Die

Geschichte

der

Kirche

in

Seyda.

5. Die Kaiserzeit (1871-1918)

Durch das Bündnis mit Napoleon hatte Sachsen nach den Befreiungskriegen große Gebietsteile abtreten müssen. Dazu gehörte auch das Amt Seyda, was seit 1816 zur neugegründeten preußischen „Provinz Sachsen“ gehörte und aufgelöst wurde. Noch lange hielten sich die Widerstände gegen Preußen, man wollte wieder zu Sachsen zurück. Jedoch ging die Zeit über diesen Wunsch hinweg. Die Reichseinigung 1871 tat ihr übriges, man war nun Deutscher, und der preußische König war Kaiser für alle. Ein langer Traum war damit in Erfüllung gegangen: Keine Grenzen, keine Kriege mehr innerhalb Deutschlands! Noch 1866 kämpften auch Seydaer  in der „Schlacht bei Langensalza“ (Preußen siegen gegen Hannoveraner). Danach brach eine Cholera in Seyda aus, durch mitgebrachte Krankheitserreger.

 

Der gewonnene Krieg gegen Frankreich 1870/71 stärkte das Nationalempfinden. Nun gab es endlich ein einiges Deutschland! Am 25. April 1871 wurden auf dem Marktplatz in Seyda zwei Linden gepflanzt, die nördliche: die Kaiser-Linde, die südliche: die Friedenslinde. Beide wurden von dem Kaufmann Gustav Knade geschenkt.

„Mit der in den siebziger Jahren des 19. Jahrhunderts einsetzenden Gründerzeit und den nachfolgenden Jahren des 20. Jahrhunderts nahm auch Seyda einen kleinen wirtschaftlichen Aufschwung. Ab 1885 kamen durch die Einführung von Schutzzöllen bessere Zeiten für die Einwohner, die Industrie hob sich, und die Landwirtschaft erholte sich. Gegen Ende des 19. Jahrhunderts, mit dem Aufkommen von Maschinen und der Errichtung zweier Sägemühlen in der Stadt, hatte sich eine Industrie in bescheidenem Umfang entwickeln können. An handwerklichen Betrieben dominierten die holzverarbeitenden wie Tischlereien, Stellmachereien, Böttchereien.“ (Heimatbuch 52).

Deutschland wurde ein Industriestaat. Durch die fünf Milliarden Franc französische Kriegskontributionen konnte viel investiert werden. Deshalb bezeichnet man die Jahre 1871 bis 1873 auch als die Gründerjahre. Das „Stahlzeitalter“ begann, in den 80iger Jahren löste der Elektromotor die Dampfmaschine ab.

In Seyda wuchs die Bevölkerung noch einmal: 1875 zählte die Stadt 1.690 Einwohner, 1880 waren es 1.683, 1885 1.794 Einwohner. Doch dann verstärkte sich die Abwanderung in die Städte kräftig, und die Bevölkerungszahl sank allmählich.

Neben den vielen Handwerksbetrieben, den 8 Gaststätten und später fünf Tankstellen in Seyda spielte die Landwirtschaft immer noch eine wichtige Rolle. In der 2. Hälfte des 19. Jahrhunderts wurde begonnen, den Boden künstlich zu düngen, und die Mechanisierung brachte Dampfpflüge, Drill- und Dreschmaschinen; die von kleineren Betrieben freilich nur ausgeliehen werden konnten. „In keinem anderen Gebiet Deutschlands war die Mechanisierung so weit fortgeschritten wie hier“, in der Provinz Sachsen. (G III 20).

 

Der „preußische Geist“ wurde zu einer Sache aller Deutschen. Die Sekundärtugenden wurden von Kindesbeinen anerzogen: Fleiß, Pünktlichkeit, Bescheidenheit. Ihre Ausübung schuf durch ein Heer von Arbeitern großen materiellen Reichtum. Ausdruck findet dieser „Geist“ auch in den Chorälen, wie zum Beispiel in diesem:

„Gib, daß ich tu mit Fleiß, was mir zu tun gebühret, wozu mich dein Befehl in meinem Stande führet. Gib, daß ich´s tue bald, zu der Zeit, da ich soll, und wenn ich´s tu so gib, daß es gerate wohl!“

(Evangelisches Gesangbuch Nr. 495, 2. Strophe; vgl. Sebastian Haffner: Preußen ohne Legende, Hamburg 1978, S. 81, bei Christian Graf von Krockow, Der deutsche Niedergang, Stuttgart 1998, S. 32.).

Freilich hatte dieser preußische Sinn auch seine Pervertierung im „bedingungslosen Gehorsam“, der Deutschland später in den Abgrund geführt hat. In dem genannten Choral soll da ein Riegel vorgeschoben werden:

„O Gott, du frommer Gott, du Brunnquell guter Gaben,

ohn den nichts ist, was ist, von dem wir alles haben:
gesunden Leib gib mir und daß in solchem Leib ein unverletzte Seel und rein Gewissen bleib.“
(1. Strophe, aaO).

Der Leitspruch der preußischen Könige, soweit sie fromm waren, hieß: „Die auf den Herren harren, kriegen neue Kraft, dass sie auffahren mit Flügeln wie Adler, dass sie laufen und nicht müde werden, dass sie wandeln und nicht matt werden.“ (Aus der Bibel, Jes 40,31).

Daher kommt das preußische Wappen, der Adler, der später zum Reichs- und Bundesadler wurde und auch heute (noch!) auf unseren Münzen zu sehen ist.

 

Die Schwarz-Weiß-Rote Flagge war seit 1876 auf Betreiben Bismarcks Nationalfahne, schwarz-weiß für Preußen und rot-weiß für Brandenburg und viele Städte (auch Seyda).

 

Seyda sah damals ganz anders aus: Die Wege waren noch nicht gepflastert. „Das Stadtbild erhielt in früheren Jahrzehnten sein Gepräge durch die zum Teil recht stattlichen Birnbäume auf dem Markt, in der Jüterboger, Zahnaer, Neuen und Triftstraße. Diese Bäume verschwanden gelegentlich der Straßenpflasterung um die Jahrhundertwende.“ (Brachwitz, aus HK 5/1996, S. 4).

Die Neue Straße war tatsächlich die Neue Straße: dort war die Stadt zuende. Die Häuser waren zumeist Fachwerkhäuser, aus Lehm gebaut, mit dem Giebel zur Straße. Auf der Straße standen Pumpen, das Abwasser floß auch die Straße herunter. Viel mehr wohnten in einem Haus, in einem Zimmer, als heute! Typisch waren kleine Handwerksbetriebe mit Landwirtschaft im Nebenerwerb.

Der schwarze Storch, der seit mehreren Jahren im Jagen 112 der fiskalischen Forst bei Seyda nistete, stellte sich auf 1880 wieder ein.

(Schweinitzer Kreisblatt 13.8.38, Vor rund 60 Jahren.).

 

Der wirtschaftliche Aufschwung hatte Auswirkungen auf unsere Stadt. Zwischen 1874 und 1881 wurden in Preußen 6.000 neue Schulen gebaut. (G III, 35).

Auch in Seyda, im Jahre 1881. Genau 99 Jahre hat das Gebäude als Schule gedient, nun ist es Kindertagesstätte. Ein Drittel der Kosten trug damals die Kirchengemeinde, ein Zeichen dafür, wie eng Stadt und Kirche miteinander verbunden waren. Über der Tür in dem noch heute gut zu sehenden gemauerten Kasten stand bis zur Hitlerzeit in goldenen Buchstaben: „Marc 10,14.“ Im Markusevangelium Kapitel 10 Vers 14 sagt Jesus: „Lasst die Kinder zu mir kommen und wehret ihnen nicht, denn solchen gehört das Reich Gottes!“

Zwar lag in Preußen seit 1872 die Schulaufsicht beim Staat, das änderte in Seyda aber nichts daran, dass der Superintendent weiter „Kreisschulinspektor“ und der Pfarrer „Ortsschulinspektor“ blieben. Deshalb findet man im Kirchenarchiv auch für diese Zeit viele Dokumente zur Schule.

„Das Schulhaus ist 1881 auf dem früher Wäsch´schen Grundstücke erbaut für rund 27.000 M, wovon die Kirche 1/3 getragen hat; für dieselbe ist eine Küster-Dienstwohnung mit eingebaut, außerdem 6 Schulklassen, die eine dient als Schulsaal, in einer andern ist das „Heimatmuseum“ untergebracht, welches 1908-10 von den Herren Pfarrer Heinecke, Lehrer Fueß und Lehrer Brachwitz gegründet worden ist. Das alte Schulhaus wurde 1882 abgebrochen, und die Grundfläche nebst dazu gehörigen Küstergarten wurde dem Diakonate zugeteilt.“

(Gerhardt in Heimatbote vom 8.7.1927)

Die alte Schule stand also in dem heutigen Garten zwischen dem Haus Kirchplatz 2 und der Schulstraße.

Aus dem Kirchenarchiv:

Schulaufsicht 1895 - 1905

April 1899

Klasse I a

44 Knaben, davon Seyda 40, Mellnitz 3, Schadewalde 1

Klasse I b

38 Mädchen, davon Seyda 34, Mellnitz 1, Schadewalde 3

Klasse II a

54 Knaben, davon Seyda 47, Mellnitz 4, Schadewalde 3

Klasse II b

44 Mädchen, davon Seyda 42, Mellnitz -, Schadewalde 2

Klasse III

24 Knaben, davon Seyda 19,Mellnitz 3, Schadewalde 2

16 Mädchen, davon Seyda 15, Mellnitz 1, Schadewalde -

Klasse IV

27 Knaben, davon Seyda 24, Mellnitz 2, Schadewalde 1

20 Mädchen, davon Seyda 18, Mellnitz -, Schadewalde 2

gesamt:

267, davon Seyda 239, Mellnitz 14, Schadewalde 14

davon Seyda 130 Knaben, Mellnitz 12 Knaben, Schadewalde 7 Knaben

davon Seyda 109 Mädchen, Mellnitz 2 Mädchen, Schadewalde 7 Mädchen

 

Vom Kaiser wurde festgelegt, dass das neue Jahrhundert mit dem Jahr 1900 beginnt! Dazu kam eine Dienstanweisung aus Merseburg „Über die würdige Begehung des Jahrhundertwechsels an den Schulen“:

" Mit allerhöchster Ermächtigung bestimme ich hierauf Folgendes:

In allen Lehr- und Erziehungsanstalten ist am letzten Schultage vor den bevorstehenden Weihnachtsferien Schülern und Schülerinnen in einem festlichen Akte unter Hinweis auf die Bedeutsamkeit der nächsten Jahreswende ein Rückblick auf die großen Ereignisse des zu Ende gehenden Jahrhunderts zu geben und ihnen zum Bewußtsein zu bringen, wie es Pflicht des heranwachsenden Geschlechtes sei, mit Dank gegen Gott das von den Vätern überkommene Erbe in Treue zu bewahren und fördern zu helfen. ... Die den besonderen örtlichen Verhältnissen angemessene Ausgestaltung der Feierlichkeit im Einzelnen bleibt den Schulleitern überlassen.

