Die

Geschichte

der

Kirche

in

Seyda.

 

 

 

4. Die Befreiungskriege und ihre Folgen

(Die erste Hälfte des 19. Jahrhunders)

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

300 Jahre lang blieben die Verhältnisse im Amt Seyda stabil. Natürlich gab es Kriege und Katastrophen. Aber das kurfürstliche Amt Seyda hatte Bestand. Das tägliche Leben veränderte sich kaum. Das wurde zu Beginn des 19. Jahrhunderts anders.

 

An die Zeit um das Jahr 1800 erinnert uns heute zum Beispiel der Torbogen, der auf den Kirchplatz führt. An ihm ist das Jahr 1796 vermerkt, wo er vermutlich gebaut wurde. Seit alters her ist um die Kirche herum eine Begräbnisstätte gewesen. Die Lebenden und die Toten gehören bei Gott zusammen, und wer zum Gottesdienst geht, wurde auf seinem Weg in die Kirche an die Endlichkeit des eigenen Lebens erinnert.

 

Einen großen alten Grabstein gibt es an der Nordwestecke der Kirche, zur Alten Schule hin. Es ist das Grabmal von Superintendent Johann Wilhelm Hilliger, der 1807 starb, und seiner Frau. Zuerst stand er auf dem Friedhof, der sich damals in der heutigen Triftstraße, im Garten der Familie Hellner, befand. Von dort bis zur Kirchstraße zog sich die Stadtgrenze. Erst später, in der Mitte des 19. Jahrhunderts, kam die „Neue Straße“ im Osten dazu.

Zu dem Denkmal für den Superintendenten Hilliger berichtet der Heimatforscher Oskar Brachwitz:

„Eine sonderbare Grabinschrift.

Auf dem alten Friedhof zu Seyda dicht neben der Kirche steht dieser alte, massige Grabstein. Die meisten, die hier vorübergehen, finden an ihm nichts, ist er doch weder besonders alt noch besonders schön. Und doch ist dieses Grabdenkmal interessant, eben durch seine Inschrift. Sie lautet:

 

Hier ruhen

Johann Wilhelm Hilliger

Treu verdienter Superintendent

zu Seyda

Geb. d. XV. Juli MDCCXXXV

Gest. d. XII. April MDCCCVII

und

Christiane Dorothen Hilliger

geb. Müller

Geb. d. 27. Juni 1741

Gest. d. 26. Sept. 1805

Ihr Tod minderte hienieden

die Zahl

Tugendhafter Weltbürger

Treuer Gatten

und zärtlicher Eltern.

 

Da finden wir nichts von einem Wiedersehen im Jenseits, nichts von einer Auferstehung. Gott und Jesus werden nicht erwähnt. Ist das nicht merkwürdig genug, noch dazu bei einem Grabstein eines Geistlichen? Wenn wir durch die Gräberreihen der heutigen Friedhöfe wandeln, so lesen wir fast überall Worte aus der Heiligen Schrift, die das Leben der Verstorbenen kennzeichnen und den Zurückgebliebenen Trost spenden wollen. Nun, damals, als Johann Wilhelm Hilliger starb, legte man wenig Wert auf solche frommen Hinweise. Es war die Zeit der Aufklärung, da alles religiöse Leben verflacht war. Das ging sogar soweit, daß man Weihnachten in der Kirche über den Wert der Stallfütterung predigte, Gründonnerstag über den Nutzen des Grünkohls, Ostern über das Frühaufstehen und Pfingsten über die gute Luft.

Man vergaß, daß es ein Leben nach dem Tode gibt, für diese Welt wollte man wirken, darum rühmt auch die Inschrift unseren Johann Wilhelm Hilliger als einen tugendhaften Weltbürger. Und doch hat ihm diese Welt Leiden genug gebracht, so daß er alle Ursache hatte, seinen Blick auf ein besseres, zukünftiges Leben zu richten. Besonders schlecht erging es ihm während des Siebenjährigen Krieges. Damals studierte er gerade auf der Universität in Wittenberg. Er wohnte bei seinem Großvater, dem Rektor der Universität, Kirchmaier. Als 1760 Wittenberg belagert wurde, ging das Haus seines Großvaters in Flammen auf. Da verlor Kirchmaier alle seine Sachen und seine umfangreiche Bibliothek, auch Hilliger büßte alle seine Bücher und Habseligkeiten ein. Nun sollte er weiter studieren, ohne Bücher, ohne Mittel, dazu noch Teuerung und Hungersnot in harter Kriegszeit. Ihm blieb weiter nichts übrig, als ein Jahr vor Ende des Siebenjährigen Krieges nach Seyda zu gehen, um dort in Gemeinschaft mit seinem Vater seine Studien zu vollenden.

Nachdem er noch zwei Jahre in Dresden Hauslehrer gewesen war, erhielt er 1765 die Pfarrstelle in Niedergörsdorf und Wölmsdorf bei Jüterbog. Von dort holte er sich die älteste Tochter des Kurfürstlichen Hofjägers und Oberförsters Müller aus Seyda zur Frau, mit der er 1789 nach Seyda zog, weil er hier zum Superintendenten ernannt worden war. Wie der Grabstein meldet, ist sie ihm eine treue Gattin gewesen, und beide Eheleute waren ihren sieben Kindern zärtliche Eltern. Die sonst so nüchterne Inschrift bringt wenigstens zum Schluß einen warmen Ton, sonst aber ist sie ein Zeugnis für die von tiefer, wahrer Frömmigkeit abgewandte Zeit der Aufklärung.“

(Aus: HK 5/1995, 3, Bärbel Schiepel; Aus: Heimatbote v. 8.7.1927, Heimatkalender f.d.Kr. Schweinitz 1927.).

 

Aus der Zeit um 1800 ist auch ein Ölbild von der Kirche erhalten. Es befand sich einmal im Seydaer Heimatmuseum, war dann lange Zeit verschollen und wurde 1996 in der Lichtenburg wiedergefunden, dort hängt es im Büro der Verwaltung.

Eine schöne Beschreibung gibt es von Frau Lena Schmalz, die damals Lehrerin in Seyda war, Tochter des letzten Kantors in Seyda, im Heimatkalender 1954:

„Gedanken um ein Bild aus Seydas Vergangenheit.

In den letzten Jahren wurde die Pflege unseres nationalen Kulturerbes bedeutend gefördert; sie ist zur Herzenssache jedes Deutschen geworden. Durch Verordnungen und materielle Unterstützungen seitens unserer Regierung ist es möglich, auch die Heimatforschung wieder im vollen Umfange zu betreiben. So konnte unser Heimatmuseum im vorigen Jahre ein Ölgemälde der Kirche zu Seyda um 1800 erwerben. Ein Verwandter des ehemaligen Seydaer Superintendenten Parreidt hatte es gemalt. Nun befand es sich im Besitze des Urenkels, der es freundlicherweise der Stadt Seyda verkaufte.

Dem Beschauer des Bildes fällt zunächst auf, daß die damalige Kirche anders aussah als unsere heutige. Auch die Kirche vor dem Brande auf dem Stich von Dillich „Seyda 1626“ weicht von der auf dem Bilde dargestellten

wesentlich ab.

Die alte Kirche um 1600 hatte ein verhältnismäßig niedriges Mauerwerk mit einem hohen, etwas geschwungenen Dach. Auf dem Dach befand sich ein kleines, sehr spitzes Türmchen, in dem die Vesperglocke hing, die die Bürger Seydas jeden Nachmittag zum Vespergebet rief. Nach der Zeichnung von Dillich stand der Turm neben der Kirche. Doch namhafte Heimatkenner behaupten, Dillich wollte dadurch nur den Turm in seinen Einzelheiten recht deutlich erscheinen lassen. Den Turm krönte eine kleine Haube, die von hölzernen Säulen getragen wurde. Diese Kirche fiel dem großen Brande von 1708 zum Opfer. Darüber wird uns ausführlich in einem alten Kirchenbuch und in der Turmknopf-Chronik berichtet. Am 28. August zielte der Jägerbursche Theodor Eberwein nach einem Vogel, der auf dem Dache des letzten Hauses im Osten unserer Stadt saß. Dieses Haus gehörte dem Schneidermeister Eichelbaum, heute befindet es sich im Besitze von Herrn Landwirt Fromm (heute: Klapper, Jüterboger Straße 8). Der Schuß ging fehl und entzündete das Strohdach in der heißen Mittagsglut. Fast alle Einwohner waren zu dieser Zeit außerhalb des Ortes und verrichteten ihre Arbeit auf den Feldern für das Amt. So griffen die Flammen rasch um sich. In 3 bis 4 Stunden lagen 22 Häuser in Schutt und Asche, das war ein Drittel der Stadt, denn Seyda zählte im Jahre 1697 67 bewohnte und 3 unbewohnte Häuser. Die Kirche, rings von Flammen umgeben, hielt sich bis zuletzt, aber schließlich fingen die hölzernen Säulen unter der kleinen Haube Feuer. Die Kirche mit ihrer Orgel und ihren 4 Glocken brannte bis auf einige Mauerreste nieder, ebenso die kirchlichen Wohn- und Wirtschaftsgebäude. Der Superintendent mit Frau und Kindern konnte nur mit Mühe durch das brennende Kirchtor das Leben retten. Nun herrschte in Seyda große Not. Da es damals keine Feuerversicherung gab, erhielten die geschädigten Bürger einen Pfandbrief, der sie berechtigte, als Brandbitter durch das Land zu ziehen. Wie aus Urkunden hervorgeht, sind diese zum Teil bis an die Grenzen Deutschlands gekommen. Der Wiederaufbau ging nur langsam vonstatten, wenn auch der Urheber des schrecklichen Brandes 300 Taler zahlen mußte und der Kurfürst die so hart betroffene Stadt durch Bauholz aus der Heide unterstützte.

Auch mit dem Wiederaufbau der Kirche wurde begonnen. Nachdem drei Jahre lang behelfsmäßig in der Kapelle des Amtshauses Gottesdienste abgehalten wurden, konnte am 1. Advent 1711 die neue Kirche eingeweiht werden. Zunächst waren Turm und Decke noch unvollkommen hergerichtet. Der Mellnitzer Kirche war die Glocke entlehnt, die bei der Zerstörung der Mellnitzer Kirche während des Dreißigjährigen Krieges nach Seyda gebracht worden war. Sie blieb in der Sakristei von dem Feuer verschont. 1712 stellten die Bauleute den Turm fertig, und Superintendent Gormann legte die ersten Akten über Brand und Kirchenbau in den vergoldeten Turmknopf. Diese Kirche zeigt unser Bild. Als Turm erhob sich ein aus Fachwerk errichteter Dachreiter. Sein unterer Teil war unten viereckig, weiter oben achteckig, und den Abschluß bildeten wieder eine große und eine kleine Haube. Ein Vorbau mit einem Ziegeldach umgab schützend den Haupteingang zur Kirche und eine Treppe, die zum Chor führte.

