwaltung und Gerichtsbarkeit war dem "Amtsschösser" übertragen, der gleichzeitig die Steuern eintreiben mußte. Neben der Wohnung des Schössers enthielt die Burg damals noch einige Räume für Fürstenbesuche. In der Folge wurde es eines der 3 Witwensitze, der Kurfürstin Anna von Sachsen, die in der Lichtenburg wohnte. Im Anfang des 16. Jahrhunderts verfiel das alte Schloß mehr und mehr.“ (Bärbel Schiepel, Über das Amtshaus, 2.000).

 

1506, als diese Herrschaft gefestigt war und auch im „Landbuch des Amptes“ schriftlich dokumentiert wurde, wird Seyda erstmals „stedtchen“ genannt. 42 Ansässige zählte man, alle werden mit Namen aufgeführt, und da damit nur die Männer mit Besitz gemeint waren, kann man die Größe der Stadt auf etwa 200 Einwohner schätzen. 20 Hufen, also ca. 160 Hektar, gehörten zur Stadtflur. 6 „Ackerleute“ werden genannt. Der Bürgermeister hieß Peter Jäger. (SSLB 19.2.24; Magdeburger Staatsarchiv).

Seyda ist seitdem ein Ackerbauerstädtchen, deren Einwohner sich vielfach von Handwerk und von Ackerbau gleichzeitig ernährten. Neben den „Hüfnern“, die Landbesitz hatten, gab es die „Kossäten“, „Häusler“, „Gerthner“ und „Hirten“, die nur sehr wenig Acker hatten und bei den Hüfnern arbeiten mußten oder anderen Tätigkeiten nachgingen. Eine große Vielfalt von Handwerksberufen war in Seyda über Jahrhunderte beheimatet.

In Seyda gab es den größten Wollmarkt des Kreises Wittenberg und einen recht einträglichen Flachsanbau. Alles war durch das Amt geordnet. Noch um 1800 war den zwanzig Leinewebern genau vorgeschrieben, wieviel Vieh ein jeder Einwohner halten durfte: zum Beispiel 1787 jeder Großerbe sechs Stück Anspann Vieh (Ochsen oder Pferde), vier Kühe, vier Schweine inklusive einer Zuchtsau, drei Zuchtgänse und diverses Kleinvieh. Ein „bloßer Hausgenosse“ oder „Einlieger“ durfte nur ein Schwein haben. Die Stadt selbst hatte keine eigene Gerichtsbarkeit, diese lag beim Amt. Der Richter konnte „ordnen und setzen“. Die Seydaer bekamen den Auftrag, einen Galgen zu errichten, das Holz dazu bekamen sie vom Landesherrn.

 

Weniger bekannt ist bisher, daß in Seyda ab 1509 ein kurfürstliches Gestüt aufgebaut wurde, was bis in den Dreißigjährigen Krieg hinein Bestand hatte.

 

Das Landbuch von 1506 beschreibt auch die kirchlichen Verhältnisse vor der Reformation:

 „die wüste mark zu Tzwuschen gehort zur pfarre Seydow, die gericht und obrigkeit gehorn ins ambt Seydaw. Item zur pfarre gehoren der zehnden von allem getreide uff der Festmarke zu Morxdorf von allen huffen, davor muhs der pfarrer den leuten alle kirchenrecht besorgen und umb den andern sonntag doselbist eine Messe bestellin“ (jeden zweiten Sonntag) „Item so gehört dem pfarrer ein caplan zu halden...

Item die Pfarkirch zu Melnitz ist geeignet zum altar corporis Christi...“ (Magdeburger Staatsarchiv).

 

Das kirchliche Leben vor der Reformation war gekennzeichnet durch eine Fülle von Mißbräuchen. Da war zum Beispiel ein Albrecht von Brandenburg Bischof und Erzbischof von Magdeburg, Halberstadt und Mainz geworden, weil er dafür viel Geld bezahlt hatte. Diese Ämter waren mit einer großen Macht verbunden: Er wurde gleichzeitig Kurfürst des Deutschen Reiches und Reichskanzler. Albrecht residierte wie ein großer Fürst. Und er hatte auch ständig Geldbedarf, denn um die Bestimmungen, die solch eine Ämterhäufung verbaten, zu umgehen, mußte er 24.000 Dukaten (heute etwa 5 Millionen Mark) aufbringen.

Er entdeckte eine ganz besondere Einnahmequelle: den Ablaßhandel. Es wurde gelehrt, dass die Kirche durch viele Heilige wie Anna und Martin und Elisabeth einen großen Schatz an guten Werken angehäuft hätte. Auf der anderen Seite gab es die Lehre vom Fegefeuer, in das jeder käme, der Sünden begangen hatte, um sie zu läutern. Natürlich war die Angst vor diesem Fegefeuer groß, weil es auch drastisch ausgemalt wurde. Nun bot der Ablaß die Gelegenheit, jene Fegefeuer-Strafen abzutragen, indem man aus dem Schatz der Kirche (den guten Werken der Heiligen) etwas erwarb, um es für sich einzusetzen. Diese Lehren, von Menschen erdacht, machte sich Albrecht zu nutze. Er verkündete einen Ablaß für seine Gebiete. Für alle Arten von Vergehen konnte man nun Zettel erwerben, in dem einem bestätigt wurde, dass man dafür von Gott nicht bestraft würde. So eine Form gab es noch nie: marktschreierisch wurde dieses Angebot verbreitet.

Der Papst hielt mit seinem Siegel dafür her, dass die Zettel auch wirksam sein sollten, und den Ertrag teilten sich Albrecht und der Papst, der davon den Petersdom in Rom erbauen ließ, der heute noch steht.

Ein Mönch, Tetzel, wurde beauftragt, diesen Ablaßhandel zu betreiben. Dieser Tetzel wirkte besonders in Jüterbog, hier ganz in der Nähe. Dort steht heute noch der große Kasten, in dem das Geld gesammelt wurde, und sein Spruch ist bekannt: „Sobald das Geld im Kasten klingt, die Seele in den Himmel springt!“ „Marktschreierisch und keck, wie selten jemand, unterzog dieser sich gern des hohen Auftrags und lieferte bald große Summen ab; denn er verkaufte den Ablaß auf Zauberei für 2, Vielweiberei für 6, Mord für 8, Kirchenraub und Meineid für 9 Dukaten.“

Die Leute kamen täglich zu Hunderten (Urkundliche Chronik 317), denn so eine Gelegenheit, in den Himmel zu kommen, war einfach und einmalig. Man konnte sogar für schon Verstorbene eine Verkürzung des Fegefeuers erlangen.

Dieser Ablaß konnte nur in den Ländern des Albrecht gekauft werden, also in Jüterbog, in Brandenburg, in Magdeburg, in Halle: aber nicht in den sächsischen Landen. So zogen Ströme von Menschen aus Sachsen, also auch aus Seyda und Wittenberg, über die Grenze, um sich die Gelegenheit nicht entgehen zu lassen.