Berlin, den 13. Dezember 1899

Der Minister der geistlichen, Unterrichts- und Medizinal-Angelegenheiten

gez. Studt“

 

Wie eng Kirche und Schule verbunden waren, zeigt auch die Feier zur Schulentlassung im Jahr 1900:

„Gesang: "Ich habe nun den Grund gefunden" V. 1-3 (Evangelisches Gesangbuch Nr. 354: 1. Ich habe nun den Grund gefunden, der meinen Anker ewig hält; wo anders als in Jesu Wunden? Da lag er vor der Zeit der Welt, der Grund, der unbeweglich steht, wenn Erd und Himmel untergeht. 2. Es ist das ewige Erbarmen, das alles Denken übersteigt; es sind die offnen Liebesarme des, der sich zu den Sündern neigt, dem allemal das Herze bricht, wir kommen oder kommen nicht. 3. Wir sollen nicht verloren werden, Gott will, uns soll geholfen sein; deswegen kam der Sohn auf Erden und nahm hernach den Himmel ein, deswegen klopft er für und für so stark an unsers Herzens Tür.)

(Biblische) Schriftverlesung und Gebet

Gesang: "Ich will dich lieben, mein Meister" V. 1-2

Deklamation:

Mädchen: "Wenn du noch eine Mutter hast"

Knaben: "Wenn du noch einen Vater hast", "Das Vaterhaus"

Gesang: "Ich will dich lieben", V. 6-7

Ansprache des Lehrers

Gesang: "Ich will dich lieben", V. 8

Vaterunser und Segenswunsch

Gesang: "Ach, bleib mit deiner Treue" (Evangelisches Gesangbuch Nr. 347: Ach, bleib mit Deiner Treue bei uns, mein Herr und Gott, Beständigkeit verleihe, hilf uns aus aller Not.).“

 

Auch über die Lehrer geben die Akten (des Kirchenarchivs!) Auskunft:

Lehrerdiensteinkommen 1900 (Jahresgehalt)

„Fiebler, Friedrich Franz, geb. 18.5.1840, erster Mädchen- und Hauptlehrer, Küster

Dienstalter 40 Jahre, Grundgehalt 1.450 M, Mietzuschuß 140 M, Alterszulage 1.080 M,

zusammen 2.670 M,

Wagner, Friedrich Ernst, geb. 13.10.1840, erster Knabenlehrer und Kantor

Dienstalter 11 1/2 Jahre, Grundgehalt 1.300 M, Mietzuschuß 120 M, Alterszulage 240 M, zusammen 1.660 M

Träger, Max Hugo, geb. 26.6.1863, zweiter Mädchenlehrer und Küster in Mellnitz

Dienstalter 16 1/2 Jahre, Grundgehalt 1.150 M, Mietzuschuß 120 M, Alterszulage 480 M,

zusammen 1.750 M

Döhring, Franz Friedrich, geb. 26.2.1863, zweiter Knabenlehrer

Dienstalter 14 !/2 Jahre, Grundgehalt 1.000 M, Mietzuschuß 120 M, Alterszulage 360 M,

zusammen 1.480 M

Teichler, Hugo Wilhelm, geb. 26.5.1878, 5. Lehrer

Dienstalter 1 Jahr, Grundgehalt 1.000 M, Mietzuschuß 120 M

zusammen 1.120 M“

 

Was die Kinder lernten und die Lehrer leisteten, wird vom Superintendenten und Pfarrer genau überprüft:

„Bericht über die Schulrevision am 11.10.1900 in Seyda

an die Königliche Kreisschulinspektion in Zahna

1. Knabenklasse

Der Lehrer Wagner hat in der ihm anvertrauten Klasse mit Fleiß und gutem Lehrgeschick gearbeitet. Besonders anzuerkennen ist die gute Schulzucht und die ... gleichmäßige Ausbildung ...  Schüler. In der Religionssache besitzen die Kinder meistens gute Kenntnisse.

" ..." (ein Gedicht) wird mit guter Betonung vorgetragen, auch wissen die Schüler über den Inhalt des Gedichtes befriedigend Auskunft zu geben.

Die Leistungen in Raumlehre, Naturkunde und Geschichte, Geografie, Singen und Schreiben sind befriedigend.

Das Zeichnen ist ebenfalls mit Fleiß betrieben, aber es wird ausschließlich nach Vorlagen gearbeitet und zwar werden meistens Handschriften zur Vorstellung gebracht. Es müssen mehr die Anforderungen des bürgerlichen Lebens berücksichtigt, fleißig nach Körpern und auch Ornamenten gezeichnet werden. Wir verweisen hierbei auf die weiteren mündlichen Ausführungen des Revisors.

Es sind für den Zeichenunterricht ... zu beschaffen.

 

1. Mädchenklasse

Diese steht in ihren Leistungen weit hinter der ersten Knabenklasse zurück. Am meisten zu rügen ist das leise und durchaus ungeübte Sprechen der Kinder. Der Hauptlehrer Fiebler scheint nicht träge zu sein, aber es fehlt ihm an Lehrgeschick und Lehrtemperament. Er ist sehr behäbig und in derselben Behäbigkeit und Eintönigkeit spinnt sich auch der Faden seines Unterrichtes ab.

Bei der Prüfung in der Religion melden sich nur wenige Mädchen zum Antworten, die unterrichtliche Behandlung ist mechanisch und oberflächlich.

Im Rechnen ist wenig Übung und Sicherheit vorhanden. Die 2. Abteilung ist nicht einmal im Stande, eine 7stellige Zahl zu lesen. Bei einem auf der Tafel auszurechnenden Divisionsbeispiel mit 2stelligem Divisor versagen die Schülerinnen gänzlich.

Deutsch: die Lehrfertigkeit ist im Ganzen befriedigend. Bei Besprechung eines Lehrfachs zeigen sich die Mädchen sehr ungeschickt und im Sprechen wenig geübt.

Die Kenntnisse in Naturkunde sind dürftig, in Geografie ungenügend.

Der Gesang ist ziemlich befriedigend.

Im Zeichnen müßte mehr geleistet werden, übrigens ist das in Bezug auf das Zeichnen der 1. Knabenklasse gesagte auch hier zu berücksichtigen. Die Handschriften sind im Ganzen befriedigend. Es ist dafür Sorge zu tragen, daß bei dem Unterricht in weiblichen Handarbeiten feine Nadelarbeiten nicht angefertigt werden.

 

2. Knabenklasse

Der Lehrer Döring hat ..., aber doch keineswegs in der pflichtmäßigen Weise ausgenutzt.

Die Prüfung in der biblischen Geschichte führt zu einem im ganzen befriedigenden Ergebnis. Die Leistungen im Rechnen, Geografie und Naturkunde sind ziemlich befriedigend.

Die Lehrfertigkeit ist nicht befriedigend, im Beten und Sprechen ist wenig Übung vorhanden.

In Geschichte wissen die Kinder eigentlich nichts.

Die vorgelegten Handschriften und Zeichnungen sind ziemlich befriedigend.

Wir ersuchen Sie, dem Lehrer Döhring unser rechtes Mißfallen auszusprechen und ihm mit allem Nachdruck zu fleißiger Arbeit anzuhalten.

 

Die 2. Mädchenklasse, welche von dem Lehrer Träger unterrichtet wird, befindet sich in einem durchweg befriedigenden Zustand. Der ... Lehrer hat mit ... Treue gearbeitet und seinen Schülerinnen nicht nur das nötige Wissen vermittelt, sondern auch als Erzieher in ...werter Weise auf sie eingewirkt. Die Leistungen in Religion, Deutsch, Rechnen und Singen sind befriedigend, in Geschichte und Geografie gut. Die vorgelegten Handschriften und Zeichnungen sind ziemlich befriedigend.

 

Die 3. und 4. Klasse (gemischt) mit verkürzter Unterrichtszeit sind dem Lehrer Teichler anvertraut. Der genannte hat sich Mühe gegeben, seine Schüler in angemessener Weise zu fördern, aber dennoch zeigen sich einige nicht unerhebliche Lücken. Am meisten ist dies beim Rechnen in der 4. Klasse der Fall, weshalb der Lehrer ... diesem Unterrichtsgegenstand eine ganz besondere Pflege zu Theil werden lassen muß.

Die Leistungen in den übrigen Unterrichtsfächern sind ziemlich befriedigend.

 

Der Turnunterricht (Lehrer Döhring) wird ordnungmäßig betrieben; es muß jedoch das Turnen an den Geräten fleißiger geübt werden.

 

Zur Beseitigung des starken Zuges im unteren Hausflur wollen Sie dem Schulvorstande die Anbringung von 2 beweglichen Thüren aufgeben. Beim Bau des Schulhauses ist augenscheinlich eine solche Einrichtung ins Auge gefaßt gewesen zu sein, ist dann aber später wohl in Vergessenheit gerathen. Bericht zur Sache erwarten wir innerhalb 4 Wochen.