Von besonderem Wert für uns ist, daß die Kirchgänger in Tracht, die vereinzelt bis vor 50 Jahren getragen wurde, dargestellt sind. Das Bild ist sehr farbenfroh gehalten, und das satte Grün zeugt davon, daß der Maler diesen Kirchgang an einem schönen Sommersonntag erlebte. Die Seydaer Bürger haben ihre Festtagskleidung angezogen. Die Tracht geht zurück auf die der Flamen, die unter Albrecht dem Bären und seinen Nachfolgern hier seßhaft gemacht wurden. Die Männer sind mit langen, fast bis an die Knöchel reichenden dunkelblauen Tuchröcken bekleidet. Der ursprünglich zur Tracht gehörende spitze Hut mit gerade breiter Krempe scheint der Mode zum Opfer gefallen zu sein, da die Männer auf dem Bilde einen runden Hut mit hohem Kopf (Vorläufer unseres Zylinders) bzw. eine flache Schirmmütze tragen. Die Frauen haben einen weiten dunklen Rock, mit Samtstreifen verziert. Darüber liegt die breite weiße Schürze, die bis zum Rocksaum herabreicht. Über die dunkle Bluse mit Puffärmeln wird ein weißes, bei jungen Mädchen buntes Brusttuch geschlungen. Den Kopf bedeckt bei den Frauen eine nach niederländischer Art gearbeitete schwarze Kappe. Ein weißes Tuch hüllt einen Teil des Gesichtes und das Kinn ein. Die jüngeren Mädchen tragen eine helle, mit Perlen bestickte Haube, die mit bunten Bändern unterm Kinn gehalten wird. Die Haube ist hinten zu zwei breiten Flügeln („Flettichen“) ausgezogen. Unentbehrlich beim Kirchgang ist im Winter wie im Sommer „die Muffe“, die sich meist durch Generationen vererbte. Heute sind diese schönen alten Volkstrachten bei uns ganz verschwunden. Leider sind auch die einzelnen Stücke, die sich in unserem Museum befanden, durch Kriegseinwirkung verlorengegangen. Wir haben jetzt versucht, diese Flämingstrachten naturgetreu in Miniatur nachzubilden.

Abschließend möchte ich noch hinzufügen, daß 1830 eine Hauptreparatur an dem Dachreiter, wie ihn das Bild zeigt, vorgenommen wurde. 1853 waren Bedachung und Läutewerk dermaßen schadhaft, daß 1854 mit der Abtragung begonnen wurde. Da von dem Holzwerk fast gar nichts mehr brauchbar war, dauerte es bis zum Ende des Jahres, daß der Turm so erbaut wurde, wie wir ihn heute kennen. Auch im Innern der Kirche wurde ein größerer Umbau vorgenommen.

So hat das Bild uns allerlei aus vergangenen Tagen zu sagen gewußt und besitzt für unser Städtchen einen großen heimatgeschichtlichen Wert.“

(Lena Schmalz, Heimatkalender 1954).

 

Eine Turmreparatur fand wieder einmal 1812 statt, durchgeführt von Johann George Fischer, Zimmermeister in Seyda. 80 Reichsthaler und 23 Silbergroschen verlangte er für die Arbeiten, 13 Reichsthaler und 23 Silbergroschen für den Transport. Als ob nichts gewesen wäre, wird der „Bau-Anschlag“ am 28. November 1812 gestellt: aber inzwischen hatte sich viel verändert!

(Seydaer Kirchenarchiv, Findbuch Nr. 1.080).

 

Napoleon war in Deutschland eingefallen und brachte die alten Ordnungen ins Wanken. 1806, als Seyda 105 Häuser und 800 Einwohner hatte (HG 4/1914), wurde Preußen besiegt. Sachsen und Franzosen waren dann Verbündete, was sich später verhängnisvoll auswirkte.

(Zu dieser Zeit vgl. auch: HG 5/1913, HK sowie das Kirchenbuch vom 26.10.1806.).

Als Napoleon dann auch Rußland angriff, wurde ihm das bekanntlich zum Verhängnis. Russen und die mit ihm verbündeten Preußen drängten die Franzosen immer weiter zurück und besiegten sie schließlich.

Napoleon soll auf seinem Rückzug 1813 die Dahmsche Straße gezogen sein, und eine alte Geschichte erzählt, er habe zwischen der Seyd´schen und der Dahm´schen Kirchturmspitze dabei seinen Schatz vergraben.

(Deshalb Achtung beim Hausbau! Hausbesuch Linda Februar 2000).

Der Heimatforscher Brachwitz berichtet:

„Doch die Franzosen nahmen bei ihren Durchmärschen herzlich wenig darauf Rücksicht, daß Kursachsen ihnen verbündet war... Der schlimmste Monat war der September. Am 3. September rückten 6 bis 7.000 Preußen in Seyda ein und nahmen hier und in den umliegenden Orten Quartier. „In der Stille wegen der Kriegsunruhen“ wurden an diesem Tage in Mellnitz und ebenso auf hiesigem Friedhof je eine Beerdigung gehalten. Am 5. September fand das Gefecht bei Zahna statt, dessen Schlußakt sich in und bei Seyda abspielte. An diesem Tage erfolgte wieder eine Beerdigung „in aller Stille wegen der Kriegsunruhen“. In der folgenden Nacht befand sich das Hauptbiwak der Franzosen auf den Höhen südlich von Naundorf. Dorthin hatten Seyda und alle umliegenden Dörfer zu liefern. Gewiß haben damals die Seydaer auch den Feuerschein am Himmel bemerkt: Die Franzosen hatten Zallmsdorf in Brand gesteckt. Am Morgen des 6. September durchzog das XII. Korps des französischen Heeres unter Dudinot durch unser Städtchen. Die Schlacht bei Dennewitz begann. Den ganzen Tag hörte man Kanonendonner, bis die Dunkelheit anbrach. Dann zogen wieder viele Franzosen durch unsern Ort, aber diesmal in größter Unordnung, denn sie befanden sich auf dem Rückmarsch. Von Blücher und Tauentzien geschlagen, flohen sie zum Teil nach der Elbfestung Wittenberg zurück, woher sie gekommen waren. Am 12. September finden wir Bernadotte, den Oberbefehlshaber der siegreichen preußischen Truppen, im Hauptquartier zu Seyda. Von hier ging es weiter nach Koswig zu.

Daß aber damit die Kriegsnöte für unsern Ort noch keineswegs zu Ende waren, beweist wieder das Kirchenbuch. Am 16. September hier in Seyda gestorben und am 16. September ebenhier begraben ist ein Hüfner aus Woltersdorf bei Zahna. Von ihm heißt es: „hat sich der Kriegsunruhen wegen hierher geflüchtet“. Zum letzten Male lesen wir von einem Begräbnis „in aller Stille wegen der Kriegsunruhen“ am 22. September, dann nicht wieder. Aber schreckliche Seuchen treten nun auf und halten noch das ganze Jahr an: Ruhr, Blattern, Scharlach, Nervenfieber und Pocken.“ (HG 5/1913, 11/1913, in: HK 9/1995 von Bärbel Schiepel).

An diese Tage erinnert das Denkmal in Gadegast mit der Inschrift: „Seinen tapferen Kriegern von 1813 das Inf. Reg. Prinz Friedrich der Niederlande II. westfäl. Nr. 15 in Minden 1913. Treffen bei Gadegast 5. September 1813.“ was im Jahre 1913 unter maßgeblicher Planungsarbeit des Gadegaster Pastors Voigt (1903-1939) gebaut worden ist.

Bei diesem Treffen sind 315 Soldaten ums Leben gekommen, aber es gab nur ein Opfer in der Zivilbevölkerung: eine alte Frau, die nicht mit in die „Nachthainigte“, das war der Sumpf bei Schadewalde, fliehen wollte, und die einen Streifschuß bekam. Ein Haus ist in Gadegast abgebrannt, das von „Winkel-Clemens“, wo sich auch die Kirchenkasse befand, so dass von diesem Jahr keine Abrechnung vorliegt. Etwa 10% der Bevölkerung starb dann aber durch schlimme Krankheiten, wohl wegen des schlechten Wassers im Sumpf und auch durch die vielen fremden Menschen, die mancherlei Krankheiten mitbrachten.

(Vgl.: Die Geschichte der Kirche in Gadegast, 1997).

An die Schlacht bei Dennewitz, bei der sich 50.000 Preußen und Russen 70.000 Franzosen und Sachsen gegenüberstanden, erinnern dort viele Denkmale.

 

Über die Kriegsnot in Seyda berichtet der Heimatforscher Oscar Brachwitz:

„Die ersten Kosaken erschienen am 7. März 1813 in Seyda, am 12. März die ersten preußischen Husaren. Die Soldaten verlangten natürlich Quartier und Verpflegung. Die Bürgerschaft war in großer Angst und Sorge und wandte sich an den damaligen Amtsrichter Friedrich Nägelein. Derselbe berichtet darüber: „Als im Frühjahr 1813 die russischen und preußischen Einquartierungen angingen, trug die hiesige Bürgerschaft mir auf, alle die einzeln kommenden Truppen auf Rechnung der Stadt zu verpflegen und was sie sonst im einzelnen verlangen würden, herbeizuschaffen. - Ich unterzog mich dieses Auftrages, um so viel wie möglich alle Exzesse und Unordnungen zu vermeiden. Dabei hatte ich das Einquartierungsgeschäft selbst mit zu besorgen, wurde auch, weil die hiesige Stadt die als Kontribution verlangte Geldsumme nicht schaffen konnte, drei Tage lang als Geisel von den Preußen mitgenommen. Sowohl für die Verpflegung der einzeln gekommenen Truppen vom 7. März bis zum Monat August 1813 als für die verlangten Requisitionen und Kontributionen, ingleichen für meine dabei gehabten vielen Bemühungen habe ich die Geldsumme von 221 Talern 9 Gr. 6 Pfg. aufgewendet.“

Von Anfang März 1813 bis Ende Juli waren fast täglich russische oder preußische Truppen in Seyda zu verpflegen. Die Kosaken, die am 7. März hier erschienen, verlangten Brot, Butter, Branntwein und Bier. Am 11. März mußten neun Kosaken über Nacht einquartiert und mit Semmeln, Brot und Branntwein verpflegt werden. Am 11. März ritten die ersten Preußen ein, es waren Husaren, die Branntwein und Brot verlangten, auch am 13. März waren wieder preußische Husaren in Seyda. Tags darauf meldeten sich wieder Kosaken mit ihren Ansprüchen an Branntwein und Brot. Anspruchsvoller jedoch war eine Kosakenpatrouille, bestehend aus zwei Offizieren und sechs Gemeinden. Die Offiziere verlangten für sich Branntwein, Semmeln, Heringe, Baumöl und Essig. Die Kosaken, die in den beiden folgenden Nächten Patrouille ritten, erhielten für die Nacht Branntwein und Essen...“ So ging es weiter: April, Mai, Juni, Juli, August. „Am 4. September speiste ein General auf dem Amt, wahrscheinlich Graf Tauentzien. Für ihn und seinen Stab besorgte man ein altes Huhn und zwölf Hühnereier, ferner Wein und Bier.