Martin Luther erfuhr davon im Beichtstuhl. Wenn er die Leute auf ihre Vergehen hin ansprach, dass sie sich entschuldigen und ihr Leben bessern sollten, zeigten sie im freudestrahlend die Ablaßzettel vor: Das sei doch alles nicht mehr nötig, weil der schon bezahlt sei.

Daraufhin - also zuerst aus seelsorgerlichen Gründen - protestierte Martin Luther gegen diesen Handel, der die Leute davon abhielt, Gutes zu tun. Er legte offen, dass es sich um eine von Menschen erdachte Konstruktion handelte, die keine Grundlage im Wort Gottes, in der Bibel, hat. Dort steht im Gegenteil, dass Jesus am Kreuz für unsere Sünden bezahlt hat und das für alle gilt, die sich im Glauben an ihn halten. „So sehr hat Gott die Welt geliebt, daß er seinen einzigen Sohn Jesus gab, damit alle, die an ihn glauben, nicht verloren gehen, sondern das ewige Leben haben.“ (Joh 3,16). Der Schatz der Kirche sind nicht die „guten Werke der Heiligen“, sondern „der Schatz der Kirche ist das Evangelium von Gottes Herrlichkeit und Gnade“ - so heißt die 62. These, die Luther am 31. Oktober 1517 an die Schloßkirche in Wittenberg nagelte: Der Beginn der Reformation, der Erneuerung der Kirche.

 

Die Jüterboger Stadtchronik berichtet weiter (317):

„Als Luther, gegen dessen Tadel die Wittenberger sich durch Vorzeigung ihrer Ablaßbriefe rechtfertigte, in seinen angeschlagenen 95 Sätzen und in einer gehaltenen und gedruckten Predigt öffentlich gegen den teuflischen Unfug aufgetreten war, entäußerte Tetzel seiner Keckheit sich noch nicht. Er erklärte Luthern für einen Ketzer, ja, weil er als Dominikanermönch die Rechte der Inquisition zu haben behauptete, ließ er auf hiesigen (dem Jüterboger) Marktplatze einen Scheiterhaufen errichten und verbrannte auf demselben unter großem Volkszulauf die Luther´schen, gegen seinen Ablaß gerichteten Lehrsätze, drohte auch, daß Jeder, der den hochheiligen päpstlichen Ablaß verkleinere, selbst zum Feuer verdammt werden solle... Jedenfalls war Tetzels Ablaß nun verdächtig geworden, die Käufer blieben aus, er selbst sah sich Unannehmlichkeiten ausgesetzt und entfernte sich demnach in der Stille.“

Diese weltberühmte Auseinandersetzung zwischen Luther und Tetzel fand also in Jüterbog und Wittenberg statt, und durch Seyda zogen die Leute, von den verschiedenen Lehren hin- und hergerissen. Über die Ereignisse um Tetzel berichten viele Geschichten, die von Generation zu Generation weitergegeben worden sind. Eine bemerkenswerte Sage ist die, dass Tetzel, als er Jüterbog mit einem großen Kasten voll Geld verließ, gleich hinter der Stadt von einem Ritter überfallen wurde, der ihm alles abnahm. Tetzel schimpfte lautstark: „Der Teufel soll Dich holen! Du wirst in der Hölle braten!“ Der Ritter aber lachte und zeigte einen Ablaßschein: „Dafür habe ich schon längst bezahlt!“. Ein großer „Tetzelkasten“ steht noch heute in der Stadtkirche in Jüterbog.

(Brachwitz, Geschichtliche Bilder, 21. Die Sage vom Tetzelkasten in Jüterbog, 30-34; Bild vom Tetzelkasten 34).

 

Die neue Sicht der Dinge brachte große Veränderungen. Es stellten sich viele Dinge als von Menschen erdacht heraus, ohne Grundlage in der Heiligen Schrift: das Klosterwesen, die lateinische Sprache in den Gottesdiensten, die weltliche Macht der Bischöfe und des Papstes, die Ehelosigkeit der Priester, die Heiligenverehrung, das Vorenthalten des Kelches für die Gläubigen beim Abendmahl, die Vorherrschaft des Papstes in Rom und vieles andere. Vor allem das Gottesbild änderte sich: Luther brachte das Evangelium ans Licht: Der drohende, richtende Gott, vor dem man große Angst hatte, wendet sich uns in Jesus Christus freundlich zu. „Wir sollen Gott über alle Dinge fürchten, lieben und vertrauen.“ so legte er das 1. Gebot aus.

 

Die Reformation im Jahre 1517 durch Dr. Martin Luther hinterließ auch in Seyda ihre Spuren. Zehn Jahre später fanden hier die ersten evangelischen Kirchenvisitationen statt: also amtliche Besuche von Luther und seinen Freunden, die wissen wollten, was die Reformation auf dem Lande für Früchte getragen habe.

Sie fanden teilweise sehr schlimme Verhältnisse vor. Viele hatten die „evangelische Freiheit“ mißverstanden und gingen nun, wo es keinen Zwang mehr gab, nicht mehr zur Kirche. Der Pfarrer war am Verhungern und war im Übrigen schlecht ausgebildet. Es heißt, er konnte noch nicht einmal das Vater Unser. Martin Luther versuchte die Dinge durch Predigen und das Verfassen von Schriften zu bessern. Die Visitatoren schreiben in ihrem Bericht:

 „Das stetlein Seyda hat bisher einen eigenen Pfarrer gehabt, und ist allein gewesen und hat doch neben dem stetlein zwei andere dorfer, als Marksdorff und lutschen Seyda, mit dem pfarrecht versorget... Und domit das stetlein Seyda... so viel statlicher und vleissiger mit dem wort Gottes, den heiligen sacramenten und andern pfarrecht moge versorgt werden, ist dem pfarrer dieser zeit ein geschickter und gelerter caplan zugeordnet worden.“ (Visitationsakte)

Weiter heißt es, dass der Pfarrer dem Kaplan im Pfarrhaus eine Kammer mit einem gemachten Bett und den Tisch oder 10 Gulden dafür gewähren muß.

 

Nach seinem Besuch in Seyda schrieb Martin Luther den Kleinen und den Großen Katechismus. Der „Kleine Katechismus für Haus, Schule und Kirche“ steht noch heute in jedem evangelischen Gesangbuch. Darin sind die wichtigsten Stücke des Glaubens (Zehn Gebote, Glaubensbekenntnis, Vater Unser, Taufe und Abendmahl) kurz und einprägsam erklärt, und Generationen von Konfirmanden haben aus diesem Buch gelernt. Ein Stück aus dem „Kleinen Katechismus“, den unsere Großeltern noch ganz auswendig konnten:

 

Das achte Gebot

Du sollst nicht falsch Zeugnis reden wider deinen Nächsten.