 

Die Kreisschulinspektion

Glaser   P. und Ortsschulinspektor“

 

Aber auch außerhalb der Akten gibt es Überlieferungen:

Von 1863 bis 1903 unterrichtete in Seyda der bereits erwähnte Lehrer Fiebler. Über ihn dichteten die Kinder einen Reim, der bis heute (nach 100 Jahren!) nicht vergessen ist und viel über den Schulalltag dieser Zeit aussagt:

„Alle Menschen müssen sterben,

nur der dicke Fiebler nich.

Hosen hat er zum Erbarmen,

passen keenen Menschen nich.

Wenn die Glocke achte schlächt,

kommt der Fiebler angefecht,

mit den Rohrstock unterm Arm,

schlächt die Jungens krumm und lahm...“

 

 

 

Bis 1922 wurden in Seyda Mädchen und Jungen getrennt unterrichtet! Ein Höhepunkt des Jahres ist natürlich das Schul- (und Heimat)fest, bis heute!

„Es gibt Unstimmigkeiten über die Feier des Schulfestes 1901. In einer Lehrerkonferenz wurde von einem nicht Genannten geäußert: "Seyda mit seinem Rummel". So findet das Schulfest 1901 nach einem Beschluß des Schulvorstandes nicht statt. Statt dessen wird am 18. August eine patriotische Gedenkfeier und ein Bürgerfest gefeiert. Die Kosten dieses Festes sollen aus städtischen Mitteln bestritten werden. Die Feier selbst soll um 1 Uhr Nachmittag durch einen Aus- und Umzug in der Hauptstraße der Stadt erfolgen, den Kindern ein kleines Geschenk gereicht, sowie ihnen Bier (!) und Kuchen auf dem Festplatz verabfolgt werden. Die Beaufsichtigung der Kinder bei der Feier, die Verteilung von Kuchen, Bier und Geschenken übernehmen die Mitglieder der Stadtverordnetenversammlung.

Die Gemeinden Mellnitz und Schadewalde sollen zur Theilnahme an der Festfeier eingeladen werden. Abends findet ein Einzug in die Stadt und nach demselben ein geselliges Beisammensein der Bürgerschaft bei musikalischer Unterhaltung im Schützenhause statt. ... Die Veranstaltung dieser Feier geschieht ganz besonders aus patriotischem Antriebe zur Erinnerung an die Schlachten am 15. und 18. August 1870, um die Erinnerung jener denkwürdigen Zeiten bei der Jugend wachzuhalten.

Am Abend des 17. August soll zur Einleitung der Festfeier Zapfenstreich und am 18. August früh Reveilette („Aufweckung“) stattfinden.

Die Herren Geistlichen und Lehrer sollen zur Feier eingeladen werden.

gez. Roeder      Schulze      Schlawig    Thiele

der Magistrat  Ganzert.“

Die Zuckertüte kam übrigens erst 1910 auf, zuerst in der Magdeburger Börde. (G III, 60).

 

Auch Schulschwänzerei gab es damals schon. Bei Schulversäumnis wird Strafantrag gegen die Eltern gestellt. Ein „Formular“ muß ausgefüllt werden:

"..., daß der ... wegen Schulversäumnisses seines Sohnes mit (einer) Mark bestraft worden ist und er diese Strafe an die hiesige Schulkasse gezahlt hat."

 

Finanzielle Engpässe bei der Einstellung von Lehrer werden 1903 berichtet. Da wird auf einen Antrag zur Einstellung eines Lehrers oder Schulamtskandidaten geantwortet: "..., dass wir wegen des herrschenden Lehrermangels eine bestimmte Zusage nicht machen können."

 

Interessant ist auch die Nachfrage von Amts wegen über die Kinderarbeit, die nach Erzählungen allerdings nicht ganz wahrheitsgemäß beantwortet wurde: Viele berichten, dass sie schon früh vor der Schule und auch hinterher hart arbeiten mußten.

„Bericht über die Beschäftigung von Kindern:

Seyda, den 7. December 1904

1. Im Haushalt werden in hiesiger Stadt nur einige Kinder beschäftigt. Ihre Arbeit besteht darin, daß sie einzelne Botengänge besorgen. Hierin liegt weder für die Schule noch für ihre körperliche Entwicklung irgend eine Gefahr.

2. In den landwirtschaftlichen Betrieben werden während der Herbstferien verschiedentlich Kinder beim Kartoffelausnehmen gegen Lohn beschäftigt. Die Kinder gehen dieser Arbeit gerne nach, da sie körperlich nicht allzusehr anstrengend ist. Es ist hierin wohl kaum eine Gefahr für die Gesundheit, Sittlichkeit oder den Schulunterricht zu erblicken.

gez. Röhr

Vorstehender Beurteilung schließe ich mich an mit der Hinzufügung, daß als Grund der Kinderbeschäftigung die Bedürftigkeit der Eltern anzusehen ist.

gez. Langmass    Präger“

 

Schließlich hat der Superintendent und Oberpfarrer Glaser auch das Disziplinarrecht über die Lehrer:

Lehrer Röhr erhält einen schriftlichen Verweis am 10. März 1905 wegen Veröffentlichung eines Artikels in der "Zahnaer Zeitung" und dem "Seydaer Anzeiger":

"Wir mißbilligen in hohem Maße Ihr Verhalten, welches sich nicht mit ihrer Verehrung des Offizierstandes rechtfertigen läßt, durch das vielmehr Ihr Ansehen als Lehrer und Erzieher der Jugend stark beschädigt wird. Sie haben leider schon wiederholt sowohl in Gadegast als auch in Seyda berechtigte Klagen hervorgerufen. ... Sollten Sie unserem Verbote zuwiderhandeln, so sehen wir uns genötigt, mit den schärftsten Disziplinarmitteln gegen Sie einzuschreiten und zu erwägen, ob das Disziplinarverfahren mit dem Ziele der Dienstentlassung gegen Sie einzuleiten ist.

gez. Glaser Oberpfarrer“.

(Seydaer Kirchenarchiv, Findbuch 927).

 

Im Jahre 1881 wurde auch die Orgel in der Kirche neu gebaut. Es ist schon erstaunlich und spricht für die Zeit, dass die Kirchengemeinde sich beides, Orgel und Schule, in einem Jahr leisten konnte.

Die Orgel ist eine der Stadtkirche angemessenes Instrument eines der besten sächsischen Orgelbaumeister dieser Zeit: Conrad Geissler. Seit 1994 hat die Kirchengemeinde gute Kontakte zu einem profunden Geissler-Kenner und Orgelliebhaber, Herrn Jiri Kocourek aus Dresden. Er trug viele Informationen über diesen Orgelbauer zusammen und erfreute die Gemeinde oft mit dem Orgelmusiken. Im Sommer des Jahres 2.000 fand in Seyda eine Orgeltagung anläßlich des 175. Geburtstages von Conrad Geissler statt, in der durch das Zusammentreffen verschiedener Spezialisten erstmals alle 120 Geissler-Orgeln aufgeführt werden konnten.

Die alte Orgel sollte schon lange, seit 27 Jahren, repariert werden, es fehlten die Mittel wegen nötiger Turmsanierung (1854) und Innenrenovierung der Kirche.

Die alte Orgel:

„Seyda, den 10. März 1880

Bericht über die hiesige Kirchenorgel

Die hiesige Orgel, etwas über 150 Jahre alt, ist von mir seit dem 31. Dezember 1841 gespielt worden.

Die Disposition derselben war früher folgende:

A. Pedal: 1. Subbass 16 ´  2. Violan 8´ 3. Octavbaß  8´ .

B. Hauptmanual: (1.-9.)

C. Obermanual (1.-5.)

Im Jahre 1851 wurde von mir ihr Neubau, weil sie zur wirksamen Leitung des Gemeindegesangs zu schwach war, angeregt, und es sind zu dem Ende 3 Orgelbauanschläge von Petersilie in Langensalza, Ladegast in Weißenfels und Baumgarten in Zahna eingereicht worden.

1852 wurde der Musicdirekctor Engel aus Merseburg herberufen, die Orgel zu untersuchen und ein Gutachten darüber auszustellen, was ebenfalls nur die Unzulänglichkeit des Werks zur Leitung des Kirchengesangs bestätigte. Der Neubau unterblieb aber, weil der Thurm einen Neu- und das Innere der Kirche einen Umbau nöthig machte, wodurch das Kirchenvermögen zu sehr in Anspruch genommen wurde. Bei der Wiederaufstellung der Orgel nach dem ausgeführten Thurm- und inneren Kirchenumbau blieben die Stimmen: Mixtur, Bass- und Süfflöte weg, weil viele Pfeifen defect und nicht zur Ansprache gebraucht werden könnten.

Über die noch jetzt vorhandenen 14 Stimmen ist zu bemerken:

In den Pedalstimmen ist der große Wurm, welcher große Verwüstungen angerichtet hat, so daß nur die wenigsten Pfeifen ansprechen. In den Manualen sind die zinnernen Pfeifen von schlechtem dünnem Material, sind im Tone ganz ungleich und schwach, viele sind auch angebrochen.

Die Windladen sind zu klein und ohne gehörige Windberechnung hergestellt, daher die Abnahme der Lautstärke und die scheinbare Verstimmung, wenn das ganze Werk gespielt wird.

Das Registrierwerk ist ebenfalls in desolatem Zustande. So kommt es öfter vor, daß im Hauptmanual 3 oder 4 nebeneinanderliegende Tasten zusammen niedergehen und dadurch Harmonie und Melodie (revinieren).

Eine umfassende Reparatur würde auch Geld kosten und doch nicht alle Mängel beseitigen; deshalb erscheint es nöthig, die alte Orgel durch eine neue zu ersetzen.

Wartenberg

Cantor und Organist.“

 

In den Zeitungen wurde 1880 eine Annonce aufgegeben (so im „Schweinitzer Kreisblatt“ und in der „Halleschen Zeitung“). Darauf gab es vier Reaktionen von Orgelbaumeistern.

Der Kirchenrat trat mit der Firma Geißler in Verhandlung, entschied sich  für dessen teurere Variante mit 18 Registern (der Sachverständige dagegen meinte, eine kleinere Orgel sei für Seyda völlig ausreichend).