Natürlich brauchten die Truppen auch Fleisch... Der Kanzleilehngutsbesitzer Joh. Gottfried Schmidt, der wie der Gastwirt Brumme viel Lieferungen hatte übernehmen müssen, berichtet: „Nach der Schlacht bei Dennewitz am 8. September 1813 kam ein Kommando Russen nach Seyda, welche auf Anordnung 13 Stück Vieh von der Stadt requirieren. Die Gerichte, welche vorgaben, daß kein Vieh da wäre, verursachten, daß die Ställe visitiert und von mir, Schmidt, zwei Stallkühe und von Matthieß drei Ochsen vom Wagen genommen wurden, wovon jedoch letzterer einen zurückbekam. Und da der Offizier statt der requirierten 13 Stück mit vier Stück zufrieden war, versprach der Amtsrichter Schulze, daß das Vieh von der Stadt vergütet werden sollte, weil dadurch die requirierten 13 Stück erhalten worden wären.“ - Es geht aus diesem Bericht hervor, daß die Viehställe in Seyda so ziemlich leer waren. Damit stimmt die Erzählung alter Leute überein, daß das Vieh in diesen Tagen in den Busch getrieben worden war, wo es von den Kommandos nicht gefunden werden konnte.

Französische Truppen sind nur in den Tagen vor der Schlacht bei Dennewitz durch Seyda gekommen. Die unter Napoleon kämpfenden polnischen Ulanen requirierten in Seyda eine Tonne Bier.

Überblickt man die Leistungen, die allein die drei Bürger Nägelein, Schmidt und Brumme für die Stadt aufbringen mußten, so ergibt sich die stattliche Summe von 625 Talern, eine Summe, die die Stadt nach Kriegsende nicht aufbringen konnte, so daß alle drei im Jahre 1816 eine Klage gegen die Stadt einreichten.“

Noch im November gab es Einquartierungen.

„Man muß sich wundern, daß dabei die Bürgerschaft bei der Sammlung für verwundete Soldaten den ansehnlichen Betrag von 11 Talern 8 Groschen aufgebracht hat, ein Zeichen von Opfersinn, der in der Einwohnerschaft vorhanden war.“

(Oscar Brachwitz, Kriegsnot in Seyda; Heimatbote 23. Mai 1940).

 

Noch lange lebte die Erinnerung an dieses vorerst letzte direkte Kriegsereignis in unserem Gebiet in Erzählungen fort. Eine alte Frau berichtet:

 „Kinder, es waren schlimme Zeiten, so lange Napoleon im Lande war. Es waren aber nicht die Franzosen allein, die nahmen, was sie finden konnten, sondern auch die Preußen und die Russen. Da mußten die Pferde am Tage versteckt werden, und trotzdem wurden die meisten gefunden und mitgenommen. Am schlimmsten waren die Marodeure, die nicht mehr laufen wollten, sie nahmen sich einfach Pferde und ritten darauf davon. Die Kühe und Ochsen wurden zur Verpflegung der Soldaten weggetrieben, so daß im ganzen Dorfe fast keine Kuh mehr war...“ „Da haben die Bauern immer des Nachts geackert...“ (HG 4/1914).

 

Zwar flüchteten die meisten Bewohner, sobald Kriegsvolk nahte, aus den Ortschaften und suchten in den Sümpfen und im nahen „Busch“ Verstecke auf. Doch dafür ging es den verlassenen Gehöften nur um so übler. Kamen die Preußen, so wurden von ihnen unsere kursächsischen Vorfahren als Verbündete der Franzosen angesehen und als Feinde ausgeplündert... Noch schlimmer hausten aber die Kosaken, die vor allem wegen ihres Schmutzes und wegen ihrer Roheit gefürchtet waren.“ (Brachwitz, aaO).

Der Gemeindevorsteher Richter aus Zemnick berichtet nach einer Erzählung seiner Großmutter:

„Die Kosaken hatten Pelzmützen auf und Pelzjacken an; sie ritten kleine, struppige Pferde. Die langen Reiter schliffen beinahe mit ihren Füßen auf der Erde, so klein waren ihre Reittiere. Und doch konnten sie gewaltig schnell laufen. Fast immer verlangten die Kosaken Schnaps. Schenkte man ihnen den, dann war man zunächst einmal sicher vor ihnen. Sie hatten natürlich auch großen Hunger, und überall suchten sie nach Brot, Schinken, Wurst und Käse. In einer Bauernwirtschaft war man gerade am Brotbacken. Das Brot stand noch im Backofen. Die wilden Gesellen nahmen der Hausfrau die Mühe des Herausnehmens ab, aber nur, um die Brote mitgehen zu lassen. Nichts war sicher vor den Kosaken. Was sollte man tun, um das Wenige, was man noch hatte, verbergen zu können? Nun war die nördliche Seite unseres Dorfes ein richtiges Sumpf- und Buschgebiet. Dorthin trug man denn alles, was den wilden Reitern nicht in die Hände fallen sollte. Die Zemnicker hatten geheime Gänge in das Sumpfgebiet hinein, die außer ihnen niemand kannte...“ (HG 5/1913, 11/1913, in: HK 9/1995 von Bärbel Schiepel). Verschiedene Episoden von Kriegshandlungen berichtet auch Brachwitz in seinen Geschichtlichen Bildern (31. Ein unerschrockenes Mädchen in Marzahna; 32. Kropstädt verwüstet; 33. Zahna verbrannt; Dennewitz geplündert; 34. Im Klebitzer Pfarrhaus; 36. Ein tapferer Musketier in der Schlacht bei Dennewitz; 37. Hungernot nach der Schlacht von Dennewitz; 38. Böse Einquartierung in Oehna; 39. Ein kranker Franzose in Marzahna; 40. Plünderer und Marodeure; 41. Im Lager bei Schadewalde. 12.-22. September; 42. Über die Elbe (Gedicht); 43. Blücher und York bei Wartenburg; 44. Mutter Heller in Schützberg.).

 

In der Gölsdorfer Chronik kann man eine wichtige Ergänzung zu diesen Erzählungen finden:

„Eine der wenigen Erinnerungen, die sich aus diesen Tagen im Dorfe erhalten haben, ist die, daß von den kämpfenden Soldaten die Franzosen viel freundlicher gewesen seien als die Preußen und Russen.“ (Hempel 26). Die Bewohner aus „Altpreußen“ bedienten sich schwadronierend in den Dörfern und Städten, die zum alten Feind Sachsen gehörten, und stahlen, was sie kriegen konnten.

 

Lange zogen sich die Kämpfe hin. Erst am 14. Januar 1814 wurde Wittenberg erobert! Blücher, York, Gneisenau, Tauentzien: sie alle kämpften hier, machten Quartier im Jessener Schloß und erzwangen den Elbübergang bei Wartenburg. (Elbe-Elster-Rundschau vom 13. 2. 1998, S. 11).

 

Nach dem Sieg über Napoleon wurde Europa im Wiener Kongreß neu aufgeteilt. Kursachsen wurde für seine Kooperation mit den Franzosen bestraft: Es mußte große Gebietsteile an Preußen abgeben. Die preußische „Provinz Sachsen“ entstand, zu der auch Seyda gehörte. Die alte Amtsherrschaft hatte ein Ende, Landratskreise wurden aufgebaut. Zuerst war der Sitz des Landrates in Schweinitz, später in Herzberg. Das Amtshaus in Seyda wurde Dienstgebäude eines Königlich-Preußischen Gerichts.

(Doch schon kurze Zeit später ging es in Privatbesitz über. 1912 wird als Besitzerin des Amtshaus Frau Rentiere (die von ihrer Rente lebte) Globig geb. Lüdecke genannt. Sie starb 1939. Die Erbengemeinschaft gab in den neunziger Jahren des 20. Jahrhunderts das Amtshaus an die Stadt ab.).

Seyda gehörte also wieder auf die Seite der „Sieger“, denn es war nun preußisch. Viele Denkmale wurden errichtet, insbesondere im Jahre 1913, in Erinnerung an den Befreiungskrieg. In fast allen Orten wurden „Luisenlinden“ gepflanzt, zum Gedächtnis an die damalige preußische Königin. Der größte und älteste Baum aber ist die Befreiungslinde auf dem Kirchplatz. Es ist eine besondere Linde, ihre Blätter sind schief: eine kaukasische Linde, wohl zum Gedenken an die russisch-deutsche Waffenbrüderschaft gegen Napoleon.

(„Eine Zeichnung von 1825 zeigt sie als kleinen Baum.“ Brachwitz/Schiepel).

 

Doch viele Seydaer wollten sich mit der veränderten Situation nicht abfinden und hofften auf eine baldige Rückkehr nach Sachsen. Ausdruck dafür ist das Schreiben des Bürgermeisters Ruperti für die Turmkugel anläßlich einer Ausbesserung des Turmes im Jahre 1830:

„Ich kann als patriotischer Sachse nicht unterlassen, den Wunsch und auch die feste Überzeugung auszusprechen, daß die so höchst ungerechter Weise erfolgte Zerstückelung des gesegneten Königreiches Sachsen über lang oder kurz einen Rächer finden, Sachsen wieder in seinem alten Umfang hergestellt und vielleicht, Gott gebe es, noch mehr abgerundet und ergänzt glorreich fortblühen wird! Möchten wenigstens meine Söhne dieses herrliche Ereignis erleben und möchte es ohne zu großes Blutvergießen herbeigeführt werden können!

Bei Übernahme des Herzogtums Sachsen wurde zwar von S(eine)r Majestät dem König von Preußen versprochen, daß den Sachsen ihre Verfassung und ihre Rechte unverändert gelassen werden sollen. Doch wurde dies Versprechen in der Folge gänzlich außer Acht gelassen und ohne die Vorstellungen der Sächsischen Stände des Herzogtums, die aber nur noch Scheinstände waren, im mindesten zu beachten, alle Einrichtungen und alle mitunter höchst drückenden Abgaben und Lasten der übrigen Preußischen Monarchie eingeführt. Die Verbrauchs-Steuern wurden höchst drückend, besonders die Branntweinsteuer. Unter der Königlich-Sächsischen Regierung wurden für 1 Scheffel Dresdner Maß Schrot zu Branntwein nur 5 gute Groschen 7 Pfg Accise entrichtet, wogegen jetzt die Preußische Branntweinsteuer dasselbe von jedem Berliner Quart beträgt, eine Abgabe, die eben so unverhältnismäßig (weil sie in den wohlfeilen Jahren 1824-26, als der Scheffel Roggen bis auf 14 und 12 gute Groschen gefallen war, das Doppelte des Wertes betrug) als ungerecht ist, da sie nur den Armen, der den Genuß des Branntweins bei seiner schweren Arbeit und geringen Kost nicht entbehren kann, betrifft und drückt. Ebenso drückend ist die Klassensteuer... Aus eben solchem Hohn ist die Gewerbesteuer...