 

Was ist das?

Wir sollen Gott fürchten und lieben,

dass wir unsern Nächsten nicht belügen,

verraten, verleumden oder seinen Ruf verderben,

sondern sollen ihn entschuldigen,

Gutes von ihm reden

und alles zum besten kehren.

 (Übertragung ins heutige Deutsch, aus dem Gesangbuch Nr. 806,1)

 

Ein Stück aus dem Großen Katechismus, der als Anleitung für die „Pfarrherren“ gedacht war:

 

Was heißt ein Gott haben oder was ist Gott?

Antwort:

Ein Gott heißet das, dazu man sich versehen soll alles Guten und Zuflucht haben in allen Nöten... Worauf Du nu (sage ich) Dein Herz hängest und verlässest, das ist eigentlich Dein Gott.

(Großer Katechismus. Das erste Gepot. In: BSLK, 560).

 

Martin Luther ordnete bei diesen Kirchenvisitationen auch an, dass das Dorf Labetz, was früher zu Seyda gehörte (1436 wurde es von den Schenken von Landsberg von der Stadt Wittenberg erworben - HG 6/ 1927), mit Wittenberg gegen Schadewalde getauscht wurde, was seitdem zu Seyda gehört. Auch dieser kleine Ort wurde bereits 1385 das erste Mal erwähnt. In den alten Kirchenbüchern kann man von Freud und Leid einer Familie Schade lesen, so dass der Schluß nahe liegt, dass Schadewalde seinen Namen von dieser Familie her ableitet. Wenn auch die volkstümliche Erzählung schön ist: Bei der Rodung soll einer gerufen haben: „Schade um den schönen Wald!“

 

Bei der Kirchenvisitation wurde auch Mellnitz zur Pfarrstelle in Seyda dazugenommen. An der relativ engen Priesterpforte an der Kirche in Mellnitz kann man noch heute sehen: Ein Pfarrer nur für Mellnitz konnte bei der Kleinheit dieses Ortes wohl kaum leben. Morxdorf gehörte schon vorher zu Seyda dazu, ebenso wie Lüttchenseyda, was bereits 1385 als Lutkensydow erstmals erwähnt wurde. (Staatsarchiv Weimar, Kop.buch B1 95b).

 

Die Reformatoren führten auch das Superintendentenamt ein: Superintendent heißt: „über alle ausgestreckt“. Seyda wurde eine der ersten Superintendenturen, also Sitz eines Superintendenten, der die Dienstaufsicht für mehrere Pfarrer hatte. Diese Superintendentur bestand bis 1877.

 

Der erste Pfarrer, der in Seyda die lutherische Lehre verkündete, war Bartholomäus Rieseberg. Luther hatte wohl zunächst den Diaconus von Jessen, Wolfgang Wagner, für die Pfarrei Seyda vorgesehen. (Brecht III,270). Sein Pfarrer schickte ihn deshalb mit einem Begleitbrief nach Wittenberg. Darin stand auch, dass Wagner zunächst theologisch faul gewesen war. Er hatte sich jedoch gebessert, bedurfte aber des weiteren Ansporns. Jedenfalls war er noch qualifizierter als viele andere Pfarrer in Sachsen. (WABr 8,518f).

Es kommt aber dann Bartholomäus Rieseberg (1492-1566) als erster reformatorischer Pastor nach Seyda. Um die bewegte Zeit und seine Persönlichkeit zu schildern, sei hier ein kurzer Ausflug in seine Lebensgeschichte gestattet:

Mit 17 Jahren begann er zu studieren und kam 1518 nach Wittenberg, um Luther zu hören. Bei vielen Reisen im östlichen Norddeutschland verbreitete er Martin Luthers Reformgedanken und war bei den päpstlichen Priestern als Ketzer verschrien. Deshalb mußte er immer wieder weiterziehen. Von Wanzleben bei Magdeburg nahm ihn ein Mann mit nach Immenhausen in Hessen, um auch dort die neue Lehre zu predigen. Er wurde gefangengenommen und 1523 nach Gräfenstein in den Turm gesperrt. Als er hörte, dass man beratschlagte, ob man ihn verhungern, verbrennen oder dem Papst ausliefern sollte, flüchtete er mit Hilfe einer gutmeinenden Frau. Er kam wieder nach Wittenberg zu Luther, dem er seine Leiden erzählte. Luther empfahl ihn nach Schweinitz als Kaplan. Der vertriebende König Christian von Dänemark kam zu dieser Zeit nach Schweinitz, hörte Rieseberg predigen und wurde ihm sehr zugetan. In Schweinitz erlernte Rieseberg von einem getauften Juden, Bertrand Cramer, Hebräisch, die Sprache des Alten Testaments. Nach einem kurzen Aufenthalt in Brehna kam er dann nach Seyda.

Bartholomäus Rieseberg hatte auch hier manche Widerwärtigkeiten zu erdulden, wie sie oben schon beschrieben sind. Der Landgraf von Hessen bot ihm seine beste Pfarre an. Trotzdem blieb er aber auf Luthers Rat in Seyda, und zwar 13 Jahre (1527-1540), und ging dann nach Gardelegen in seine Heimat zurück. Am 10. August 1566 ist er an der Pest gestorben.

(Dümichen, Gemeindebrief Seyda 8.5.98, 15; vgl. auch Brachwitz, Geschichtliche Bilder, 22. Bartholomäus Rieseberg, ein Mitstreiter Luthers, 35-37. HG: 24.8.1492 in Mieste geboren!).

 

So hat Martin Luther durch vielfältige Maßnahmen dazu beigetragen, auch die Kirche in Seyda zu reformieren und dafür zu sorgen, dass das Evangelium von Jesus Christus die Ohren und Herzen der Menschen hier erreichen kann.

 

Dieses Evangelium wurde in den Mittelpunkt der kirchlichen Arbeit gestellt. Viele alte Gebräuche, die dem nicht entgegenstanden, blieben aber auch bestehen. So ist bezeugt, dass es noch vor hundert Jahren in unserer Kirche üblich war, sich bei der Nennung des Namens von Jesus zu bekreuzigen. Auch das Knien in der Kirche war noch lange Zeit üblich, ebenso wie das Beichtehören. Noch 1817 wurden bei der Kirchenrenovierung der Schloßkirche in Wittenberg (!) die Beichtstühle miterneuert! Vor 100 Jahren gab es bei uns auch noch Gebräuche, die jetzt nur in überwiegend katholisch bewohnten Gegenden üblich sind, zum Beispiel das Segnen der Felder. Ein alter Mann berichtete mir dazu eine Anekdote. Der Pastor wurde auf das Feld hinausbestellt zum üblichen Feldersegnen und Bitten um eine gute Ernte. Der Pastor kam auch und sah das Feld des Bauers an: es war schlecht bestellt. Daraufhin machte er kehrt und rief laut aus: „Hier hilft nur Mist!“.