Ein Vertrag zwischen Kirchengemeinde und Orgelbaumeister wurde am 22. August 1880 geschlossen.

Im Frühjahr 1881 sollte die Orgel fertig sein, Geißler bat um eine Verlängerung der Frist wegen Arbeitskräfteausfall. Diese wurde gewährt, bis September. Zwar wollte er dies noch einmal hinausschieben, jedoch wurde die Orgel dann zum 17. September 1881 übergeben und abgenommen, zur Zufriedenheit des Musikdirektors Stein aus Wittenberg, der als Sachverständiger wiederum ein Gutachten schrieb. Der Briefwechsel der Kirchengemeinde mit Conrad Geissler ist ein schönes Zeitdokument, er kann hier aber nur in Ausschnitten wiedergegeben werden. (Vgl. dazu auch die Publikation über die Orgeltagung: „Werk und Wirkung - Conrad Geissler, Seyda 2.000).

Brief von Conrad Geissler, sein erstes Angebot:

„Hochwürdiger, hochzuverehrender Herr Superintendent!

Eure Hochwürden wollen entschuldigen, wenn ich mir gestatte, Sie mit diesen Zeilen zu belästigen. Aus dem Schweinitzer Kreisblatt habe ich erfahren, daß Ein wohllöblicher Gemeinde-Kirchenrath in Seyda beschlossen hat, eine neue Kirchenorgel zu beschaffen, da ich in der Nähe von Seyda schon mehrere neue Orgeln, zum Beispiel in der Stadtkirche zu Jessen, Stadtkirche zu Schweinitz, Gorsdorf, Trajuhn bei Wittenberg, die große Orgel in der Stadtkirche zu Torgau, so wie im vorigen Jahr, den gänzlichen Umbau der Orgel in der Stadtkirche zu Schlieben, zur Zufriedenheit der betreffenden Gemeinden ausgeführt habe, erlaube ich mir, mich bei Euren Hochwürden um den Bau der neuen Orgel zu bewerben, und ergebenst zu bitten, mir denselben gütigst übertragen zu wollen.

Recht gern bin ich bereit, selbst nach Seyda zu kommen, mit Euren Hochwürden über den Orgelbau Rücksprache zu nehmen, und mir die Räumlichkeiten und Baustyl der Kirche anzusehen, um darnach eine passende Disposition nebst Kostenanschlag und Zeichnung anzufertigen zu können.

Zu meiner Empfehlung bin ich so frei, ein Verzeichnis über die von mir gefertigten neuen Orgeln zur gefälligen Ansicht beizulegen, und bin gern auch erbötig, Zeugnisse und Revisionsprotocolle über meine größeren Orgeln von sachverständigen Revisoren zur Einsicht zu übersenden, auch würde Herr Musikdirector Stein in Wittenberg gewiß gern Auskunft über meine Leistungen geben. Auch darf ich die Versicherung aussprechen, daß es mir auch bei diesem Orgelbau in Seyda Ehrensache sein würde, ein gutes und tüchtiges Orgelwerk zur allseitigen Zufriedenheit der Kirchengemeinde aufzustellen.

Mit der ergebenen Bitte, mich bei dem Wohllöblichen Gemeinde-Kirchenrath in Vorschlag zu bringen, und mir gütigst Nachricht darüber zukommen zu lassen, verbleibe ich mit der Versicherung aufrichtiger Hochachtung

Euer Hochwürden

ergebener Conrad Geißler, Orgelbaumeister.

Eilenburg, den 24. Februar 1880.“

Andere Angebote kamen von Nicolaus Schrickel, Orgelbauer in Eilenburg, Karl Herrwagen, Orgelbauer in Benndorf-Poppel bei Eckartsberga und Friedrich, Orgelbaumeister in Wittenberg.

 

Der „Contract“ mit Geissler wird am 22. August 1880 unterschrieben.

Bedingungen:

- Bau 1881

- Abbruch der alten Orgel, so vornehmen, dass diese noch mal in einer kleineren Kirche aufgebaut werden kann

- Es wird eine Summe von Fünftausenddreihundertzweiundachtzig Mark vereinbart, 2/3  bei Abnahme, Restzahlung mit Zinsen

- Garantiezeit von 8 Jahren wird vereinbart, Mängel verspricht Herr Geissler sofort zu beseitigen, das Stimmen der Orgel wird vereinbart

- Bahntransport nach Elster und Fahrt nach Seyda trägt die Kirchengemeinde, geschieht auf Gefahr des Unternehmers

- Balgentreter für den Aufbau wird für 14 Tage von der Kirchengemeinde gestellt

- beide Parteien haben den Kontrakt unterzeichnet.

(Seydaer Kirchenarchiv, Findbuch 199).

 

Musikdirektor Stein aus Wittenberg hat die Orgel abzunehmen und schreibt ein Revisionsprotokoll am 2. November 1881:

„Revisionsprotocoll.

Am 17. September wurde in Gegenwart des Herrn Oberpredigers Rietz, des Herrn Diaconus Jentzsch und der Mitglieder des Gemeinde-Kirchenraths, die von dem Orgelbaumeister Herrn Geißler gelieferte neue Orgeli n der Kirche zu Seyda durch den Unterzeichnenten revidiert und abgenommen.

Das äußere der Orgel, im besten Einklange mit den Chören stehend, giebt sich als ein besonderer Schmuck der einfachen Kirche kund, aber nicht bloß äußerlich, sondern seinem inneren Werthe nach, wird das Werk die heilige Stätte zieren...“

 

So wurde die Orgel 1881 fertiggestellt, sie hat bis heute 18 Register und ungefähr so viel Pfeifen, wie Seyda Einwohner hat.

 

Doch diese schönen Ereignisse, Schul- und Orgelbau, dürfen nicht darüber hinwegtäuschen, welche sozialen Verwerfungen die neue Zeit mit sich brachte. Viele waren mit großen Hoffnungen in die großen Städte gezogen und lebten nun im Elend als Industriearbeiter, fast ohne Rechte. Die Sozialdemokratie erstarkte. Bismarck versuchte mit seiner Sozialgesetzgebung, die Folgen der Industriealisierung sozial abzufedern. 1883 wurde die Krankenversicherung eingeführt, 1884 die Unfallversicherung, 1889 die Invaliden- und Altersversicherung. (G III, 30).

In unserer ländlichen Gegend freilich wurde vieles noch durch die Großfamilien und durch Nachbarschaftshilfe abgefangen. Jedoch waren auch hier zahlreiche „Tippelbrüder“ bzw. „brotlose Landarbeiter“ als Tagelöhner unterwegs, die kein Dach über dem Kopf und kaum Brot für den nächsten Tag hatten. Da entstand in Seyda ein großes christliches Liebeswerk: Die Arbeiterkolonie wurde gegründet, 1883.

 

Gustav von Diest, Regierungsrat in Merseburg, war ein Verwandter Friedrich von Bodelschwinghs, der bereits vorher durch sein diakonisches Engagement in Bethel bei Bielefeld bekannt geworden war. Er ergriff die Initative zur Gründung einer Arbeiterkolonie für brotlose Landarbeiter in Seyda.

 „In der zweiten Hälfte des vergangenen Jahrhunderts war es aufgrund einer wirtschaftlichen Rezession zu Massenentlassungen gekommen. Die Arbeits- und Obdachlosen erhielten keine staatliche Unterstützung und vagabundierten auf der Suche nach Arbeit durch das Land. Aber es gab auch viele, die überlegten, wie diese Not zu lindern sei. Einer davon war der Pastor Friedrich von Bodelschwingh, der „seinen Brüdern von der Landstraße“ durch „Arbeit statt Almosen“ zu helfen versuchte. Er gründete am 22. März 1882 die erste ländliche Heimstätte für wandernde Arbeitslose, die Ackerbaukolonie „Wilhelmshof“ (Westfalen - T.M.) und machte dort in kurzer Zeit beste Erfahrungen.“ (Heimatbuch 53).

„Auch in der Provinz Sachsen und im Herzogtum Anhalt schlossen sich Männer zusammen, um im Sinne und Geiste Bodelschwinghs zu wirken. Auf Einladung des damaligen Regierungspräsidenten v. Diest - Merseburg fanden sie sich am 9. November 1882 in Halle zu einer ersten Beratung zusammen, an der auch Pastor v. Bodelschwingh teilnahm. Am 13. Februar 1883 fand in Halle die Gründung des Vereins für die Provinz Sachsen und das Herzogtum Anhalt zur Beschäftigung brotloser Arbeiter mit Sitz in Halle statt. Das Vereinsstatut wurde beraten und ebenso die pachtweise Erwerbung eines 400 Morgen großen moorigen Geländes im Revier der Oberförsterei Glücksburg. Nachdem am 3. März eine eingehende Lokalbesichtigung stattgefunden hatte, wurde in der Vorstandssitzung am 15. März „die Anlegung der Kolonie Seyda beschlossen“. Der Grundstein wurde am 10. August gelegt. Maurermeister Zierold aus Seyda führte die Bauten zur größten Zufriedenheit aus. Nicht jeder Seydaer war mit der Gründung der „Kolonie“ anfangs einverstanden. Im Schweinitzer Kreisblatt ist nachzulesen: „... zu keiner anderen Zeit ist der Ort von einer solchen Anzahl arbeitsloser, vagabundierender Menschen heimgesucht...“, oder: „fast täglich nächtigen in der dortigen Herberge 15 bis 20 solcher Kunden“. Aber schon ein Jahr später heißt es: „..., daß hier wirklich unglücklichen... Menschen wieder soweit aufgeholfen wird, daß sie in die menschliche Gesellschaft wieder als nützliche Glieder eintreten können“.