Doch um nicht ungerecht zu sein, muß man auch das Gute erwähnen, welches die Preußische Regierung herbeigeführt hat. Dahin gehört die Erhebung der Konsumtionssteuer von ausländischen Kunst- und Naturprodukten an der Grenze, wodurch der innere Verkehr von den drückenden Fesseln befreit und mehr belebt worden ist, die Einrichtung des Militär-Wesens, wonach jeder Staatsbürger ohne Ausnahme dem Staate durch bestimmte Jahre als Soldat dienen muß und die Einrichtung einer Landwehr, die jährlich 14 Tage zusammengezogen und geübt wird, wodurch ein militärischer Geist und die Liebe zum Vaterlande geweckt wird.“

1854, als der Turm wieder erneuert wurde, heißt es dann aber: „Schriftliche Nachrichten des vormaligen Bürgermeisters Ruperti vom Jahre 1830 sind nicht wieder mit eingelegt, sondern ins Archiv genommen worden, da sie unwahres Raisonnement über Preußen enthalten.“

 

Ausgerechnet das preußische Militärwesen wird von Bürgermeister Ruperti als „Gutes“ erwähnt! Gewiß gab es da doch noch bessere Dinge zu berichten.

Der preußische König Friedrich Wilhelm III. war an kirchlichen Fragen sehr interessiert. Im Jahre 1817, zum 300. Jahrestag der Reformation, veranlaßte er eine Erneuerung der evangelischen Kirche. Er selbst kam aus der „reformierten“ Tradition, also der Reformation, die in Zürich und Genf mit Zwingli und Calvin begonnen hatte; seine Untertanen aber waren zumeist (wie in Seyda) lutherisch, also von der Reformation in Wittenberg geprägt. Sein Wunsch war es, eine evangelische Kirche zu schaffen: jede Gemeinde konnte dabei ihre Prägung beibehalten. Schwierig war diese „Union“ insbesondere wegen der Abendmahlsfrage: Die „Reformierten“ sehen Leib und Blut Christi im Abendmahl symbolisch in Brot und Wein, Luther aber hat die Realpräsenz Christi betont („Das ist mein Leib!“) und gesagt, dass wir „in, mit und unter Brot und Wein den Leib und das Blut Christi empfangen“, wie es auch heute noch bei gelehrt wird. Paul Gerhardt zum Beispiel verzichtete deshalb lieber („um der Wahrheit willen“) auf seine Stelle als lutherischer Pastor in Berlin, als solch eine Union mitzumachen, die schon damals einmal versucht worden war. In dem Aufruf des Königs zur Bildung der Union heißt es auch: „Aber so sehr Ich wünschen muß, daß die reformierte und lutherische Kirche in Meinen Staaten diese Meine wohlgeprüfte Überzeugung mit Mir teilen möge, so weit bin Ich, ihre Rechte und Freiheit achtend, davon entfernt, sie aufdringen und in dieser Angelegenheit etwas verfügen und bestimmen zu wollen. Auch hat diese Union nur dann einen wahren Wert, wenn weder Überredung noch Indifferentismus an ihr teilhaben, wenn sie aus der Freiheit eigener Überzeugung rein hervorgeht, und sie nicht nur eine Vereinigung in der äußeren Form ist, sondern in der Einigkeit der Herzen, nach echt biblischen Grundsätzen, ihre Wurzeln und Lebenskräfte hat.“ So feierte der König in seiner Potsdamer Gemeinde ein gemeinsames Abendmahl und hoffte mit diesem Beispiel, die Gemeinden in seinen Landen zur Vereinigung zu bringen, was ihm damit im Wesentlichen auch gelungen ist. (Kirchen- und Theologiegeschichte in Quellen IV,1; 186.),

Die Erneuerung von 1817 brachte unserer Kirchengemeinde über diesen organisatorischen Zusammenschluß hinaus aber noch mehr: zum Beispiel recht demokratische Strukturen, die bei den „Reformierten“ schon lange üblich waren; dazu eine neue Agende, ein Gottesdienstbuch, was der König (als theologischer Laie!) selbst geschrieben hatte und nun allen Gemeinden im Land empfahl. Auch der Talar wurde damals eingeführt, die Amtstracht des Pfarrers: Es ist der „Lutherrock“, den Martin Luther als Professor damals auf der Straße in Wittenberg getragen hat. Dazu das „Beffchen“, was eigentlich einmal zum Schutz des Stoffes vor dem Bart des Amtsträgers gedacht war, inzwischen aber zu einem Bekenntniszeichen geworden ist: Sind beide Streifen ganz getrennt, so ist es ein lutherischer Pfarrer, sind beide Streifen ganz zusammen, so ist es ein reformierter Pfarrer; sind die Streifen nur halb aufgeschnitten, so ist es ein „unierter“ Pfarrer.

Die Grenzen unseres Kirchengebietes, zu dem wir heute gehören, sind (mit ganz kleinen Veränderungen) noch immer die der 1815 ins Leben gerufenen preußischen „Provinz Sachsen“, die von der Altmark bis nach Suhl und vom Eichsfeld bis in den Spreewald reichte. Unsere Landeskirche heißt daher: „Kirchenprovinz Sachsen“. Sonst ist in der Kirchengeschichte oft zu beklagen, dass es Kirchenspaltungen gab. Wir gehören zu einer Unionskirche, wo sich zwei Konfessionen vereinigt haben!

 

Mit der Umwandlung in eine königliche Domäne, die 1835 aufgelöst wurde, begann die Entstehung der jetzigen Stadt. Die Handelsstraße Frankfurt/Oder - Leipzig führte, über Dahme gehend, durch Seyda, und so bildeten sich zunächst hier einige Gasthäuser mit großen Stallungen. Dazu kamen die Rademacher und die Schmiede. Desweiteren waren die zahlreichen Bockwindmühlen ein Wahrzeichen des Ortes.“ (Heimatbuch 52; vgl. auch Superintendent Jacobi in der Turmkugel 1854: „Das Ehemalige Rentamt ist nach Verkauf der hiesigen, königlichen Domäne im Jahr 1830 mit der in Wittenberg verbunden worden.“

 

Sieben Mühlen gab es in der Mitte des 20. Jahrhunderts noch in Seyda, ihre Blütezeit hatten sie am Anfang des 19. Jahrhunderts. In Seyda steht noch heute die Mühle Paul/Behncke. Sie hat bis 1980 gearbeitet. Am 19. Juli 1834 wurde sie errichtet, wie eine Inschrift am großen Eichenbalken im inneren der Mühle es bezeugt. Die Mühle ist gebaut worden, nachdem die alte, weiter zur Straße stehende, die mit den Flügeln nach Osten stand, umgefallen war. (Der Besitzer spielte gerade Karten.) Wegen der Gefahr für den Verkehr wurde die damals neue Mühle nach hinten gesetzt, was jetzt ihre Rekonstruktion so schwierig macht.

Weitere Windmühlen in Seyda standen bei Hechts am Ortseingang von Seyda (von Lüttchenseyda kommend links das erste Haus), am Mittelbusch (wo heute die Autowerkstatt Grießig ist); bei Freydanks (Ortseingang Seyda von Lüttchenseyda kommend rechts, 3. Haus). Die Mühle Rühlicke arbeitet noch auf elektrischer Basis in der Jüterboger Straße. Eine weitere Mühle stand in der Jüterboger Straße auf dem Grundstück von Zimmermann Thiele (gegenüber von Ferchs Einkaufsquelle). Die Mühle Wolfram/Huth, inzwischen auch durch eine modernere ersetzt, befand sich am Ortsausgang Richtung Mellnitz auf der rechten Seite.

Eine Mühle in Schadewalde stand auf dem einzelnen Gehöft Richtung Zemnick, wo jetzt die Feuerwehr ist; eine Mühle in Morxdorf am Ortsausgang Richtung Jüterbog, links außerhalb des Ortes (früher Hagendorf). In Gadegast standen zwei Mühlen auf dem Weg Richtung Naundorf (der „Mühlberg“ ist noch erhalten - der Schuttberg einer Mühle); in Mellnitz stand eine Mühle auf der dem Dorf jetzt gegenüberliegenden Seite der Hauptstraße.

 

Seyda zählte im Jahre 1825 113 Häuser und hatte 1.000 Einwohner. (HG 4/1914). Das bedeutet, dass in jedem Haus im Durchschnitt fast 10 Menschen lebten! Seit 1823 war es verboten, Neubauten mit Stroh zu decken, so dass sich das Stadtbild langsam wandelte. Die medizinische Versorgung verbesserte sich, die Bevölkerung wuchs ständig an und die Stadt erweiterte sich nach Osten.

(Amtsblatt des Regierungsbezirkes Merseburg; Schweinitzer Kreisblatt 21.12.1944).

 

Auch über den Alltag in der Mitte des 19. Jahrhunderts ist einiges zu berichten, so über das „Licht- und Feuermachen: An das Licht- und Feuermachen können sich nur alte Leute erinnern. Das mußte gelernt sein. Am besten verstanden es die Hausfrauen. Es waren dazu erforderlich Zünder, ein Feuerstein, ein Stahl, ein Schwefelfaden und Kein oder eien Oellampe. Der Zunder wurde gebrannt aus Lappen, am besten aus Tuchlappen, die wurden geschnitten und zusammengelegt und angesteckt; aber sie durften nicht berührt werden; wenn sie verbrannt oder verkohlt waren, kamen sie in eine Zunderbüchse, die war länglich, aus Blech mit anschließendem Deckel. Ferner gehörte dazu ein Feuerstein, den brachte man mit vom Pflügen, die dunklen waren die besten. Ein Stahl war eine Viertel Elle hoch, hatte einen Griff, daß man mit der Hand durchfassen konnte, die Klinge mußte breit gewesen sein, sie war aber so abgenutzt im Bogen wie auf dem Rücken, daß man annehmen konnte, der Stahl wäre schon 100 Jahr im Dienst gewesen. Den Schwefelfaden gabes in jedem Laden, das Bund kostete einen Groschen; er wurde in Stücke geschnitten und kam in eine hölzerne Büchse.

Wollte eine Frau Licht machen, so nahm sie den Stein in die linke und den Stahl in die rechte Hand, hielt beides in die Zunderbüchse und pink pink spritzten die Funken hinein und das gab Glut. Dann nahm sie einen Schwefelfaden, hielt ihn auf die Glut und hatte Licht, hielt das eine an die Oellampe oder an den KIen und hatte Feuer... Auf dem Tisch war eine Oellampe aus Blech mit Docht; dann hatte man zwei kleine Handlampen und zwei Kugellampen, ferner waren in der Wirtschaft zwei Laternen, eine große, die hatte hölzerne Säulen und die Türe hatte hölzerne Rähmchen, und es waren Scheiben eingesetzt; die nannten wir den großen Kossätenhof; da setzte man eine Handlampe hinein, und die brauchte man in Stall und Scheune. War nun das Oel alle, so mußte man kurze Talglichter hineinstecken. Auf den Tisch kam ein Leuchter für das Talglicht; in der Laterne aber hatte man einen Ständer aus Lehm gemacht oder man nahm eine Runkelrübe und machte dahinein ein Loch und setzte das Talglicht hinein.