Auch die Erhaltung einer alten Marienstatue, die noch 1960 im Heimatmuseum zu sehen war, zeigt, dass diese Dinge nicht radikal mit der Reformation verschwanden, wenn die Marienverehrung auch aus dem Zentrum des Glaubens gerückt wurde.

 

Eine große Sorge jener Zeit am Beginn des 16. Jahrhunderts war die „Türkengefahr“. 1529 standen die Türken vor Wien und bedrohten das christliche Abendland. So wurde auch in der Herrschaft eine spezielle „Türkensteuer“ erhoben, um entsprechend militärisch gerüstet zu sein. „Türkensteuerregister“ der Stadt und des Amtes Seyda sind von 1531 bis 1541 nachweisbar.

 

Ein Ereignis von welthistorischer Bedeutung fand im Jahre 1533 in Lochau, dem heutigen Annaburg, statt. Gewiß hat es auch die Gemüter in Seyda sehr erregt. Da gab es dort einen Pfarrer, Michael Stifel mit Namen, Freund Luthers und ein gelehrter Mann. Er hat etliche Bücher geschrieben, die meisten über Mathematik, und gilt als der Entdecker der Logarithmen. Jedoch hat er Mathematik und Theologie in einer unguten Weise verbunden. Er „errechnete“ nämlich den Weltuntergang aufgrund einiger Bibelstellen für den 18. Oktober 1533, früh um 8 Uhr. „Kaum hatte Stifel seine Entdeckung der Gemeinde bekanntgegeben, so reisten aus der Nähe und Ferne, aus Torgau, Mühlberg und anderen angrenzenden Städten, zuletzt sogar aus der Mark Brandenburg und aus Schlesien, viele hundert fromme Seelen nach Lochau, um Stifels Vorträge zu hören. An manchen Tagen nahmen oft gegen 500 bei ihm das Abendmahl, um sich so den Weg zum Himmel zu bahnen. Stifel hielt sich sogar für den letzten Engel, der die siebente Posaune blasen und dadurch das Ende aller Dinge und den Eingang zum Himmel verkündigen sollte. Luther warnte und schrieb Briefe, aber Stifel ließ sich in seinen Berechnungen nicht irre machen. In einem Briefe meint Luther: ´Das Zusammenlaufen der Menschen dort nimmt so sehr überhand, daß ich beinahe fürchten muß, es werde in jenen waldigen und sumpfigen Gegenden ein Tumult entstehen.’ Der 18. Oktober des Jahres 1533 kam heran. Von Wittenberg reisten auch einige Studenten nach Lochau. Einer von ihnen, Peter Weller, gibt darüber folgenden Bericht: Um mich aufzuheitern, reiste ich mit einigen Studenten nach Lochau. Wir kommen abends sehr spät dort an. In dem Gasthofe, wo wir einkehrten, fand ich verschiedene Freunde, die sogar aus Schlesien hierher gereist waren. Sie schienen mir sehr traurig und in tiefes Nachdenken versunken. Als ich bescheiden fragte, wer sie eigentlich wären, woher sie kämen und was sie Neues mitbrächten, trat der Älteste unter ihnen auf und erteilte mir die Antwort, sie wären, gelockt durch die Ankündigung des Jüngsten Tages, aus Schlesien hierher gereist. Daß man hier, setzte er hinzu, auf einen solchen Mann wie Stifel wenig Rücksicht nimmt, ist mir unbegreiflich, da er in meinem Vaterlande als ein großer Prophet allgemein verehrt wird. Während dieser Unterredung traten mehrere unbekannte Fremdlinge ein, ich zählte ihrer auf einmal zwanzig. Bald kam ein neuer Trupp, und so folgte ein Zug dem andern, bis alle Winkel des Hauses von Gästen angefüllt waren. Am andern Morgen stand ich sehr früh auf, noch ehe es hell zu werden begann, und weckte meine Gefährten. kaum war dieses geschehen, so wurden wir durch das Blasen eines Horns erschreckt. Ich hielt es für die letzte Posaune und ermahnte die Umstehenden, die vor Furcht und Angst der kommenden Dinge angstvoll bebten, sie sollten ihren Mut nicht sinken lassen. - Eigentlich gab der Hirte dieses Zeichen auf dem Horn. Denn da nach der Verkündigung des Propheten bei Erscheinung des Jüngsten Tages das Vieh zuerst sterben sollte, so mußte der Hirte, um Schrecken zu verhüten, das sämtliche Vieh austreiben. Nun strömte alles nach der Kirche zu. Man fing den Gottesdienst mit dem Gesange an: Aus tiefer Not schrei ich zu Dir. Darauf verlas der Pfarrer die Epistel. Es folgte der Gesang: Nun bitten wir den heiligen Geist. Dann ward das Evangelium vorgelesen und zuletzt gesungen: Wir glauben all an einen Gott. Stifel bestieg hierauf die Kanzel und erklärte das Evangelium mit wenig Worten. Dann ging er zur Verkündigung des Jüngsten Tages über und hielt hierüber eine lange Predigt. Als er damit zu Ende war, hob er weinend seine Hände gen Himmel und rief mit voller Stimme: „Er kommt! - Er kommt! - Er kommt!“ Mit diesen Worten verließ er augenblicklich, ohne den gewöhnlichen Gruß an die Gemeinde, die Kanzel. Nun entstand ein allgemeines Heulen und Wehklagen unter den Weibern, zu denen sich Stifel bei dem Heimgang zum Altar mit den Worten wendete: „Erschrecket nicht, der Herr kommt als ein Bruder und nicht als ein Feind!“ - Hierauf trat er vor den Altar, und man hielt das Abendmahl, nach dessen Beendigung jeder wohlbehalten nach Hause ging.

Dies geschah gegen 9 Uhr. Als es 9 geschlagen hatte, begaben sich die vom Kurfürsten verordneten Personen zu Stifel und führten ihn auf einem Wagen gefangen nach Wittenberg ab. Hier ward ihm die weitere Amtsführung untersagt. Er bekannte seinen Irrtum und versprach, sich dem Ausspruche des Kurfürsten zu unterwerfen. - Nach Jahren ist Stifel wieder Pfarrer geworden und zwar in Holzdorf, nachdem Melanchthon sich für ihn eingesetzt hatte.“ (Brachwitz, Geschichtliche Bilder, 23. Michael Stifel und der Weltuntergang, 37-40).