Die Kolonisten machten die mit Erlengestrüpp und saurem Gras bewachsenen Moorländereien um Seyda nach und nach urbar. Durch Ausheben von zwei Meter breiten Gräben wurden Beete von 800 bis 1.000 m Länge und 25 m Breite gebildet. Die Gräben leiteten das Grundwasser in den zentralen „Morgengraben“, wodurch sich der Grundwasserspiegel erheblich senkte. Die Beete wurden dann planiert und mit 13 cm Sand bedeckt. In der ersten zeit wurde der Sand mit Schubkarren, später mit der Feldeisenbahn angefahren. es gab 2 km Schienen und 36 Kipploren. Obwohl die Anstalt für 100 Kolonisten gedacht war, mußte sie bald erweitert werden, denn manchmal waren es 200 und mehr. Waren die Ernten in den ersten Jahren auch noch mäßig, so wogten doch bald goldgelbe schwere Getreidefelder in der Seydaer Flur. Die Regulierung des Hauptgrabens führte zu einem Ernteertrag von 18 Zentner Gerste pro Morgen. Auf den Wiesen wuchsen saftige Gräser, und das Heu wurde im Frühling gleich an Ort und Stelle versteigert.“ (Michael Lange, Leiter des Diest-Hofes von 1984 bis 2.000, im Heimatbuch 53).

 

Durch diese Arbeiterkolonie wurde Seyda erneut über die Grenzen des Landes bekannt:

„Am südlichen Abhange des Flämings liegt im Kreise Schweinitz das kleine Landstädtchen Seyda mit 1.500 Einwohnern, welches wegen seiner von jeglichem Verkehr abgeschlossenen Lage vor 1883 selbst manchem Kreiseingesessenen wohl nur dem Namen nach bekannt war, seit dieser Zeit aber in allen Teilen der Provinz genannt wird als eine Stätte christlicher Nächstenliebe.“ (Die Provinz Sachsen in Wort und Bild, 295). Nach dem Muster der Arbeiterkolonie Seyda sind in Deutschland noch 30 solcher Anstalten entstanden, darunter noch eine in der Provinz Sachsen, in Magdeburg. (ebenda, 295).

 

Für die „Brüder von der Landstraße“  wurden Fachwerkhäuser errichtet, die auch heute noch zu sehen sind: ein Anstaltsgebäude, ein Kolonistenhaus, ein Wirtschafts- und Waschhaus. Am Giebel des ersten Gebäude zur Straße war auf einem Schild der alte hilfreiche Mönchsspruch zu lesen: „Bete und arbeite!“ Unter der Aufsicht von „frommen Brüdern der Neinstedter Anstalten“ wurde hier vielen geholfen.

Beachtenswert ist auch das Gottvertrauen, mit der die Männer um Diest dieses Werk begonnen haben. Wurde doch bei der Einweihung gesagt: Wir wissen noch nicht, wie wir es weiter finanzieren und tragen sollen, aber Gott hat uns bis hierher geholfen, er wird es auch weiter tun.

„Obwohl die Anstalt für 100 Kolonisten gedacht war, mußte sie bald erweitert werden. Manchmal mußten mehr als 200 Männer untergebracht werden. Für die Arbeitsleistung erhielt der Kolonist Verpflegung, Obdach, Wäschereinigung, Licht und Heizung, außerdem eine tägliche Arbeitsvergütung von 20 bis 50 Pfennigen.“ (Die Provinz Sachsen in Wort und Bild, 295).

Lassen wir uns hineinnehmen in das Leben in der „Arbeiterkolonie“ am Beginn unseres Jahrhunderts in einer zeitgenössischen Beschreibung:

„Rings von Kiefernwald umgeben steht das einfache, schmucklos gehaltene Gebäude inmitten der Wirtschaftsgebäude da, den Vorübergehenden durch seine in großen Lettern angebrachte Inschrift „Bete und arbeite!“ den Zweck unseres Daseins predigend. Manchem Besucher, der vielleicht nur aus Neugier die Anstalt einer Besichtigung unterzog, mag dieselbe wohl wie ein Johannes in der Wüste erschienen und ein stummer Bußprediger geworden sein. - Mit einem geheimen Schauer betreten wir den Hof. Dort unter dem Protal des Gebäudes auf einer Bank sitzt ein Greis von 70 Jahren, neben ihm ein Jüngling, der kaum die Kinderschuhe ausgezogen hat; beide sind in tiefe Gedanken versunken. Vielleicht steigt jetzt vor ihren geistigen Augen jenes Gebäude mit den undurchdringlichen Mauern und den Gitterfenstern auf, welches sie vor kurzem noch gefangen hielt. Der freudige Blick des Greises bei unserem Nahen zeigt uns, daß er sich hier unter dem Zwange der Hausordnung glücklicher fühlt, als in jener Zeit, da der Ordnungszwang zugleich als Strafe auf ihm lastete. Doch unter den „Kolonisten“ befindet sich auch mancher, der unverschuldet in Not geraten ist und Seyda aufsuchte, um nicht noch tiefer zu fallen. Zwar gehört hierzu eine Selbstüberwindung, zu der nicht jeder fähig ist, die aber für der Kolonisten späteres Leben nicht ohne Einfluß bleibt. Unter den 1898 aufgenommenen 196 Personen befanden sich 158 bestrafte und 38 unbestrafte.

Zu den beiden Kolonisten gesellen sich in kurzer Zeit noch etwa 70 andere, welche von dem Felde heimgekehrt, den Ton der Glocke erwarten, der sie zur Mahlzeit ruft. Der größte Teil der Kolonisten wird nämlich auf dem etwa 100 ha umfassenden „Koloniefelde“ mit Landarbeit beschäftigt. - Einer der drei dienenden Brüder bietet sich uns auf unsre Meldung bereitwilligst als Führer an, und wir betreten zunächst den im Erdgeschoß gelegenen Betsaal, in welchem die Morgen- und Abendandachten, sowie die patriotischen Festfeiern abgehalten werden. Einfach, aber würdig ausgeschmückt bietet dieser Betsaal mit seinen Wandsprüchen, die uns zwar aus der Bibel bekannt sind, deren tiefe Bedeutung wir aber hier erst recht erkennen, einen freundlichen Anblick.  Während wir die zahlreichen Inschriften lesen, hat der „Bruder“ vor dem Harmonium Platz genommen, und die unerwartet unser Ohr berührenden Akkorde des Chorals „Aus tiefer Not schrei ich zu Dir“ verfehlen ihre Wirkung nicht. - Doch jetzt verkündet die Glocke, daß der Tisch gedeckt ist, und wir begeben uns unter Führung des Bruders in den geräumigen Speisesaal, in welchem die dampfenden Schüsseln auf langen Tischen zur Mahlzeit einladen. Wenn auch die Kost einfach ist, denn es können für Beköstigung pro Tag und Kopf nur 50 Pfennige verwendet werden, so sind die Speisen doch unter der Leitung einer tüchtigen Hausfrau außerordentlich schmackhaft und sauber zubereitet. Diese „große Familie“ muß in einem noch nicht ganz verdorbenen verlorenen Sohne (Lk 15) die Sehnsucht nach dem trauten Heim erwecken, wo die sorgende Mutter der Suppe die schönste Würze, die Liebe beigab. Und in der Tat kehrt ein guter Prozentsatz der Kolonisten nach ihrer Entlassung zur Familie, zum Heim zurück. Der Gedanke, daß wir uns zwischen zum größten Teil heruntergekommenen Menschen befinden, schwindet fast gänzlich, und wir lassen uns auf Einladung des Bruders hier für einige Augenblicke nieder und hören den Ausführungen desselben über Einrichtung und Hausordnung der Anstalt zu.

Die Kolonie zu Seyda hat 100 Plätze. Bis Ende Februar 1900 wurden insgesamt 6.049 Personen aufgenommen und 5.963 entlassen. Der höchste Personenbestand von 97 Personen war im Januar 1899 zu verzeichnen. Wegen Überfüllung brauchte bisher also keinem Bittenden die Aufnahme verweigert werden. Aufgenommen werden arbeitslose Leute aller Art, ohne Unterschied der Konfession und des Standes, auch erlittene Strafen schließen von der Aufnahme nicht aus; jedoch werden absolut arbeitsscheue Personen wieder entlassen. Der Eintritt geschieht durchaus freiwillig, denn die Anstalt ist kein Zwangshaus. Der Aufenthalt dauert gewöhnlich 4 Monate, auf Wunsch aber noch länger. Fügung unter die Hausordnung ist unbedingtes Erfordernis. Branntweingenuß ist streng verboten, weil viele der Insassen gerade durch Trunksucht ins Elend gekommen sind.

Die Hauptbeschäftigung der Kolonisten besteht in landwirtschaftlichen Arbeiten, Moorkultur nach Rimpauschem System; Gebäude, Hof und Garten sind Eigentum des „Vereins zur Beschäftigung brotloser Arbeiter für die Provinz Sachsen und das Herzogtum Anhalt“. Die Kosten der Kolonie werden gedeckt durch Provinzialzuschüsse, durch Kollektengelder und durch den Ertrag der Landwirtschaft, welcher sich im Jahre 1899 auf rund 38.000 Mark belief. Leiter der Anstalt ist der zweite Geistliche in Seyda. In der Kolonie wohnt als Aufsichtsbeamter ein Hausvater, dem 3 Gehilfen („Brüder“) zur Seite stehen, welche dem Bruderhause des Lindenhofes in Neinstedt angehören. Unter den Kolonisten sind viele, welche die Anstalt schon öfter als Zufluchtstätte aufsuchten. An Arbeitslohn erhält jeder Kolonist außer freier Station täglich 50 Pfennig; das verdiente Geld wird bei der Entlassung gezahlt.

Doch nun müssen wir unsere Schritte beschleunigen, um noch den Schlafsaal mit seinen sauberen Betten, die Küche mit ihren blanken Kesseln und Geschirren, die Badeanstalt mit ihren praktischen Einrichtungen und zuletzt noch die Scheunen mit ihren Maschinen und die Ställe mit ihren glatten Rindern einer Besichtigung zu unterziehen.

Man kann die Anstalt nur hochbefriedigt mit dem Wunsche verlassen, daß sie und ihr christlicher Liebesdienst auch fernerhin in Segen wirken möge.“

(Hermann Würzberg, Blönsdorf, in: Die Provinz Sachsen in Wort und Bild, 295-297; zur Arbeiterkolonie vgl. auch HG 12/1913 und HG 5/1931.).

 

„Brich dem Hungrigen dein Brot.