Eine große Verbesserung waren die Tunkhölzer. Es war eine kleine Flasche, darin war eine Masse fest, man sagte: Pech und Schwefel. Dazu gab es Tunkhölzer, die hatten einen Schwefelkopf. Man tunkte ein paar Mal in die Flasche und wenn man herauszog, so knallte es und man hatte Licht. Das taten die Frauen mit Freuden begrüßen. Dann kamen die Streichhölzer auf, Ausgang der fünfziger Jahre (des 19. Jahrhunderts); zu derselben Zeit die Zündnadelgewehre beim Militär. Anfang der sechziger Jahre wurde das Petroleum entdeckt, dazu sagten wir Steinöl. Und dann gab es die Steinöllampen, das war aber sehenswert, die erste Lampe im Ort..., da lenkte das ganze Dorf hin, und man wunderte sich über das helle Licht.“ (Gottlieb Krüger, Gielsdorf, Heimatglocken, Gemeindeblatt für Elster Nr. 10, Jahrgang 4; als  Zeitdokument vgl. auch den Bericht des Superintendenten Camenz in der Turmkugel vom 10. Oktober 1830).

 

Einen großen Teil der Kirchenarchive nehmen im ländlichen Raum die Akten zur „Separation“ und zur „Ablösung“ ein.

Die bisherigen Eigentumsverhältnisse beschreibt die Gölsdorfer Chronik: „Über 700 Jahre, schon, als die „Fläminger“ ins Land kamen, galt für den bäuerlichen Betrieb folgende Eigentumsordnung: Der Hof war persönliches Eigentum. Der Acker wurde zwar dem einzelnen mit einer Hufenzahl zugewiesen, blieb aber Eigentum des Landesherren. Dafür war Pacht zu zahlen, in Form von Geld, Naturalien und Diensten. Weiden und Triften waren Eigentum der Gemeinde, die einzelnen Hüfner hatten an ihnen ein anteiliges Nutzungsrecht. Der Wald blieb alleiniges Eigentum des Landesherren... Die Wirtschaftsform ist die Dreifelderwirtschaft. Gleich bei der Dorfgründung ist die gesamte dem Dorfe zugefallene Feldmark in mehrere gleich große Schläge eingeteilt worden. In jedem dieser Schläge erhält der Hüfner einen gleich großen Anteil. So haben alle Hüfner die gleiche Landmenge. Es gibt also nicht nicht den Unterschied zwischen „Großen“ und „Kleinen“...“.

Es geht wohl auf den alten Bischof Wichmann zurück, dass es nicht möglich war, daß sich größerer Besitz in einer Hand vereinigen konnte. „Wohl konnte der Hüfner seine Wirtschaft als ganze verkaufen, nicht aber einzelne Teile.“

„Wir stoßen hier auf eine tiefere Schicht des Weltempfindens und Denkens. Es ist das Empfinden und Denken der vorbürgerlichen bzw. vorkapitalistischen Zeit. Und es erhebt sich die Frage, ob echtes Bauerntum nicht überhaupt in diesem Denken seine Wurzel hat. Wohl soll und muß der Bauer ein enges persönliches Verhältnis zu dem ihm anvertrauten Acker haben; sein und seiner Familie Wohl und Wehe muß an den Acker gebunden sein. Aber der Acker darf nicht zur Handelsware und zum Spekulationsobjekt werden.“ (Hempel 18; 1954!).

 

Durch diese Eigentumsformen ergab es sich, dass zwischen den Gemeinden die Grenzen festgelegt werden mußten. Es gab dazu zwischen Ostern und Pfingsten ein richtiges Fest, das „Grenzeziehen“. Es fand zum Beispiel für die Feldmark Meltendorf mit den Ortschaften Lüttchenseyda, Gentha, Listerfehrda, Gielsdorf, Zemnick und Schadewalde zum letzten Mal im Jahre 1846 statt. (vgl. Brachwitz, Geschichtliche Bilder, 51. und 56.).

 

Bei der Separation wurden die Felder neu abgemessen und festen Eigentümern zugeordnet. Die „Ablösung“ beschreibt den Vorgang, dass Dienste oder Naturalabgaben in Geldabgaben umgewandelt werden. Zwei Beispiele aus dem Seydaer Kirchenarchiv:

Ablösungs Plan in der Ablösungs Sache von Seyda - 15. August 1877, Nachtrag 1878

Einleitung

„Auf den in der Flur Seyda Schweinitzer Kreises gelegenen Grundstücken haften verschiedene Natural- und Geldabgaben für die geistlichen und Schul Institute in Seyda:

Im December 1874 provocierte der Förster Ludwig in Seyda und Genossen auf Ablösung dieser Realverpflichtungen, und es wird zur Realisirung des daß halb eingeleiteten Verfahrens der nachstehende

Abloesungs Plan entworfen.

Abgaben:

a. der Canon für die Kirche in Seyda zu Walpurgis (30.4.)

b. das Gänse und Hühnergeld für dieselbe zu Michaelis (29.9.)

c. die nach dem jährlichen nach Maßgabe der 20, 21, 23, 24 und 25 des Gesetzes vom 2. Maerz 1850 zu ermittelnden Marktpreise (früher dem jedesmaligen durchschnittl. Marktpreise der Stadt Wittenberg jetzt demselben Preise der Stadt Herzberg in Gelde abzuführende Roggenrente für die Oberpfarre in Seyda am 1. December).

c. der Erb- resp. Erbpachtzins für dieselbe am 1. October

e. das Haugeld für das Diakonat in Seyda zu Michaelis

f. der Roggen und das Brotgeld für das Kantorat zu derselben Zeit

g. das Läutegeld für das Küstorat zu eben derselben Zeit

Es folgt die Umrechnung der verschiedenen Maße und die Ermittlung der jährlichen Gesamtrente in Mark für die Kirche; für die Oberpfarre; für das Diakonat; für das Kantorat; für das Küstorat. (aaO, Findbuch 225).

 

Auch der „Zehnte“ wurde „abgelöst“:

Ablösung des Zehents der Königl. Domäne Seyda

Es wird in der Ablösungssache am 19. März 1833 von den Parteien vereinbart: Ablösungssumme: Dreitausendtzweihundert Thaler“

(aaO, Findbuch 286).

 

Ein Pachtvertrag sah so aus:

Auszug aus dem Pachtkontrakt von 1809

„1. Es verpachtet nemlich genannter Superintendent M. Carl Wilhelm Theophilus Camenz den ihm von allen auf hiesigen Königlichen Feldern zu erbauenden alljährlichen Feldfrüchten zustehenden Zehent an Winter- und Sommerfrüchten; als: Roggen, Weitzen, Gerste, Hafer, Erbsen, Wicken, Heidekorn, Lein, Dutter?, Mohn, Erdbirnen, Kraut, Kohl, und andere Rüben, Hirse, Klee und andere Futterkräuter, und was sonst noch an jeder Art von Früchten erbaut werden könnte, inclusive den sogenannten Churschober Heu, welcher gewöhnlich ein mäßiges zweyspänniges Fuder beträgt, an genannten Herrn Amts-Inspector Weise für die alljährlich zu entrichtende Summe von  Ein Hundert und Zwanzig Thaler, sage 120 rt. - gr. - p.

2. Der Herr Pächter macht sich anheischig dieses festgesetzte Pacht-Quantum an 120 rt. alljährlich in zwey Terminen, und Fristen, nemlich:

Sechzig Thaler zu Johanni (24.6.) und

Sechzig Thaler zu Weynachten

in handelsüblichen Münzsorten baar und auf einmahl abzuzahlen.“

Pachtkontrakte wurden immer auf 6 Jahre geschlossen.

Im Pachtkontrakt von 1834 - 1840 sind die Flurstücke beschrieben, die Pachtbestimmungen sind sehr ausführlich genannt. Ein Bürger gibt seine Unterschrift noch mit xxx! 1868 kann der Lumpensammler Meißner die Pacht an die Superintendentur nicht bezahlen.                Sämtliche Feldfrüchte seines Pachtackers werden daraufhin bei einer Auktion meistbietend verkauft.

(Seydaer Kirchenbuch, Findbuch 270).

 

Die Einkünfte der Pfarre werden 1837 beschrieben:

„Verzeichnis der Einkünfte der Pfarre 1837:

Wohnung                                 

30 Reichstaler                

Wohnung ist geräumig, aber in sehr schlechtem baulichem Zustand. Jedenfalls muß jetzt eine radikale Reparatur daran vorgenommen werden, oder am Besten ein Neubau erfolgen.

Gärten                   

ein Blumengarten                                               1 Reichsthaler

ein Obst- und Grasgarten am Hause      15  Reichsthaler

zwei Krautgärten im Felde                     4 Reichsthaler

Acker

4 Hufen Land in der Seydaer Flur:

164 Reichsthaler, 14 Groschen

1 Hufe in der Mellnitzer Dorfflur: 

18 Reichsthaler, 10 Groschen  (von Schlüter)

25 Hufen die wüste Mark Zwuschen:

250 Reichsthaler

Wiesen

a) die Kolk Wiese                                          12 Reichsthaler

b) die schmale Wiese                                        2 Reichsthaler

c)   die breite Wiese                                     12 Reichsthaler

d)  die Winkel Wiese                                2 Reichsthaler,    15 Groschen

e) die Reißwiese                                            7 Reichsthaler

f) die Domänenwiese                                       12 Reichsthaler

g) Mellnitzer Wiese                                        2 Reichsthaler

3 einzelneParzellen von den 4 Hufen vorbehalten zu eigener Bewirtschaftung                              12 Reichsthaler“

Es folgt eine Aufzählung der Natural- und Geldeinkünfte der Pfarre. (Seydaer Kirchenarchiv, Findb. 288).

 

In dieser Auflistung wird angedeutet, dass eine Renovierung oder gar ein Neubau des Pfarrhauses dringend ansteht. Weiterhin wird deutlich, welche wichtige Rolle die Einnahmen der Mark Zwuschen für die Superintendentur spielte. Davon wird noch die Rede sein. Vom Neubau des Pfarrhauses berichtet der Heimatforscher Brachwitz im Heimatkalender 1938, also 100 Jahre später:

„Im Jahre 1837 war der Superintendent Camenz gestorben. Das Pfarrhaus war derart baufällig, daß es nicht wieder bezogen werden konnte. So wurde ein Neubau notwendig. Die Kosten wurden auf 2.248 Taler veranschlagt. Auf Seyda entfielen bei der Aufbringung 455 Taler, wozu eine Umlage nötig wurde. Von den 18 Großerben mußte jeder 1 Taler, von den 18 Anspännern jeder 22 Groschen 6 Pfennig, von den 99 Kleinerben jeder 15 Groschen, von den 69 Hausgenossen (Mietern) jeder 7 Groschen 6 Pfennig zahlen.“

Das Seydaer Pfarrhaus wurde noch 1837 gebaut. Etliche Türen mit alten Beschlägen sind in der Pfarrwohnung bis heute erhalten. Bis 1877 war das Haus Sitz der Superintendentur, oft wird es auch als „Oberpfarre“ bezeichnet.