 

Wie sah der Pfarrer damals aus? Dies kann man zum Beispiel an den Rechnungen für die gottesdienstlichen Gewänder ablesen. Im Jahre 1528 bei der Visitation wird bestimmt, dass drei Meßgewänder zum weiteren Kirchengebrauch dienen sollen, alle anderen aber werden verkauft. In den Jahren 1555 und 1574 werden zwei Samtkaseln, darunter eine grünsamtene mit einem Perlenkranz, zwei Humeralien, mit Perlen gestickt, zwei Alben, und eine grüne Samtstola angeschafft. Man kann sich den Pfarrer im Gottesdienst also vorstellen in einem weißen Meßgewand mit einer grünen Stola, dazu ein mit kostbaren Perlen bestickter Umhang. Die Gewänder wechselten je nach Anlaß und nach der Zeit im Kirchenjahr. Bis heute gibt es diese liturgischen Farben: violett im Advent und vor Ostern, weiß zu den Christusfesten Weihnachten und Ostern, rot zu Pfingsten, zur Konfirmation und am Reformationsfest, grün in der „festlosen“ Zeit im Sommer. (vgl. Evangelisches Gesangbuch Nr. 953; Kaseln sind Meßgewänder, Alben sind weiße Meßgewänder).

 

Eine Episode besonderer Art, die sich auch in einer großen historischen Erzählung von Heinrich von Kleist niedergeschlagen hat, war die des Kaufmanns Hans Kohlhase aus Cölln an der Spree (Kleist: „Michael Kohlhaas“). Er lag wegen eines in Sachsen erlittenen Unrechts mit dem Kurfürsten von Sachsen in Fehde, 1534 bis 1539. Dreimal ließ er am 9. und 10. April 1534 in Wittenberg große Feuer legen; im Juli 1538 gab es bei Seehausen einen Überfall auf einen Kaufmann, Marzahna wurde geplündert, Schmögelsdorf ging in Flammen auf. 1539 wurde Kohlhaas gefaßt und hingerichtet. (Ausführlich: Brachwitz, Geschichtliche Bilder, 8. Kohlhasens Fehde mit Kursachsen, 14-17; der sich bezieht auf Burkhardt, Der historische Hans Kohlhase, Leipzig 1864 und Destinata literaria et fragmenta Lusatica, XII. Teil Lübben, 1738).

 

Welche Bedeutung das Städtchen Seyda im Kurkreis hatte, kann man auch daraus ablesen, wieviele Familien ihre Söhne zum Studium nach Wittenberg schickten oder dort verheirateten. Im ersten Jahrhundert des Bestehens der Wittenberger Universität waren das immerhin 30: „Thomas Hofmann de Sydow“ 1507, „Antonius Swartz“ 1513, „Christianus de Bonna adiutor in Sidow“ 1530, „Franciscus Kratzer Sydaniensis“ 1546, „Georgius Schwartz Sidoensis“ 1547, „Bartolomeus Bertholdt ex Sido“ 1549, „Johannes Kuemmelberger vonn Sayda“ 1551, 1553 gleich fünf Bürgersöhne: „Adamnus et Joachimus Felgetreb Sydoniensis“, „Casparus, Joannes et Georgius Rott, Domini Pastoris caspari Rott in Sidau filii“. Die meisten wurden Pastoren in den umliegenden Orten.

Ein „Casparus Rot vonn Nördlingenn“ wurde „beruffenn gen Seyda zum Priesterambt“, er war von 1541 bis 1544 Diakon in Seyda und dann von 1553 bis 1592 Oberpfarrer und Superintendent hier. Ein „Andreas Örtel“ wirkte von 1562 bis 1572 als Diakon in Seyda.

Es gab auch Ehebande zwischen Seyda und Wittenberg. Sieben Eintragungen dazu finden sich im Wittenberger Trauregister allein von 1564 bis 1571. Sie nennen uns einige Namen:

„Martine Gammerman, Ein taglöhner, vnd jungkfraw Elisabeth, Cleman Richters von Sida nachgelaßne Tochter diese sind den 16 Aprilis auffgebotn worden.“ (1564)

„Magister Georgius Roth von Sida, vnd junkfraw Walburga, Nickel Hennigs, deß oeconomi tochter alhie, diese sint den 3. Septembris auffgeboten, vnd den 11 Septembris in der Kirchn von dem Magister Bernhardo Apitio gedraut worden.“

 

Wie Luthers und die anderen Visitatoren es bestimmt hatten und es auch vorher schon war, gab es über Jahrhunderte (bis 1920) in Seyda mindestens zwei Geistliche: einen Diakon, der im Diakonat südlich der Kirche wohnte und auch die Dörfer Mellnitz und Morxdorf zu versorgen hatte, und einen Superintendenten, der nördlich der Kirche wohnte.

Im Jahre 1574 kommt ein „Kantor“ dazu, dem auch die Versorgung der Küsterei angetragen wird. Im Jahre 1591 wird ein „Positiv“ für die Kirche beschafft, eine kleine, tragbare Orgel also.

 

Krieg überzog das Land im Jahre 1547, kurz nach Luthers Tod. Der Kaiser versuchte, die reformatorische Bewegung zurückzudrängen und führte Krieg gegen die Fürsten, die sich im Schmalkaldischen Bund zur Lehre Luthers bekannt hatten. Das ernestinische Sachsen wurde überfallen, und der Kurfürst versuchte, das Land zu verteidigen. Die Pfarrer und der Superintendent des Pfarrsprengels Seyda traten zusammen und beschlossen, ihr Kirchensilber  und -gold abzugeben. So wurden schon damals alle alten Kelche, Fahnenstangen, Oblatendosen zerhackt und zu Talern umgeprägt, um Söldner zu bezahlen. Auch das gehört zur Seyd´schen Kirchengeschichte. „Im ältesten Erbbuch (1506) heißt es: die Erbrichter und Hüfner sollen haben ein gutes Pferd, Panzer, Eisenhut, Schwert und Armbrust; die Kossäten sollen haben Schwert, Armbrust und Pfeile, Pumphosen.“ (Hempel 27).

Der Kurfürst wurde dennoch besiegt, und sein Verwandter, der Albertiner Moritz von Sachsen, übernahm die Herrschaft und die Kurwürde. Er stand in Koalition mit dem Kaiser, konnte aber erreichen, dass die lutherische Kirche in diesem Gebiet erhalten blieb. Von da an wird das Amt Seyda von Dresden her regiert.

Das Land wurde durch Kriegsvolk verheert. So ist belegt, dass spanische Söldner vor Wittenberg und Zahna standen, und aus dem Jahre 1550 gibt es ein „Bittgesuch der Bürgerschaft Zahnas an die Stadt Danzig nach dem Schmalkaldischen Krieg“, was darlegt, dass „uns armen Leuten alle unsere Häuser, Kirchen, Pfarre und Schulen jämmerlich abgebrannt, die Glocken zerschmolzen worden sind“. (Brachwitz, Geschichtliche Bilder, 24. Bittgesuch der Bürgerschaft..., 40f).