Die im Elend wandern, führe in dein Haus hinein!

Trag die Last der andern.

 

Brich dem Hungrigen dein Brot,

du hast´s  auch empfangen.

Denen, die in Angst und Not, stille Angst und Bangen.

 

Der da ist des Lebens Brot, will sich täglich geben,

tritt hinein in unsre Not, wird des Lebens Leben.

 

Dank sei dir, Herr Jesu Christ, daß wir dich noch haben

und dass du gekommen bist, Leib und Seel zu laben.

 

Brich uns Hungrigen dein Brot, Sündern wie den Frommen,

und hilf, dass an deinen Tisch wir einst alle kommen.“

(Evangelisches Gesangbuch Nr. 418).

 

So hat einer gedichtet, der in Seyda in diesen Jahren aufgewachsen ist und das Leben der Arbeiterkolonie miterlebt hat. Sein Vater war „der zweite Geistliche in Seyda“ und mit der Betreuung der Arbeiterkolonie beauftragt. Gleichzeitig hat er in seiner Kinder- und Jugendzeit Sonntag für Sonntag vor unserem Altar gesessen, in dessen Mitte der Abendmahlstisch dargestellt ist: Sehr schön geschnitzt, Jesus mit seinen Jüngern beim Mahl. Und im Vordergrund ist auch schon alles hingelegt: Brot und Kelch, für den, der noch herzukommt. All das spiegelt sich in dem Lied wieder, was Martin Jentzsch 1951 gedichtet hat. Er wurde nach Auskunft unseres Gesangbuches (Nr. 957) 1879 in Seyda geboren, war später Pfarrer in Delitzsch und 1909 Leiter der Flußschiffermission in Berlin, 1919 Pfarrer und später Kirchenrat in Erfurt und ist dort 1967 gestorben.

 

Eine andere recht beliebte Tradition, die auch diakonische Wurzeln hat, verbreitete sich in diesen Jahren im Land: Der Adventskranz. Er geht auf Johann Hinrich Wichern zurück, von dem bereits die Rede war, als es um das Jahr 1848 ging. Wichern, der verwahrloste Jungen in einem „Rauhen Haus“ in Hamburg sammelte, hängte solch einen Kranz an die Decke, an dem das Licht in der Adventszeit bis zum Christfest immer mehr wird. Zunächst mit 24 Kerzen, später mit 4 für die Adventssonntag: Das ist allgemein bekannt geworden, und heute gibt es wohl kaum eine Familie in Seyda, die nicht solch einen Adventskranz kennt.

Auch unser Weihnachtsbaum ist noch nicht so alt. Er wurde um 1540 erstmals in Straßburg gesehen: Der neue Paradiesbaum, mit den Früchten (Kugeln) daran, der erinnert, dass durch Jesus die Tür zum Paradies wieder aufgetan ist. Am Heiligen Abend singen wir immer: „Heut schleußt er wieder auf die Tür zum schönen Paradeis: Der Cherub steht nicht mehr dafür, Gott sei Lob, Ehr und Preis!“ (Evangelisches Gesangbuch Nr. 27 Vers 6; vgl. 1 Mose 3). Der Weihnachtsbaum wurde im 19. Jahrhundert auch in Seyda üblich; aus alter Zeit bewahrt die Familie Wahle einen besonderen Christbaumständer auf: Er dreht sich und spielt eine Melodie.

 

In Seyda finden sich auch noch andere poetische Talente: im Jahre 1884 gibt die Schriftstellerin Ottilie Ludwig aus Seyda zwei Bände „Mein Waldesleben“ heraus.

Darüber berichtet uns wieder der Heimatforscher Oskar Brachwitz: „Das Wohnhaus der Schriftstellerin und Dichterin Ottilie Ludwig in Seyda. Wenn du einmal von Wendisch-Linda oder Mügeln nach Seyda wanderst und du nach stundenlangem Marsch aus dem Walde heraustrittst, so grüßen dich rechts am Wege die ersten Häuser Seydas, die Arbeiter-Kolonie, zwei Sägemühlen und das Schützenhaus. Und dahinter wirst du ein Häuschen finden, lauschig versteckt unter einer mächtigen Linde. Eine Lärche steckt schützend wie ein Pförtner ihre Zweige über den Eingang zum Garten, Lebensbäume stehen als treue Wächter an der Seite des Fußsteiges, und dahinter duftet es von zahlreichen Blumenbeeten. Dies Häuschen ist wahrlich eine Stätte des Friedens, so recht geschaffen zum Dichten, Träumen und Sinnen. Darum, du eilender Wanderer, raste hier einen Augenblick und gedenke dabei der Schriftstellerin Ottilie Ludwig, die lange Zeit in diesem Hause ein Heim gefunden hatte.

Ottilie Ludwig wurde als Tochter des sächsischen Oberforstmeisters August von Pflugk am 19. April 1813 zu Söllichau bei Düben geboren. 1852 heiratete sie den Forstmann Ludwig zu Seyda, den sie nach 30jähriger Ehe durch den Tod verlor. In dem Nachlaß ihres Mannes fand sie forstliche Schilderungen vor, welche sie ordnete und zu Ehren des Verstorbenen herausgab. Diese fanden Anerkennung und regten die Herausgeberin zu eigenem Schaffen an. So wurde die inzwischen 70jährige Frau zur Schriftstellerin. Wöchentlich erschienen im Unterhaltungsblatt der „Saale-Zeitung“ Erzählungen „Mein Waldesleben“. 1884 erschienen sie gesammelt in zwei Bänden. Auch Gedichte und andere Kleinigkeiten fanden bei verschiedenen Veranlassungen in Journalen Aufnahme.

Wie meisterhaft diese Frau die Sprache beherrschte, wie treffend sie Bilder aus der Natur literarisch aufzeichnen konnte, beweist ein kurzer Ausschnitt aus dem o.g. Buch, wo sie einen Kiefernhochwald rechts von der Dahmschen Straße folgendermaßen beschreibt: „Vor uns ein prächtiger, masthoher Kiefernhochwaldbestand. Ein Baum so kerzengerade wie der andere strebte säulengleich dem Himmel zu, oben seinen Wipfel mit dem der nebenstehenden zu einem grünen Dach vereinigend. Unten am Boden wuchs das stets grünende Preiselbeerkraut zwischen Stellen, die durch die herabfallenden Nadeln in hellem Braun glänzten. Gelbgrünes Moos wucherte an den Stammenden der Bäume, während weiter hinauf weiße, in bläulich spielende Algen in den Borkenrissen sich zeigten. Es war still, feierlich still in diesem domartigen Hochwald. Nur ein leises Rauschen ging oben durch die Kronen. Der Dammweg mündet auf einer ausgedehnten Wiese, die überschritten werden muß, um den Lieblingsplatz zu erreichen. Hier sind die Torfwiesen. Auf der grünen Rasenfläche wächst ein gar wunderliches Gewächs, dessen grüne Halme kleine Baumwollbüschel tragen, wie weiche schneeige Watte bewegen sie sich im Luftzuge und erregen unser Staunen; es ist eine Grasart, die nur auf trofigem Grunde gedeiht, das Wollgras. Einige Schritte weiterhin stehen wir vor einer ausgetorsten Stelle, um deren Rand hohes Schilf wuchert, während in der Mitte eine freie Wasserbank glänzt. Bald darauf schwimmt aus dem Schilfe eine Ente, gefolgt von ihrer noch sehr jungen Brut. Wie schwarze Punkte umspielen die Kleinen die Mutter, die unter Locktönen begierig im Entengries schnattert. Es ist ein reizendes Bild, diese wilde Entenfamilie in ihrem harmlosen Treiben. Nur der sonst so schön gefiederte Vater sieht etwas struppig aus, weil er eben sein Federkleid wechselt. Deshalb kann er auch nicht auffliegen, als er uns wahrnimmt, sondern zieht sich eiligst mit Frau und Kindern in das hohe Röhricht zurück, und das Bild ist, so schnell wie es erschien, auch wieder verschwunden.“ (Heimatkalender 1924; Lexikon deutscher Frauen der Feder; HG 5/1913, in: HK 2/1996, S. 3, von Bärbel Schiepel herausgesucht, mit Bildern.).

 

1883 wurde die Luthereiche auf dem Kirchplatz gesetzt, gezogen aus einer Eichel der Luthereiche am Elstertor in Wittenberg, wo Martin Luther die Bannbulle verbrannte. Zum 400. Geburtstag des Reformators fanden große „patriotische“ Feierlichkeiten statt.

 

Es war die Zeit zahlreicher Vereinsgründungen. Nach dem Verbot der Sozialdemokratie durch Bismarck schossen Vereine wie Pilze aus dem Boden, um verdeckt diese Arbeit weiterzuführen. Um dem entgegenzusteuern, forderte der Oberpräsident der Provinz Sachsen persönlich in einem Schreiben vom 9. Juli 1891 die ihm untergebenen Behörden auf, dafür zu sorgen, dass sich in jeder Gemeinde ein Verein konstituiert, der den „christlich und monarchisch gesinnten Ortsbewohnern, ohne Unterschied des Standes und Besitzes und ohne Geldbeitrag den Beitritt gestattet“. (Vgl. Staatsarchiv Magdeburg, Rep. C 28 Ia I, Nr. 845, Bd. VIII. 178; in: G III, 40).

 

In Seyda gab es zu dieser Zeit schon einen „Evangelischen Männerverein“: „1890 trat ein evangelischer „Männer-Verein“ zusammen, welcher bis 1914 bestand; in den Vereinsabenden, Montags, wurden nach einer christlichen Ansprache belehrende Vorträge gehalten aus allen Gebieten des Lebens. Die vier Familienabende, welche jährlich stattfanden, füllten den Saal bis zum letzten Platze, so beliebt waren dieselben.“

(Gerhardt, Heimatbote 19.8.1927).