 

Neue Zeiten brachen an: Das 19. Jahrhundert brachte einen ungeahnten technischen Aufschwung. Besonders Mitteldeutschland, die Provinz Sachsen, war davon betroffen. Ein neues Verkehrsmittel wurde gebaut: Die Eisenbahn: Schon 1841 zwischen Wittenberg und Jüterbog, 1848 zwischen Jüterbog und Falkenberg und schließlich 1875 zwischen Wittenberg und Falkenberg.

„Am 4. Juli (1875) fand auf der Eisenbahnstrecke Wittenberg-Jessen die erste Probefahrt statt, an der ca. 30 Personen teilnahmen.“

(Schweinitzer Kreisblatt 13.8.38, „Vor rund 60 Jahren“.).

Die Seydaer Geschäftsleute sollen den Bau einer Eisenbahnstrecke, die einen Bahnhof für Seyda vorsah, abgelehnt haben mit der Begründung, dass dann „das Geld“ in andere Orte abwandere...

Dennoch bekam Seyda wenigstens einen kleinen Bahnanschluß, 1886 wurde die Waldbahn Linda - Seyda angelegt:

„60 Waldarbeiter haben den Untergrund hergestellt, um dann die Gleise - die in 36 Stunden von Bochum kamen - durch 56 Soldaten mit 9 Unteroffizieren und 3 Offizieren zu verlegen. Es handelt sich um 6.600 Zentner Eisen, die damals - welch ein Wandel der Zeit - infolge ungünstiger Eisenkonjunktur sehr billig zu haben waren (kosteten doch 15.000 Meter Gleise von Gußstahl mit Schwellen, rollendes Material, Wagen für Lang- und Scheitholz, Personenwagen und Draisine nur 60.000 RM.“ (Schweinitzer Kreisblatt 1938, aaO).

 

Größere Fabriken, später Industrieanlagen siedelten sich in Wittenberg und Bitterfeld an. In unserer Stadt hielt der technische Fortschritt in den Handwerksbetrieben Einzug. Eine kleine Fabrik gab es in der Nähe: „Bis in die Mitte des 19. Jahrhunderts hinein befand sich in der Nähe von Glücksburg eine Blechlöffelfabrik, die einzige im Regierungsbezirk Merseburg.“ (Heimatbuch 51).

 

Das alles wirkte sich tatsächlich auf das tägliche Leben aus. Ein Beispiel war die Zeitmessung. Noch im 19. Jahrhundert wurde in Seyda üblicherweise für jeden Tag mit Kreide ein Strich an die Tür gemalt. So wußte man den Wochentag. Am Sonntag wurde abgelöscht und die Woche neu begonnen. Man stand mit der Sonne auf und ging, wenn es dunkel wurde, ins Bett. Das änderte sich erst mit der Einführung von Petroleumlampen und später dem elektrischen Licht.

Turmuhren und andernorts Fabriksirenen teilten nun die Zeit ein. „Künstliche“ Zeit entstand: eine wichtige Voraussetzung wiederrum für die Industriealisierung. Die vollständige Ausnutzung der Maschinen ist nur dann möglich, wenn die Arbeiter auf die Stunde zur Stelle sind - und nicht je nachdem, wann die Sonne aufgegangen ist.

Einen solchen Vorgang nennt man „Sozialdisziplinierung“ (Gerhard Oesterreich) oder einfach „Zivilisierung“ (Norbert Elias; vgl. Hans-Heinrich Nolte: Kleine Geschichte Rußlands, 192.).

Hatte man bisher nur im engeren Umkreis geheiratet, so weitet sich nun der Kreis aus. Durch die Mobilität wächst der Horizont. Nachrichten aus einer fernen Welt erreichen die Stadt in kurzer Zeit. Zeitungen und Post arbeiten immer effektiver. Ein Zeugnis der Post aus alter Zeit sind die Postsäulen, eine steht in Niemegk, wo auf „Seyda“ hingewiesen wird.

 

Neue Normen wurden zuerst bei Hofe entwickelt und dann als „Höflichkeit“ von immer weiteren Kreisen internalisiert. Strafen zum Beispiel verloren ihre Funktion als terroristische Volksbelustigung (letzte Hinrichtung in Seyda 1795!); man hörte auf, in der Öffentlichkeit zu furzen und zu spucken und sich in den Familien vor den Kindern zu lieben. Man roch auch nicht mehr.“

 

Durch die Veränderungen gerieten auch die alten politischen Ordnungen ins Wanken. Die Autoritäten waren nicht mehr unantastbar. Die kirchlichen Institutionen trugen oft zur  Verteidigung der alten Ordnung bei. Die Situation beschreibt der Superintendent Jacobi in dem Dokument der Turmkugel 1854:

„Das Jahr 1848 ist das Jahr des Schimpfes und der Schande des deutschen und preußischen Volkes geworden. Wie eine Windsbraut über ein schönes Land, flott sind Ereignisse über uns gekommen, welche die Völker bis auf den Grund..., das staatliche und kirchliche Leben wurde in seiner tiefsten Wurzel erschüttert, das Unterste zu Oben gekehrt und alle Ordnung gebrochen. Vernunft und Wahrheit und Wirklichkeit räumten das Feld den Geistern der Lust und der Hölle. Unser bedächtiges, treues und frommes Volk hat die übrigen an Raserei fast überboten. Was sonst in Jahrhunderten nicht geschah, sollte an einem Tage da fertig werden. Aus dem Absolutismus kopfüber in die breiteste Grundlage der Demokratie, aus dem Kastenwesen in die unterschiedsloseste Gleichheit, aus den strengen Mechanismen der Verwaltung in völlige Gesetzlosigkeit, aus religiösem Leichtsinn und Indifferentismus in Gottesleugnung und Lästerung.

Gesetze und Rechte wurden mit Füßen getreten. Nichtachtung des Eigentums hat sich in den Schriften kundgegeben und selbst in die gesetzgebenden Körperschaften sind die kommunistischen Gelüste eingedrungen. An die Stelle der noch herrschenden Kirchlichkeit war Kirchenfeindschaft und offenbare Gottlosigkeit getreten, und wer sich dagegen aussprach, wurde verhöhnt. Das traf in Sonderheit die Geistlichen, die nun Pfaffen hießen, deren erbitterte Feinde die Lehrer mit waren. Freche schamlose Natürlichkeit (Emanzipation des Fleisches) hat Sitte und Zucht vertrieben, allen Lastern wurde offen gefröhnt, alle Verbrechen: Raub, Brand und Meuchelmord wurden begangen, sogar öffentlich gepriesen, besungen und bezahlt; kannibalische Roheit zog ein in die Schichten der höchsten Bildung und feinen Gesinnung...

Ja, das treue, fromme, sittsame deutsche Volk hat die Wege seines Gottes verlassen und ist in die Bahn des Verderbens geraten...

... bis endlich entschlossene Männer, Graf Brandenburg und Mant... an ihrem Volk die Barmherzigkeit übten, die unsauberen Geister auszutreiben und... Gesetz und Obrigkeit wieder aufrichteten.

Christus ist das Leben der Welt! Neues Feuer, neuer Glaube, neue Liebe durchdringt die Kirche wieder.

So sind wir auch fröhlich in Hoffnung. Doch die Nachwehen des Jahres der Schmach und der Schande dauern noch fort und unsere Kinder werden wohl auch noch büßen müssen... Kriegsgefahr! Verarmung!

Das Jahr 1848 nahm auch den Kirchen- und Schuldienern die Steuerfreiheit. In meiner bisherigen Stellung zahle ich 42 u. 10 M 15 ks Zinszuschlag. Zur allgemeinen Noth kommt das theure Brot...

Die Kartoffeln waren meist schon im Januar aufgezehrt...

Nun hat Gott durch die Liebe reichen Segen gegeben, ...und die Preise fangen an zu fallen.“

 

1847 war eine  Mißernte, die große Teuerung brachte und eine Hungersnot auslöste. Ein Bericht von Gottlieb Krüger aus Meltendorf: „Bettler waren täglich zehn bis zwanzig in unserem Orte, das Volk wurde dazumal aufgehetzt, der König sei daran schuld mit seiner Regierung, und man verlangte Freiheit. Der König trat seine Regierung dann auch an das Volk ab und behielt sich nur die Militärmacht vor, um die Bürger im Lande und außerhalb bei Unruhen zu schützen. Er zog alle Männer, die Soldat gewesen waren, bis zum 46. Lebensjahre ein und brachte sie von den Städten auf das Land. Wir hatten 8 Wochen lang 6 Mann, die waren aus Finsterwalde, wußten nicht woher und wohin, alle mit Verpflegung, und wir hatten selbst wenig zu essen. Nun fand die erste Wahl statt, für meine Heimat Meltendorf war Wahlort Seehausen. An einem Tag wurde man mit der Wahl nicht fertig, es wurden alle Wähler auf einen Leiterwagen geladen, und alles war ein Jubel, daß das Volk die Freiheit hatte. Die Wähler wählten Wahlmänner, und diese wählten die Abgeordneten zum Landtag. Es wurde gewählt Landrat von Kleist für den Kreis Schweinitz, und Landrat von Jagow für den Kreis Wittenberg. Der König rief den Landtag zusammen, die bisherigen Gesetze wurden geprüft, und neue Gesetze wurden ausgebaut. Das erste Gesetz war die Jagdfreiheit, das trat am 1. Oktober 1848 in Kraft. Bisher hatte der Oberförster mit seinen Förstern und die Söhne vom Rittergutsbesitzer von Biehlau in Raßdorf die Jagd. Jetzt kamen aber die Jäger mit alten Knarren, alle konnten frei und ungehindert auf die Jagd gehen, alle die Soldat gewesen waren, Knechte, Jungens, das ging den ganzen Tag schießen, aus Zahna und Seyda, die fragten nicht nach Grenzmarken, es war Freiheit. Im Gesetz war keine Schonzeit festgesetzt, so wurde im Getreide gejagt, wir hatten einen kleinen Knecht von 17 Jahren, der hatte einen Sonntag zwei Hasen geschossen im Korn. Das ging so aber nicht, und so wurde im Jahre 1849 die Jagdfreiheit aufgehoben, die Schonzeit wieder eingeführt vom 1. Februar bis zum 1. September; Besitzer, die nicht 300 Morgen auf einer Fläche hatten, konnten die Jagd nicht ausüben, jeder Jäger mußte einen Jagdschein haben, Preis einen Taler. Nun war die Jagdfreiheit verschwunden...“ (Brachwitz,  Geschichtliche Bilder, 55.).

 

Am 18. März 1848 war in Berlin Revolution, 277 Tote wurden gezählt. Einen Tag später zieht der König Friedrich Wilhelm IV. im Schloßhof seine Mütze vor den aufgebahrten Revolutionsopfern. Das war eine Sensation!