 

Im Jahre 1555 hat das „stedlein“ Seyda „40 wirt, darunter 7 ackerleut“. Vier Dörfer gehören unmittelbar dazu: „Morchsdorff (auch Morgendorf genannt), Lutchen Seyda (auch Lucken Seidow genannt), Schadewalt und Melnitz“. (HG 10/1920).

„Die pfarr Seida ist unseres gendigsten herrn des churfürsten zu Sachsen lehen, und wirt der pfarrer vom consistorio zu Wittenberg eligirt und von unserm g(nädigen) h(erren) confirmiert.“ Der Kurfürst mußte also die Besetzung der Pfarrstelle bestätigen.

Diese Eintragung deutet daraufhin, wie stark die Kirche mit den Fürsten in dieser Zeit verbunden war. Luther hatte den Schutz und den Verwaltungsapparat des kurfürstlichen Staates genutzt, um die Reformation durchzuführen. Bis 1918 war der Landesherr auch der „summus episcopus“, der oberste Bischof, was viele Vorteile brachte, aber auch dazu führte, dass in den Kirchen oftmals die Ansichten des Landesherren verbreitet wurden. Zum Beispiel bestand eine Fürsorgepflicht des Landesherren für die Kirche. Dieses Patronat sah für Seyda vor, dass 50% aller Ausgaben für den Kirchenbau „vom Staat“ bezahlt wurden. Eine kluge Sache: Die Gemeinde mußte auch selbst dazu beitragen, wenn sie an der Kirche bauen wollte, bekam aber kräftig Unterstützung. 1996 haben wir dieses alte Recht neu anmelden können und erhalten seitdem pauschale jährliche Zahlungen vom Land als Rechtsnachfolger des letzten Königs.

 

Die Kirche hat durch das Evangelium aber auch immer eine Freiheit gegenüber dem Landesherren und dessen Maßnahmen behalten.

Ab 1598 hatte die Kirchengemeinde Seyda ein gewisses Mitspracherecht bei der Berufung des Pfarrers. Das Recht der Berufung stand ihr nun zu. Die Auswahl hatte das Konsistorium (die Kirchenbehörde) zu treffen, die Bestätigung lag in der Macht des Kurfürsten. Dies wurde in den Zeiten auch immer einmal verändert. Zwischen 1675 und 1815 hatten die Seydaer nur noch ein Einspruchsrecht nach der Probepredigt.

 

Welche Bedeutung ein Pfarrer in der damaligen Zeit hatte, zeigt der Bericht über ein „Vergehen“ und dessen Bestrafung in Gadegast 1582, „Einspannen in den Stock“: „Ein Knecht hat bei einer Hochzeit sich mit ungebührlichen Worten gegen den Pfarrer verhalten. Derselbe ist am nächsten Tag zum Pfarrer gekommen und hat ihn unter Tränen um Verzeihung gebeten, er sei „beschenkt“ gewesen. Auch sein Herr ist für ihn eingetreten, und der Pfarrer selbst hat ihm verziehen, weil er sonst ein braver, gottesfürchtiger Mensch sei. Nichtsdestoweniger wird der junge Mann anderen zur Abscheu einen Tag und eine Nacht in den Stock geschlagen.“

(Brachwitz, Geschichtliche Bilder, 16. Merkwürdige Bestrafungen, 25; nach Pallas, Die Registraturen der Kirchenvisitationen).

 

Aus dem 16. Jahrhundert stammt der kleine kelchförmige Taufstein, der auch jetzt in der Kirche genutzt wird. Die Lorbeerblätter weisen auf das neue Leben hin, was aus der Taufe kommt, und gleichzeitig auf den Sieger Jesus Christus, mit dem man als Getaufter verbunden ist. Aus Stein gefertigt konnte dieser Taufstein auch den großen Brand überstehen, wurde aber später durch ein größeres Taufbecken ersetzt. Er scheint dann sogar einmal abhandengekommen zu sein, denn er trägt die Aufschrift: „Gerettet durch Musikdirektor Schulze...“ Das war der Musikdirektor Schulze, der am Anfang des 20. Jahrhunderts in Seyda wirkte, und dem Generationen von Seydaer Bläsern ihre Kunst verdanken, bis hin zu unseren „Seydaer Blasmusikanten“. Der alte Taufstein ist seit den 50iger Jahren dieses Jahrhunderts wieder in Gebrauch, nachdem der prächtigere auf rätselhafte Weise über Nacht aus der Kirche verschwunden war.

Der geflochtene Ring um den Stein könnte darauf hinweisen, dass ihn ein Bürgerlicher gestiftet hat: also ein wohlhabender Mann aus unserer Stadt. (Oder er ist einfach ein „Nodus“, also ein Kelchknopf, der die Kelchform unterstreicht.)

 

Im Pfarrarchiv findet man aus diesen Zeiten Abschriften, meist über wirtschaftliche Dinge zur Sicherung des Lebensunterhalts der bei der Kirche und Schule beschäftigten:

 

„Auszug aus Matricul 1617, 1517, 1575

Diaconats Besoldung Nach der Matricul 1617

An Gelde

53 Thaler                                               ex aerami?

  9 Thaler, 11 Silbergroschen                  Steuergelder

  2 Thaler,  5 Silbergroschen                   Heugeld

  2 Thaler, 10 Silbergroschen, 6 Pfennig  Schilinskisches Legatio

67 Thaler,   5 Silbergroschen, 6 Pfennig  ohne die Accidentie

 

Extract auß denen bey hiesiger Superintendur de amis 1517 und 1575

des denen Geistlichen und Schuhl Bedienten, derren gewiedmete Gnadenholz bey treffend Vermögen derselben sollen haben, als

4. Kiefern Bäume und eine Cabel Ellern Holz ... Sumpff der Suprintendens

3. dergleichen der Diaconus

4. Gnaden Bäume der Ephorie Vicariy zu Gadegast nebst dem Rupelholz?

3. der Pfarre zu Kurzlipsdorff

3. der Pfarre zu Seehausen

4. der Pfarre zu Mügel auß der Lindischen Heyda

3. derselbe auß der Seydischen Heyde

3. der Pfarre in Ohna

27. St. und 1. Cabel Ellern Holz, sambt dem Beeseholz

 

die Schulbedinten bekommen als:

4. Gnaden Bäume der Schuhl Rector alhier

Schuhlstube und hat das Beesenholz dabey, welches die Eltern der Schul Kinder einführen müßen

2. Bäume der Custos in Gadegast

1. Stück der Custos in Mügel 

7. St.

Vorstehendes Holz ist iederzeit richtig und ohne Entgeld eingewiesen, auch ist specificirte Pfarrer und Schuhldiener nebst Ihren Superintendenten bei der deswegen anno 1682 gehaltenen Churf. Commision solches, ferner ihn durch gnädigstes Rescript damit begnadigt, auch dieser Extract auff Begehren auß ieder Matricul unter meine Hand und Siegel fidel außgestellet worden. Actum Seyda am 9. December 1679

Andreas Gormann Sup:

 

Vorherstehende Kabel Ellern Holz vor dem Herrn Superintendenten zu Seyda, deßgleichen den 4. kieferne Bäume vor den H. Pfarrer und die 2. Kieferne Bäume von deßen Schulmeister zu Gadegast, befinden sich weder in der Seydischen Amts Rechnung de anno 1628 noch der der bey dem hiesigen Ober Consistorio befindl. Matricul, deßgleichen in dem Extract, so aus denen de anno 1682 gehaltenen Commissions Acten gezogen worden, dahero solches zuviel vorschriebene Holz in denen Rechnungen Michael 1700 ... ausgethan worden.

am 8. Marty Anno 1709

(Seydaer Kirchenarchiv, Findbuch Nr. 1079).