 

Auch die Frauen fanden sich im Verein zusammen: 1906: wurde in Seyda der „Frauenverein für Seyda und Umgegend“ gegründet. Er übte auch ganz praktische Nächstenliebe. Eine „Gemeindeschwester“ war von ihm angestellt, Frau Keller, die Kranken und Hilfsbedürftigen zur Seite stand. Auch blieb eine Mutter im Wochenbett nicht unversorgt. Der Frauenverein bestimmte dann Mitgliederinnen, die sich um das Kochen, das Versorgen des Viehs und andere notwendige Arbeiten kümmerten.

(1996 wurde in der Kirchengemeinde „90 Jahre Frauenverein“ gefeiert, der im „Gemeindenachmittag“ fortbesteht. Vgl. HG 4/1914; Heimatbote vom 19.8.1927).

 

Im Jahr 1894 fand eine große Kirchenrenovierung statt. Sie umfaßte Maurerarbeiten, zum Beispiel am Anbau an der Nordseite (Maurermeister Karl Zierold, Seyda); und Tischlerarbeiten (unser heutiges Gestühl, Arbeiten an der Empore, Mützenhaken vorn rechts im Altarraum; eine Fußbank für den Organisten, die Kanzeltreppe; durchgeführt von den Meistern Große und Freiwald.). Die Malerarbeiten führte Malermeister Seidel aus Wittenberg aus, in Zusammenarbeit mit Meister Mechel aus Seyda, der einen Sternenhimmel an die Decke brachte. Die Altarseite schmückte ein großer Fächer und zwei (angemalte) Säulen. Die Turmuhr baute die Uhrenfabrik Wenke aus Bockenem bei Hannover für 1.650 Reichsmark. Uhrmachermeister Thiele aus der Triftstraße zog sie dann jede Woche auf, sie steht noch im Turm.

Die bunten Fenster kamen in die Kirche, jeweils für 200 Reichsmark, besondere Schmuckstücke. Rechts der Gute Hirte Jesus Christus, der sein Schäfchen wiedergefunden hat und es auf den Schultern nach Hause trägt. Dieses Bild findet sich heute auch in vielen Wohnzimmern, es wurde oft zu großen Geburtstagen verschenkt: Der, der uns trägt! Der 23. Psalm kann bis heute fast jeder auswendig (auch die Konfirmanden), der hat Generationen auf ihrem Lebensweg getröstet und gestärkt, das Bild ist eine Erinnerung daran:
„Der Herr ist mein Hirte. Mir wird nichts mangeln. Er weidet mich auf einer grünen Aue und führet mich zum frischen Wasser. Er erquicket meine Seele. Er führet mich auf rechter Straße um seines Namens willen. Und ob ich schon wanderte im finsteren Tal fürchte ich kein Unglück, denn du bist bei mir, dein Stecken und Stab trösten mich. Du bereitest vor mir einen Tisch im Angesicht meiner Feinde. Du salbst mein Haupt mit Öl und schenkst mir voll ein. Gutes und Barmherzigkeit werden mir folgen mein Leben lang, und ich werde bleiben im Hause des Herrn immerdar. Amen.“

Auf dem linken Glasfenster ist auch Jesus zu sehen, der an die Herzenstür klopft, wie es im letzten Buch der Bibel heißt: „Siehe, ich stehe vor der Tür und klopfe an. Wer mir auftut, zu dem will ich hineingehen und das Abendmahl mit ihm halten.“ (Offb 3,20).

Eine Besonderheit in der Darstellung ist die, dass auf der Tür keine Klinke zu sehen ist. Jesus fällt nicht mit der Tür ins Haus, er klopft an. Aufmachen muß man selber, deshalb hat die Tür nur auf der verdeckten Seite eine Klinke. Eine Erinnerung daran, dass das Evangelium mit Feinfühligkeit ausgerichtet werden will - und das jeder seine Entscheidung für Jesus selbst treffen muß.

 

Schulden mußte die Kirchengemeinde für diese große Renovierung aufnehmen: 7.097,56 Reichsmark. Pro Jahr wurden 150 Reichsmark abgezahlt, die letzte Rate am 31. Dezember 1948!

Das Vermögen wurde versichert, weswegen es eine Aufstellung gibt:

Versicherungspolice des Jahres 1894:

Verzeichnis der zu versichernden Gegenstände

1.  Brustbild Luther und Melanchthon

2.  Bild des Superintendenten Hilliger

3.  ein versilberter Abendmahlskelch und Löffel

4.  eine versilberte Patene

5.  zwei ... Altarleuchter

6.  eine versilberte Taufkanne und Taufbecken

7.  zwei Kronleuchter

8.  eine rote Altar- und Kanzelbekleidung Tuch

9.  eine schwarze Altar- und Kanzelbekleidung

10. eine grüne

11. ein Altarteppich

12. zwei schwarze Vorhänge von ...

13. drei Fenstervorhänge von dem Turm und Sakristei

14. zwei Kniebänke

15. Messingleuchter 86 Stück

16. ein Baseltuch

17. ein ... desgleichen

18. zwei Schränke

19. ein Besteck für Krankenkommunion

20. zwei versilberte Abendmahlskannen

21. eine Altarbibel

22. eine weiße Altardecke

23. ein Kruzifix

24. ein kleiner vergoldeter Abendmahlskelch mit Patene

25. eine weiße Altardecke für Abendmahl

26. ein Krug (zum Gebrauch bei Taufen)

27. ein Lesepult

28. sieben ...

29. 3 ...

30. Seile (zum Begräbnis erforderlich)

31. Christbaumhalter und Leuchter

32. Liedertafeln mit Ziffern

33. drei Bücher

34.Vorrat an Lichtern

 

Immobilien

                                                  Versicherungssummen         

1. Juli 1879         Wohnhaus      4.140 Mark

                           Stallgebäude     260  "                                                                                   

20. Dez.1890      Stallgebäude   1000  "                                                                         

 

Immobiliar-Versicherung der Kirche Stadt Seyda Kirchplatz Haus-Nr. 178 1. Juli 1879

                       Versicherungssummen

Kirche            17.230 Mark 

Thurm               7.200 "         

Anbau                 140 "         

Orgel                2.000 "            (beseitigt und durch eine neue ersetzt)

Große Glocke   1.000 "        

Kleine Glocke      600 "        

Uhr                      200 "        

 

31. Dezember 1881

Orgel                5.500 "         "

 

30. November 1897

                                     Versicherungssummen

Kirche                          37.240  Mark        

Thurm und

Treppenhausanbauten   12.000  "    (laut Taxrevision)

Anbau                               680  "                                                  

Orgel                              5.500  "                 

Große Glocke                 1.500  " 

Kleine Glocke                 1.000  "                 

Uhr                                 1.800  "

 

28. Dezember 1901

Turm mit Treppenhausanbauten    11.200 "

 

1. Januar 1894

Leichenhalle                      630 Mark    Zahnaer Str. Nr. 238“

(Seydaer Kirchenarchiv, Findbuch 223).

 

Die verschiedenen Farben der Altarbehänge lassen darauf schließen, dass entsprechend des Kirchenjahres gewechselt wurde. Die Plätze in der Kirche waren eingeteilt, jeder hatte seinen Platz. Oben links auf der Empore saßen zum Beispiel die Familien des Amtshofes. Mancher kann sich noch heute an „seinen“ Platz erinnern. Dafür wurde ein „Stuhlregister“ geführt.

Im Jahre 1878 wurde die Superintendentur in Seyda aufgelöst, es entstand der Kirchenkreis Zahna, der bis 1928 Bestand hatte. Dann gehörten wir zum Kirchenkreis Jessen (bis 1998), nun zum Kirchenkreis Wittenberg.

Vor 100 Jahren waren die Pfarrstellen noch unterschiedlich dotiert. Seyda war eine begehrte Stelle. Oberpfarrer Dörge setzte sich unter 20 Bewerbern durch.

 

An den großen Festtagen war der Gottesdienstbesuch allgemein üblich. An „normalen“ Sonntagen aber werden etwa 1896 in der frisch renovierten Kirche ca. 30 Gemeindeglieder gezählt. Es ist also auch damals eine relativ kleine Gruppe gewesen, die die Kirchengemeinde mit ihrem Beten und Singen „hindurchgetragen“ hat.

Einen Bericht aus dem Jahr 1927 gibt es, der das kirchliche Leben in Seyda um das Jahr 1900 beschreibt:

 „Die Orgel ist z. Z. noch nicht wieder im Besitz der im Weltkriege eingezogenen Pfeifen, auch die eine Glocke ist noch nicht ersetzt. Das Mittag- und Abendläuten hört man nicht mehr, letzteres nur noch Sonnabends. Der Kirchenbesuch könnte und müßte eigentlich reger sein; es ist doch eine schöne Stunde der Erbauung, welche jedermann aller 2-3 Wochen wohl aufsuchen müßte. Als Kinder wurden wir zum  Kirchenbesuche angehalten, und ich weiß mich noch zu erinnern, wie voll besetzt alle Stühle und Bänke waren, bis hinter der Orgel hin, und wie der Klingelbeutel, welcher herumgetragen wurde, Mühe hatte, vor Beendigung des Gesanges herumzukommen. Ich entsinne mich auch noch sehr gute einiger alter Frauen, welche als Kopfputz eine Flügelhaube hatten, nämlich ein großes helles Tuch wurde so zusammengelegt und aufgesetzt, daß es aussah wie zwei Engelflügel. Auch ist mir noch erinnerlich, daß bei dem Namen „Jesu“ die alten Frauen die Knie beugten.“

 (Hermann Gerhardt, Seyda, im Heimatboten 1927).

 

Bis zum Beginn des 20. Jahrhunderts gab es in Seyda „Feldhüter“, die unter anderem dafür zu sorgen hatten, dass die Sonntagsruhe eingehalten wurde. Wer sonntags zum Beispiel mit einer Sense auf dem Feld erwischt wurde, mußte mit einer Strafe rechnen.

Der letzte in der Bevölkerung auch als solcher bekannte Feldhüter war Herr Gröhst, der in der Triftstraße wohnte (heute das Haus der Familie Oberländer), und den die Seyd´schen „Gröhsts Deibel“ nannten. Er hatte auch einen kleinen Laden, in dem er Waren des täglichen Bedarfs feilbot. Er starb 1926, ein Jahr vor seiner Diamantenen Hochzeit.