„In Berlin hatte König Friedrich Wilhelm IV. zunächst ... nachgegeben und eine Verfassung versprochen. Zweimal zeigte er sich am 18. März der begeisterten Menge vor dem Schloß. Doch dann ließ der Kommandant der Gardetruppen, General von Prittwitz, den Platz mit dem blanken Säbel räumen. Schließlich schossen zwei Soldaten, angeblich aus Versehen: „Auf uns, auf ganz reputierliche Leute, die grüßen, wenn eine Prinzessin vorbeifährt, und die prompt ihre Steuern bezahlen!“ empörte sich der Apotheker, bei dem Fontane damals logierte.

Bis zu 10.000 Bürger, so schätzt der Berliner Historiker Rüdiger Hachtmann, errichteten nun Barrikaden... Die Bewaffnung der Aufständischen war dürftig: In ihre beiden Messing-Kanonen füllten sie mit Murmeln gefüllte Strümpfe. In der ganzen Innenstadt wurde geschossen und gefochten. Doch das Militär mußte sich am Ende zurückhalten: Von den fast 1.000 Barrikaden eroberten die Soldaten nicht einmal jede zehnte; für den Straßenkampf gegen das eigene Volk, das spürten die preußischen Generäle, waren Dragoner und Husaren ungeeignet.

Zermürbt befahl Friedrich Wilhelm IV. in der Nacht, die Truppen aus der Stadt abzuziehen, schickte seinen General von Prittwitz mit einem „überaus gnädigen Gute Nacht“ ins Bett und schrieb einen Aufruf „An meine lieben Berliner“.

Die waren allerdings nur schwer zu besänftigen. Am nächsten Morgen bahrten sie ihre Toten demonstrativ im Schloßhof auf. Als der König herauskam, brüllte die Menge „Hut ab“. Totenbleich zog der Regent seine Feldmütze, dann wollte er sprechen, doch die Berliner sangen ihn nieder, mit „Jesus meine Zuversicht“. (Vgl. unser Evangelisches Gesangbuch Nr. 526!). „Nun fehlt bloß noch die Guillotine“, jammerte Friedrich Wilhelms Gattin Elisabeth.

„Die Forderungen sind alle bewilligt“, versuchte der junge Fürst Lichnowsky die Berliner zu beschwichtigen, als sie ins Schloß eindringen wollten. „Ooch det Roochen?“ „Ja, auch das Rauchen.“ „Ooch im Dierjarten?“ „Ja, auch im Tiergarten darf geraucht werden, meine Herren.“ Da schlug die Stimmung um, und die Menschen gingen friedlich nach Hause.

Nie zuvor hatte ein deutscher Monarch eine so tiefe Demütigung erlebt wie Friedrich Wilhelm IV. auf seinem Schloßhof. Sein Bruder Wilhelm, der die Aufständischen niederschießen wollte und deswegen als „Kartätschenprinz“ in die Geschichte einging, floh sogar nach London. (Er wurde später Kaiser!).

Der 19. März war der große Siegestag der Aufständischen. Das reaktionäre Preußen schien in die Knie gezwungen. Er wolle, verkündete der Monarch nun auf einmal, „Deutschlands Freiheit“ und „Deutschlands Einigkeit“. Mit einer Armbinde in den Farben der Revolution, Schwarz-Rot-Gold, ritt der preußische König durch die Stadt. „Der Jubel“, berichtete der österreichische Gesandte, „war unbeschreiblich“.

Für seine Untertanen hatte der Monarch jedoch nur Verachtung übrig: „Das Volk ist mir zum Kotzen.“

 

Den Einsatz von Gewalt gegen die Obrigkeit haben die Deutschen kaum je gewagt. Der Sinn für Ordnung ging selbst während der Berliner Barrikadenkämpfe nicht verloren. Man solle die Laternen nicht zerschlagen, sondern lieber den Gashahn zudrehen, mahnte einer der Rebellen seine Kameraden, die sich in der Dunkelheit verbergen wollten: „Wir müssen bezahlen, was zerstört ist.“

 

Am 18. September 1848 wird der Volksaufstand in Frankfurt am Main durch preußische und österreichische Truppen niedergeschlagen.

„Preußische Truppen unterdrückten die Revolution auch in anderen Teilen Deutschlands. Badisches Wiegenlied: „Mein Kind, schlaf leis! Dort draußen geht der Preuß. Deinen Vater hat er umgebracht, Deine Mutter hat er arm gemacht. Und wer nicht schläft in stiller Ruh, Dem drückt der Preuß die Augen zu.“

 

Am 10. November besetzt General von Wrangel Berlin mit 40.000 Soldaten. Der König löst am 5. Dezember die Preußische Nationalversammlung auf und oktroyiert Preußen eine Verfassung nach seinem Willen.

Im März des folgenden Jahres verkündet die Frankfurter Nationalversammlung die Reichsverfassung und wählt Friedrich Wilhelm IV. zum „Kaiser der Deutschen“. Am 3. April lehnt der preußische König diese Kaiserkrone ab. Vom 4. bis 9. Mai toben in Dresden Straßenkämpfe.

 

Doch die Veränderungen lassen sich nicht völlig aufhalten. Die ersten Wahlen finden 1848 statt! In Preußen durften alle Berufsgruppen wählen, aber es gab ein Dreiklassenwahlrecht. Je nach Steueraufkommen hatte die Stimme mehr oder weniger Wirkung. Sollte denn ein Knecht genauso Macht über den Staat haben wie ein Gutsbesitzer? Auch für Frauen gab es noch kein Wahlrecht. Erst langsam brach sich die Demokratie Bahn. Das drückte sich auch in der Mode aus: „Wilde Bärte suggerierten Mannesmut und Rebellenstolz, der verwegene Kalabreserhut ersetzte den Zylinder des Spießbürgers und der schwarze Leibrock die Militäruniform.“

 „Wesentliche Elemente unseres Gemeinwesens, die Garantie von Grundrechten, der Parlamentarismus, die demokratische Legitimation politischen Handelns, gehen auf 1848 zurück.“ (Lothar Gall, Historiker, im Interview; Zitate aus: DER SPIEGEL Nr. 7/1998 vom 9.2.98, Leitartikel; mit Bildern!).

 

Wenn sich auch der Superintendent Jakobi hier wie viele andere Kirchenvertreter vehement gegen das Neue, insbesondere seine Auswüchse, stemmen, so kann man doch sagen, dass grundlegende Ideen auch der Revolution aus dem Glaubensschatz der Kirche kommen. Dazu gehören die Unantastbarkeit der Würde eines jeden Menschen (1 Mose 1,27: „Gott schuf den Menschen zu seinem Bilde, zum Bilde Gottes schuf er ihn...“), der Grundsatz „Kein Ansehen der Person“ (Jak 2) genauso wie das Recht, selber zu denken und Autoritäten in Frage zu stellen, was sich insbesondere in der lutherischen Reformation ausgeprägt hat (Luther vor Kaiser und Reich: „Wenn ich nicht durch die Heilige Schrift und meinen Verstand überzeugt werde, so will ich nicht widerrufen. Ich stehe hier, ich kann nicht anders, Gott helfe mir, Amen.“).

 

1848 war auch das Jahr, in dem auf dem Wittenberger Kirchentag im September Johann Hinrich Wichern eine Stehgreifrede hielt: Sein Ziel: „...die aus der Sünde und ihren Folgen hervorgehenden einzelnen Notstände des Volkes durch das Wort Christi und die Handreichung brüderlicher Liebe zu heben. Die Gesamtheit dieser verborgenen, allmählich heraufgewachsenen, christlich rettenden Bestrebungen ist uns die innere Mission...“ (Johann Hinrich Wichern: Denkschrift über die Innere Mission, 1849; in: Kirchen- und Theologiegeschichte in Quellen IV,1).

Das Hilfswerk der Evangelischen Kirche wurde gegründet, die „Innere Mission“, später „Diakonie“, die auch in Seyda große Spuren hinterlassen hat. Davon wird noch die Rede sein.

Die Nächstenliebe hat in der Kirchengemeinde in keiner Zeit gefehlt. Im 16. und 17. Jahrhundert gab es den „Gotteskasten“ oder „Kirchenkasten“, eine Sammlung im Gottesdienst, womit  Bedürftige unterstützt worden sind. Auch von „Liebessteuer“ und „Liebesopfer“ war schon bei den großen Bränden die Rede. Reiche Leute gaben Stiftungen. Eine bekannte Stiftung in Seyda war zum Beispiel die „Thiemsche Stiftung“:

 „Die Thiemsche Stiftung wurde von einem wohlhabenden Seydaer Bürger namens Thieme gegründet. Er soll um 1800 im Amtshaus gewohnt haben. Nach seinem Tode hat er sein gesamtes Vermögen der Stadt für wohltätige Zwecke zur Verfügung gestellt. Viele alte und arme Bürger erhielten aus dieser Stiftung finanzielle Zuwendungen, da es zu dieser Zeit noch keinen gesetzlichen Rentenanspruch gab. Eine Gedenksäule mit der Inschrift Maria Dorthee Thieme steht heute noch auf dem Seydaer Friedhof.“

(HK 1/1995, 7, Bärbel Schiepel. Die Stiftung ist durch die Inflationszeit in den 20er Jahren des 20. Jahrhunderts wertlos geworden. An die Familie Thieme erinnert noch ein großer Grabstein auf dem Friedhof. Auf einer Säule ist geschrieben: „Glaube! Hoffe! Liebe!“, und im unteren Teil findet sich ein Schmetterling als Zeichen für das ganz neue Leben, was Christus schenkt. Er wird von einer Schlange, die sich in den Schwanz beißt, eingerahmt, Zeichen für das Böse, dem der Schmetterling entflieht. Der Stein ist für Frau Marie Dorothea Thieme gesetzt worden.).

 

In Seyda, Lüttchenseyda und in Mellnitz gab es ein  „Armenhaus“ für bedürftige Familien. Das Kirchenbuch berichtet ausführlich über das „Armenkassenwesen“:

„Armenkassenwesen des Dorfes Schadewalde

Ad Acta

Nach dem ich mit dem Antrage des alten Hirten Gresse aus Schadewalde vom 14. des Monats den Amtsrichter Krüger bekannt gemacht hatte, gestand derselbe die Bedürftigkeit des Gresse zu, war jedoch nicht dafür, daß demselben ein wöchentlicher Unterhalt aus der Armenkasse gereicht werde, sondern versprach vielmehr, die Gemeinde dahin zu stimmen, daß dem Sohne des pp. Gresse von der Gemeinde für den Unterhalt des Vaters eine angemessene Scheffelzahl Korn zugelegt werde zu dessen Hirtengehalte. Hierauf erschien heute der Richter Krüger freiwillig und erklärte sich dahin: Ich habe der Gemeinde den Antrag des pp. Gresse vom 14. des Monats bekannt gemacht, und dieselbe ist gestern in ihrer Versammlung dahin übereingekommen, daß die Armenkasse durch Verleihung von Armengeld an den pp. Gresse nicht soll angegriffen werden, sondern die Gemeinde will aus eigenen Mitteln dem pp. Gresse ein wöchentliches Armengeld verabreichen in der Art, daß der pp. Gresse sich wöchentlich von jedem Hüfner und den Kossäthen der Reihe nach ein Almosen von 1 Silbergroschen 3 Pfennigen abholen solle, und soll demselben, wie im vorigen Jahre, so auch in Zukunft, solange er es gereichen kann, die Hut der Märzschafe, die ihm besonders noch nach der Stückzahl gelohnet wird, anvertrauet werden. Seyda, den 22. Mai 1839

gez. Stich“.