 

Ab 1575 wurden die Steine der angeblich angebrannten Burg in Seyda nach Glücksburg gefahren, um dort damit ein Jagdschloß für den Kurfürsten August zu bauen. Mitten im Wald entstand es, dreistöckig, das Dach wurde durch einen Turm bekrönt. Dazu kam ein Wohnhaus für den Fußknecht, ein Forsthaus, Reitstall und Reithaus, auch Einsiedelberg genannt, für die Pferde, ein Haus mit Silberkammer, Haftstube (Gefängnis) und Kornboden, umgeben von einem großen Fasanen- und Tiergarten, der von einer sechs Ellen hohen Mauer eingehegt wurde. (Brachwitz, Geschichtliche Bilder, 11. Fürstenbesuch in Glücksburg, 20. So fand ein Teil der Steine für den Bau des Jagdhauses in Glücksburg (jetzige Oberförsterei) in den Jahren 1576-1580 Verwendung.“ Bärbel Schiepel, Über das Amtshaus, 2.000).

 

„Das Glücksburger Jagdschloß hat glanzvolle Zeiten, prunkvolle Feste, erlauchte Gäste gesehen. Die Glücksburger Forst war neben der Lochauer Heide ungeheuer reich an Wild, weshalb sich die sächsischen Kurfürsten hier häufig zu großen Jagden aufhielten.  Das Jagdschloß war auch der Lieblingsaufenthalt der Kurfürstin Hedwig (1581 - 1641, Witwe Christian II., gestorben 1611), die auf der Lichtenburg bei Prettin wohnte. (SSLB 23.2.1924; Heimatbuch 51, dort auch Bild von Glücksburg aus dem Archiv des Museums der Lichtenburg).

 

Ein Teil der Steine der alten Burg wurde auch verwandt, um das Amtshaus und die umliegenden Gehöfte zu bauen. Sie soll inzwischen ganz niedergebrannt gewesen sein (Heimatbuch 52). Das Amtshaus, im Jahre 1605 errichtet, ist heute das älteste Gebäude in Seyda. Es steht an der Stelle der ehemaligen Vorburg, anstelle der eigentlichen Burg wurden sechs Bürgerhäuser errichtet. Wie die Amtshäuser in den benachbarten Städtchen zeigen, ist es ein für die Zeit typischer Bau mit einem massiv verputzten Untergeschoß. Der obere Teil besteht aus Fachwerk. Die seitlichen Zwerchhaus-Giebel und die Dachausbauten mit den Schleppgaupen kamen erst in späterer Zeit dazu (Dehio Halle, Seyda). An der Nordseite wurden Erker angebracht. Sehr schön sind noch die Fensterrahmungen mit ihren Profilen aus Karniesplättchen und Kehlen zu erkennen. Das schönste Baudeteail ist das Sitznischenportal mit Muschelnischen. Hier warteten die Boten, bis sie eine entsprechende Antwort auf ihre Nachricht wieder mit auf den Weg nehmen konnten. Sehr fein gearbeitet ist auch der Bogenlauf (die „Archivolte mit Zahnschnitt und Eierstab“) sowie die Verzierungen aus Beschlagwerk. Im Aufsatz finden sich zwei Wappen, eines mit drei Hufen, die jedoch noch nicht gedeutet werden konnten. Die Buchstaben RSVS und MSVZ weisen auf die Erbauer hin, „von Seyda“, „von Zahna“ meint man zu erkennen.

 

In diesem Amtshaus, in dessen Innenräumen noch viele Details aus dem 17. Jahrhundert zu entdecken sind (Vgl. Titze, Mario: 1. Tag der Denkmalpflege Sachsen-Anhalts. In: Denkmalpflege in Sachsen-Anhalt, 1993, Heft 2, 182), wurden alle Amtsgeschäfte abgewickelt. Hier entschieden sich viele Schicksale: wer wieviel Abgaben zu leisten hatte, welche Dienste zu entrichten waren; was wo gebaut wurde und auch, welche Strafen es für Vergehen gab: bis hin zur Todesstrafe.

Das Amtshaus diente auch als Speicherraum für die Abgaben, die dann zur Lichtenburg transportiert wurden.

Das Fachwerk wurde erst in unserer Zeit vernagelt, man scheint sich aber an die alte Balkenführung gehalten zu haben. Deutlich zu erkennen sind das Andreaskreuz und auch der „Wilde Mann“.

 

Im Pfarrarchiv finden sich auch Abschriften zu Abgaben, die für das Amt bestimmt waren. Es sind immer Abschriften, weil das Archiv bei dem großen Stadtbrand 1708 zerstört wurde.

 

Extract

Aus des Ambts Seyda Erbbuche de ar: 1591

Fol. 93, 94 et 95.

 

Lutkenseida

Frohndinste

Der Pferdener,

Der Richter ist gleich Andern des Ampts Lehen richtern die genutzten und strassen zubereiten, Wenn ehr erfordert, vorpflicht, desgleichen Auch der Lehmann.

Der Richter und Lehmann mus alles abgehauene getreidich dem Ambt gehörende helffen. in die Scheune führen,

Alles Wilpert müssen sie von der Stelle da es geschlagen worden, auf erfordern führen, wohin es Inen bevohlen bey Ihrer Lasten,

daneben müssen sie des Ampts oder andere Churfürstliche beueliches habere, So offt es Inen gebotten, führen, So weit es die Nott erfordertt.

Die Andere Hüfner, sampt dem Richter und Lehmann seindt zu des Ampts gebäuden, Welcherley die künftige Zeit vor fallen würden, allerley Notturfft helffen dazu führen, bei Ihrer Last.

Die Hüfener ohne die Lehen leuthe, helffen mist auf das Ambts acker führen, Auch umbpflügen und zu egen, darunter ij halbe hüfner nuhr den halben dienst leisten bey ihrer Lasten.

Unzo uf die Jagten, so offte sie darzu erfordert, müssen sie führen, helffen, bei eigener Last,

dergleichen helffen sie getreide Aus dem Ambte führen wohin es inen zu führen vormeldet wirdet.