1835 und 1839 wird dokumentiert, wie die Einnahmen aus öffentlichen Lustbarkeiten (von den Jugend-Fastnachten und von der Gemeinde bei der Grenzbeziehung mit Meltendorf und Zalmsdorf sowie von Tanzvergnügen) der Armenkasse zukommen.

„1841 wird festgestellt, daß nicht alle Hüfner und Kossäthen von Schadewalde dem Hirten Gresse Almosen geben.

1841 stellt Witwe Balzer Antrag auf Unterstützung aus der Armenkasse. Dem Antrag wird nicht stattgegeben, da sie sich noch selbst ernähren könne durch Handarbeiten usw.. Geld für ein ihr gestohlenes Fahrrad wird dagegen bereitgestellt.

1841 wird beschlossen, dem Hutmann Gresse reihum Mittagessen in Schadewalde zu geben. Er erhält ebenfalls 10 Wochen á 5 Silbergroschen.

1856: Einnahmen für Musik von den beiden Wirtschaften Schinkel und Höhne: 1 Reichtstaler, 10 Silbergroschen“

 (Seydaer Kirchenarchiv, Findbuch 822).

 

In der Frankfurter Reichsverfassung von 1849 wurden einige Grundsätze auch über das Verhältnis von Staat und Kirche gesetzt. In Artikel V, § 144 heißt es: „Jeder Deutsche hat voll Glaubens- und Gewissensfreiheit. Niemand ist verpflichtet, seine religiöse Überzeugung zu offenbaren.“ Und auch das war neu: § 153: „Das Unterrichts- und Erziehungswesen steht unter der Oberaufsicht des Staates und ist, abgesehen vom Religionsunterricht, der Beaufsichtigung der Geistlichkeit als solcher enthoben.“

Bis dahin war die Schule im wesentlichen eine Sache, um die sich die Kirche zu kümmern hatte - und es blieb auch in weiten Teilen doch noch so bis 1918; der Superintendent blieb Kreisschulaufsicht. So finden sich im Pfarrarchiv reichlich Schulakten.

 

1815 gibt es in Seyda eine Kinder- und Mädchenschulmeisterstelle: auch die Mädchen wurden (seit 1719 schon) unterrichtet! Eine neue Schule wird gebaut, doch es ist ein langer Weg bis dorthin: Ein Antrag vom 8. Mai 1817 beschreibt, dass der Unterricht  im Diakonat (Kirchplatz 2!) abgehalten wird, das seien unhaltbare Zustände wegen der Enge im Haus. Die „Stadt Seyda den 8. May 1817: An die Königl. Preußische Hochlöbl. Regierung Erste Abtheilung in Merseburg“: Die Parochie Seyda bittet um gnädige Unterstützung zu dem Bau eines neuen Schulhauses. „Unsere durch diese uns erwiesene Wohlthat neue entstandene Schule... würde uns und unseren Kindern stets ein rührendes Denkmahl der Gnade unsers Allverehrten Königs und eine bleibende Erquickung zur innigsten Dankbarkeit gegen die Hohen Beförderer unsres so zeitlichen als ewigen Wohles seyn. Wir unterzeichnen das in schuldiger Ehrfurcht: Die Parochie Seyda“. (Parochie heißt Pfarrei, Kirchenbezirk).

Herr Superintendent M. Camenz, „Hochehrwürden zu Seyda“, erhält Antwort vom Landrat des Kreises Schweinitz aus Herzberg am 9. Dezember 1817. Jedoch sind noch mehrere Anträge nötig. Am 13. November 1819 schließlich schreibt der Landrat an den Superintendenten: "Nun wird doch wohl dieser nothwendige Bau im Frühjahr 1820 seinen Anfang nehmen können."

Es werden Anträge für Lieferung von Bauholz aus den Königlichen Forsten gestellt, immer wieder wird um finanzielle Unterstützung für den Schulbau gebeten. Endlich werden am 13. Juli 1821 500 Thaler für den Seydaer Schulhausbau vom Landrat des Schweinitzer Kreises bewilligt. Der Abschlußbericht des Superintendenten Camenz über den Neubau ist vom 15. Mai 1822. (Seydaer Kirchenarchiv, Findbuch 928).

 

Regelmäßig wird natürlich gezählt: So am 3. Juni 1841:

„Die Knabenschule zählt gegenwärtig 174 Schüler, davon gehören 72 der Vormittagsschule und 102 der Nachmittagsklasse an. Die Mädchenschule hat 150 Schülerinnen, davon früh 65, nachmittags 85 Kinder.“

(Seydaer Kirchenarchiv, Findbuch 998).

 

Über die Verhältnisse in der Schule berichtet zum Beispiel ein Schreiben des Diakonen Stich an den Schulmeister Kramen vorm 18. Januar 1842: 185 Knaben und 162 Mädchen besuchen die Seydaer Schule. Es wird Schulgeld für jedes Kind gezahlt, davon erhält der (neue) dritte Lehrer auch seinen Teil. Der Kantor gibt den anderen Lehrern von seinem Gehalte ab. 1 Klafter Kiefernscheit und Knüppelholz aus der Königlichen Forst, 10 Reichtstaler Mietentschädigung von der Gemeinde, 4 Scheffel Roggen Seydaer Maß von der Gemeinde Mellnitz, ebensoviel von der Gemeinde Morxdorf, das sind 8 Taler, 20 Brote aus Mellnitz á 5 Silbergroschen, das sind 3 Reichtaler 10 Silbergroschen, 12 Brote aus Morxdorf á 5 Silbergroschen, das sind 2 Reichstaler, Brotgeld aus Mellnitz und Morxdorf, 10 Mandeln Eier aus Mellnitz und Morxdorf á 2 Silbergroschen, 6 Pfennige = 25 Silbergroschen, Accidenzien 4 Reichstaler. Das ergibt ein Gehalt von etwa 132 Reichstalern.“ 

Als Küster von Mellnitz und Morxdorf hat der 3. Lehrer den Diakon allsonntäglich zu Fuß nach Mellnitz und Morxdorf zu begleiten und dort als Kantor und Küster zu fungieren. Die Filialreisen müssen, sobald in der Stadtkirche Kommunion (Abendmahl) gehalten wird, des morgens schon nach 5 Uhr angetreten werden, was im Winter namentlich schwer ist. Eine Orgel ist in keiner der Kirchen, es singen aber beide Gemeinden „sehr brav“. Zu allen anderen Amtsverrichtungen hat die Gemeinde die Verpflichtung, den Geistlichen und Küster per Wagen abzuholen und zurückzubringen. „Bei Leichen indes, welche tags zuvor beläutet werden, holt die Gemeinde zu diesem Geschäft den Küster nicht, und muß derselbe auch das Läuten lohnen, wenn er vom Sterbehause aus die Leiche auf den Gottesacher singend brächte.“ Dass so oft der hiesige Diakonus, welcher zugleich Pfarrer von Mellnitz und Morxdorf ist, behindert ist, auf den Dörfern Gottesdienst zu halten, der Küster dieser Ortschaften denselben dann zu übernehmen hat, versteht sich von selbst. (Seydaer Kirchenarchiv, Findbuch 932. Einen Lektionsplan der Mädchenschule und auch einer der Knabenschule zu Seyda 1841 ist dort auch zu finden.).

 

Für die Turmkugel 1854 wird über die Schule geschrieben: „...Die Schule besteht aus 3 Klassen mit getheiltem Unterricht. Eine vierte Klasse hat sich längst schon nötig gemacht, doch fehlts“ an Mitteln dazu.
Lehrer sind hier: Kantor Wartenberg, Mädchenlehrer Gothe, Küster und Elementarlehrer Andrag.“

 

Im Jahre 1854 bekam der Kirchturm seine jetzige Gestalt, weswegen wir die Dokumente aus dieser Zeit alle in der Turmkugel haben. Baumeister Dalichow aus Jüterbog baut den Turm nebst einer in Massivbau auszuführenden Vorhalle.

Am 1. August schreibt Superintendent Jakobi für die Turmkugel: „In der Osterwoche 1854 wurde mit Abtragung des Thurmes, der Bedachung und obersten Etage vorgegangen. Da fand sichs, daß vom Holzwerk fast gar nichts (oder ¼) mehr brauchbar und ein Reparaturbau kaum ausführbar war. Es mußte daher zum Neubau des Thurmes, Ausbau des Theils der Kirche vor dem Thurm aufgestanden und Umdeckung des Kirchdaches geschritten werden...“

In dem Jahr wurde auch die alte Orgel wiederhergestellt, die Uhr bekam neue Zifferblätter. 700 der 3.050 Mark tragen die Gemeinden Seyda, Lüttchenseyda und Schadewalde, so jedoch, dass 300 Mark später wieder zurückgezahlt werden.

„Zu Ende 1854 war der Thurmbau unter Gottes Hülfe und Schutz soweit vorgerückt, daß der Knopf mit neuer Fahne den 14. August aufgesetzt werden konnte. Der Knopf war durch freiwillige Beiträge von Gemeindegliedern vergoldet worden zur Zierde des Städtchens und zum Lob der Bewohner, die in dieser drückenden Zeit und bei Armuth doch willig ihr Schärflein gebracht haben; doch haben viele, die recht gut gekonnt, keinen Heller gegeben, viele sehr wenig.“

 

An der Kirche steht der Superintendent als Pfarrer und ein Diakonus, welcher Pfarrer zugleich in Mellnitz und Morxdorf ist. Mit seinem Antritt hier anfangs des Jahres 1852 besorgt der Superintendent auch die liturgischen Funktionen beim Gottesdienst, welche bis dahin dem Diaconus oblagen.“

 

Um das Jahr 1860 wurde das „Nachtwächterhaus“ gebaut (heute: Jüterboger Straße 39), eines der schönsten Häuser in Seyda. Den Putz mit den Herzchen erhielt das Haus kurz vor der Hochzeit des Maurermeisters Schwarzer im Mai 1932, dessen Frau bis zum Ende des 20. Jahrhunderts in dem Haus wohnte.

Nachtwächter sind im Kirchenbuch für 1723, 1737 (sogar drei), 1772, 1784, 1812, 1820 bis 1822, 1856 bis 1866 und - für Schadewalde - 1895 belegt.

 

Ein ausführliches Quellen- und Literaturverzeichnis findet sich am Ende des letzten Bandes.

 

 

 

 

 

 

 

 

Die

Geschichte

der

Kirche

in

Seyda.

 

 

 

5. Die Kaiserzeit (1871-1918)