 

Handdinste

Kuchenholz zu des Ampts Notturfft helffen die dienstleutte hauen neben Zaungarten Vorflechten die Auch zu des Ampts Jagten, und Andere Zeunen, werffen feldt graben, So offt es von Nötten, und sie erfordert bei irer Lasten,

Alles erwachsene getreidich dem Ampt gehorenden helffen sie harcken und binden

Ferner helffen sie Neben Andern des Ampts darzu verordneten

Alles gras abemachen, wenden, dorren, und Zu Schober bringen, und zu heu machen,

Wirt Ihnen An essen und Trinken gegeben Wie zu gadegast zu befinden,

Wozo aber sonsten sie dem Ampt zu allerlei vorfallenden handt diensten, Nüzlichen sein könnten, müssen sie In demselben unwiedersezlich gehorsame volge leisten, So offte sie erfordert werden und so offte sie uf die hirsch schwein und wülfs Jagd zu gehen erfordert, müssen sie die dinste neben Andern darzu vorrichten, bei Ihrer Lasten,

 

Herfartsdinste

dinen nach gelegenheit des Ampts ufgebot mit der ..., und helffen zwen herfarts wagen neben Andern Zugehorenden Rüstungen uffgebott gleich das Ampts und sassen aufbringen...

(Kirchenarchiv Seyda, Findbuch 68, 22)

 

So hat sich unser Städtchen im 16. Jahrhundert stark verändert. Mit dem Amt entstanden Strukturen, die über Jahrhunderte das Leben bestimmten. Mit der Reformation bekam die Kirche eine neue Gestalt.

Neu war auch, dass das Leben mehr als zu vor von Schriftstücken abhing und dort widergespiegelt wurde.

 

Im Jahre 1605, als das Amtshaus erbaut wurde, heißt es in den Urkunden auch zum ersten Mal „Seyda“, nicht mehr wie 1268 „Sidowe“ oder „Sido“, 1394 „Sidaw“ oder 1500 „Sydo“. (Brachwitz, Geschichtliche Bilder, 1.).

Im Städtchen hatten sich viele kleine Handwerker etabliert, die miteinander verbunden waren. Aus dem Jahre 1609 sind uns „Innungs-Artikel des Grob- und Huffschmiedehandwerks zu Seyda“ überliefert, ein Beispiel, wie auch der christliche Glaube Einfluß auf das Wirtschaftsleben nahm. Unter 3. heißt es: „Wenn nun das Handwerk beieinander ist, so soll sich ein jeder Fluchens, Lügenstrafens und aller verdrießlichen Worte sowohl auch des Spielens sich enthalten und keine mördliche Wehr  (Waffen) bei sich tragen.“ Wird ein neuer Meister in die Innung aufgenommen, so soll er auch „zwei Pfund Wachs in die Kirche erlegen“. Außerdem „soll kein Meister dem andern ohne genugsame Erkenntnis des Handwerks seine Arbeit tadeln, wie denn auch kein Meister dem andern seine Schmiedegäste soll abspenstig machen“. „Gleichergestalt sollen auch die Meister keinen Schmiedegast in der Arbeit überteuern.“ Auf die Handwerkerehre wird wert gelegt: „11. Handwerksehre. Ein jeder Meister soll sich mit verdächtigen Personen nicht in Verehelichung einlassen, damit dem Handwerk nicht Unehre eingelegt werde.“ „12. Teilnahme bei Begräbnissen. So oft auch ein Meister, eine Meisterin oder derselben Kinder versterben möchten, sollen alle Meister auf gebührliches Ankündigen des jüngsten Meisters zum Grabe nachfolgen.“ „14. Wanderschaft. Es soll eines Meisters Sohn, ehe derselbe Meister wird, ein Jahr sich der Wanderschaft gebrauchen. Dagegen ein Fremder, wenn der selbe Meister werden will, ein Jahr und Tag am selben Ort arbeiten, und die Meister einer nach dem andern ihm mit der Arbeit zu befördern schuldig sein.“ (Brachwitz, Geschichtliche Bilder, 29., 50-52, nach dem Original).

Wer die Gesetze übertrat, mußte mit Gefängnis rechnen. Dazu diente die „Finke“, das Fachwerkhaus rechts auf dem Berg, am Ende der Bergstraße. Auch im Amtshaus selbst wurde zeitweise Gefangene verwahrt. So berichtet das Kirchenbuch noch 1812 von einer Geburt und Taufe im Amtshaus. Die Mutter war eine Gefangene.

 

Das Amthaus als ältestes Haus in Seyda ist ein sichtbares Zeugnis jener Zeit. Ein Lied, was die Erneuerung der Kirche ausdrückt und selbst zur Verbreitung der Reformation beigetragen hat, dichtete Martin Luther 1529, ein Jahr, nachdem er Seyda besucht hatte:

 

Ein feste Burg ist unser Gott,

ein gute Wehr und Waffen.

Er hilft uns frei aus aller Not,

die uns jetzt hat betroffen.

Der alt böse Feind,

mit Ernst er´s jetzt meint!

Groß Macht und viel List

sein grausam Rüstung ist:

auf Erd ist nicht seinsgleichen.

 

Mit unsrer Macht ist nichts getan,

wir sind gar bald verloren!

Es streit´ für uns der rechte Mann,

den Gott hat selbst erkoren.

Fragst Du, wer der ist?

Er heißt Jesus Christ, der Herr Zebaoth,

und ist kein andrer Gott:

Das Feld muß er behalten.

 

Und wenn die Welt voll Teufel wär

und wollt uns gar verschlingen,

so fürchten wir uns nicht so sehr,

es soll uns doch gelingen!

Der Fürst dieser Welt,

wie sau´r er sich stellt,

tut er uns doch nicht;

das macht: er ist gericht.

Ein Wörtlein kann ihn fällen.

 (Evangelisches Gesangbuch Nr. 362).

 

Abkürzungen:

Brecht: Brecht, Martin: Martin Luther. Ordnung und Abgrenzung der Reformation 1521 - 1532, Berlin 1989.

BSLK: Bekenntnisschriften der Lutherischen Kirche.

Dehio: Dehio, Georg: Handbuch der deutschen Kunstdenkmäler. Der Bezirk Halle, Berlin 1978.

Hempel: Hempel, Fritz: Die Geschichte Gölsdorfs, Jüterbog 1954.

SSLB: Seydaer Stadt- und Landbote.

Urkundliche Chronik: Heffter, Carl Christian: Urkundliche Chronik der alten Kreisstadt  Jüterbock und ihrer Umgebungen, Jüterbock 1851, reprint 1996.

WABr: Weimarer Ausgabe, Briefe (Standardausgabe der Werke Martin Luthers).

 

Ein ausführliches Quellen- und Literaturverzeichnis findet sich am Ende des letzten Heftchens der Reihe „Geschichte der Kirche in Seyda“.