Feldhüter in Seyda: Haase 1796, 1801; Hense 1806 (in Seyda?); Mechel 1812, auch Handarbeiter; Müller 1837; Gröhst 1836, 1837, 1853, 1863, 1865; Wiedicke 1834, 1851.

Feldhüter in Lüttchenseyda: Schuck 1847; Wergner ca. 1850; Bröse, genannt Lehmann 1848, 1862, 1869, 1872, 1892, 1895.

Feldhüter in Mellnitz: Kappert 1863, auch Nachtwächter; Eilitz: 1865, 1866 auch Nachtwächter, 1870, 1871, 1872,1880.

Feldhüter auf Mark Zwuschen: Otte oder Otto 1765, 1783, 1784,  1786, 1801, 1804, 1806, 1811; Hache 1831; Richter 1866, 1873; Schulze 1883, 1884, 1894; Neumann 1898, 1900.

Feldhüter in Morxdorf: Lehmann 1836, 1840; Schroeder 1843, auch Handarbeiter.

Feldhüter in Zemnick: 1872.

Feldhüter in Gadegast: Wenzel 1918, Jagdaufseher und Feldhüter (da hochbetagt gestorben). (Aus den Seydaer und Gadegaster Kirchenbüchern.).

 

1894 wurde auch die Lindenallee auf dem Markt angelegt. Im Haus Markt 11, was durch seine Mehrstöckigkeit und seinen Balkon hervorragt, wohnte der Bürgermeister Ganzert mit seiner Familie. Es war gleichzeitig das Rathaus. Später wurde das Haus von dem Arzt Dr. Nekwasil gekauft.

Am Beginn des Jahrhunderts gab es in Seyda zahlreiche Handwerker, die ganze Jüterboger Straße hinauf fast in jedem Haus, und auch auf dem Markt und vereinzelt in den anderen Straßen.

Allein drei Schmiede arbeiteten hier: in der Zahnaer Straße (Schugk, heute das Haus der Familie Busch); in der Jüterboger Straße (Brachwitz/Seiler; das kleine Haus vor der Gaststätte Zur Heide), auf dem Markt (Schmied Krüger, später GUMA, gegenüber der Bushaltestelle zwischen Krügers und Wahles).

Die meisten hatten nebenbei eine Landwirtschaft. 1897 machte die Nachricht von einem Aufstand der Landarbeiter in Mark Friedersdorf Schlagzeilen:

„Ein Aufstand, wie ihn unsere friedliche Gegend wohl überhaupt noch nicht gesehen hat, wurde durch das Gesinde, Knechte und Mägde, auf dem Gute Mark-Friedersdorf am Montag in Szene gesetzt. Der Gutsbesitzer Herr Marnitz war am Sonntag wegen einer Geschäftsreise nach Berlin von seinem Gute abwesend und kehrte erst am Montag zurück. Doch welch ein Bild bot sich seinen Augen! Die Familie schrie aus dem verschlossenen Hause um Hilfe, die Fenster waren eingeschlagen und die Fensterkreuze theilweise herausgerissen. Das Gehöft selbst war von dem Gesinde, welches sich am Montag geweigert hatte, die Arbeit aufzunehmen, umlagert. In der erschreckenden Weise war die Familie schon den ganzen Tag belästigt worden. Hilfe zu requirieren war der von jeglichem Verkehr abgeschlossenen Familie nicht möglich gewesen. Erst Herr Marnitz konnte nach seiner Ankunft nach dem Gendarm Schulz - Seyda schicken. Da derselbe sich aber auf einer Revisionsreise, die mehrere Tage in Anspruch nahm, befand, wurde die Hülfe des Polizeiserganten Hecht in Anspruch genommen. Die Aufrührer verließen denn auch nach hartem Kampfe das Gehöft. Jedoch kehrten dieselben am Mittwoch Morgen zurück und begannen dasselbe Mannöver. Herr Wachmeister Schulz, der sich sofort nach seiner Rückkehr am Mittwoch früh zur Feststellung des Thatbestandes nach Mark-Friedersdorf begab und jedenfalls im Glauben war, es werde sich nun wieder alles in Ordnung befinden, sah schon von ferne, wie das rohe Volk tobte und mit Hacken, Haken und anderen Wirthschaftsgeräthen bewaffnet, das Haus umzingelt hielt und alle todtzuschlagen drohte. Herr Marnitz, der sich mit seiner Familie in der größten Lebensgefahr befand, war eben im Begriff, sich mit seinem Gewehr zur Nothwehr zu setzen und hatte schon auf den Rädelsführer, den Knecht Reimann, angelegt, als er den Gendarm erblickte und so ein größeres Unglück verhütet wurde. Nun gelang es mit Hilfe eines zufällig vorüberfahrenden Handelsmannes, die sich furchtbar widersetzende Rotte zu fesseln und nach dem Gefängniß zu überführen. Außer dem Knecht Große und dem schon genannten Reimann wurde noch ein am Montag erst aus Berlin angekommener Knecht Knopp, der sich gleich, ohne die Arbeit überhaupt aufzunehmen, den Aufständischen anschloß, mit verhaftet.“ (Zauch-Belziger Zeitung vom 4. Juli 1897, in: HK 8/1996, S. 4, herausgesucht von Bärbel Schiepel, die ergänzt: „Die Gründe, warum die Knechte und Mägde diesen Aufstand inszenierten, erfahren wir leider nicht aus diesem Artikel. Die schlechten und schweren Arbeitsbedingungen der einfachen Leute auf dem Lande vor 100 Jahren sind für uns heute kaum noch vorstellbar.“).

 

Zur Oberpfarre in Seyda gehörte das „Pfarrgut Zwuschen“, und zwar von alters her. Es war der Grund, warum die Seydaer Kirchengemeinde fast nie finanzielle Schwierigkeiten hatte. Nun wurden diese 25 Hufen Land (ca. 200 Hektar) im Jahr 1908 für 107.000 Reichsmark verkauft. 67.000 Reichsmark waren eine Hypothek auf das Gut, 40.000 Reichsmark nahm der Käufer aus Staatsanleihen. Dieses Geld wurde angelegt, man hoffte dadurch, den Querelen mit den Pächtern zu entkommen und trotzdem regelmäßige Einnahmen zu haben. In der Inflation in den zwanziger Jahren aber ist das angelegte Geld verloren gegangen: Seitdem mußten auch in Seyda Kirchensteuern erhoben werden. Bisher war das - durch Mark Zwuschen - nicht nötig gewesen! Die ersten Kirchenaustritte folgten.  (Seydaer Kirchenarchiv, Lagerbuch, S. 61).

Viele Seiten im Pfarrarchiv sind mit Schriftstücken zu „Mark Zwuschen“ gefüllt.

„Mark Zwuschen ist nicht etwa vor dem Dreißigjährigen Kriege verheeret worden, wie ein Schriftstück behauptet, sondern in einem anderen blutigen Kriege, der im Churkreis große Verwüstungen angerichtet hat. Vielleicht ist aber Mark Zwuschen unter der großen Pest, die zu Zeiten Ludwig des V. 1346 Deutschland verödet hat, ein wüster Ort geworden. 1542 wird Zwuschen bereits eine wüste Mark genannt. Im Jahre 1591 waren erst 16 Hufen urbar gemacht, die übrigen Hufen waren noch mit Holz bewachsen. Die Nachricht, wann und warum die Mark Zwuschen zur Pfarre Seyda gekommen ist, ist in der langen Zeit verlorengegangen. Der Wald ist nach und nach wieder in Acker umgewandelt worden. Jede 10. Mandel wurde der Pfarre Seyda von den Bauern als Pachtzins gegeben....

Zwuschen hat, wie der Keuler behauptet, fast eine Meile im Umfang. Er brauche nachts wenigstens zwei Stunden, um das Zwuschenland zu umgehen. Es wird noch der Weg zum Keilerhaus (oder Keulerhaus) beschrieben (unter Act. de. 19. Jun. 1787)“

(Seydaer Kirchenarchiv, Findbuch 277).

Flurnamen der Wüsten Mark Zwuschen: Morlbreite, Heidefeldschmalle, Heidefeldbreite, Mittelfeldschmalle, Puhlstück, Neuefeldbreite, Mittelfeldbreite, Neuefeldschmalle, Heidestücke, Morlschmalle. (Seydaer Kirchenarchiv, Findbuch 235).

„Ablösung der Schafhutung auf der Mark Zwuschen:

Die ehemalige Königliche Domäne Seyda, im Schweinitzer Kreise, Regierungsbezirk Merseburg hatte unter andern auch auf den benachbarten Dorffeldmarken Oehna, Göhlsdorf, Seehausen, Naundorf, Mellnitz, Morxdorf, Lüttchenseyda, Schadewalde, Zemnick und Meltendorf und den wüsten Marken Friedersdorf und Zwuschen, von welchen die erstere zum Schmidtschen Canzley gute zu Seyda, die andere zur Oberpfarre daselbst gehört, nicht allein täglich während der ganzen Sommerweidezeit, sondern auch im Winter auf der Saat die Hutungs Servitut mit ihren sämmtlichen Schaafheerden ohne Beschränkung der Stückzahl, auszuüben.

1835 - Ablösungsvertrag wird geschlossen zwischen

I. Seilermeister Gottlob Lüdicke und Genossen aus Seyda, Besitzer der Domänenhutung

II. den mit der Hütung belasteten Dorfschaften und Eigenthümern der wüsten Marken

a) Oehna b) Goehlsdorf c) Seehausen d) Naundorf e) Mellnitz

der aus Pfarre/: Königlichen Patronats:/ 11 Hüfnern und 1 Häusler bestehenden Gemeinde, Richter: Martin Matthies

f) Lüttgenseyda der aus 8 Hüfnern bestehenden Gemeinde, Richter: Gottfried Dannenberg

g) Morxdorf der aus 6 Hüfnern und 3 Häuslern bestehenden Gemeinde, Richter: George Globig

h) Schadewalde der aus Schule/: Königlichen Patronats./, 8 Hüfnern, 1 Kossäthen und 1 Häusler bestehenden Gemeinde, Richter: Martin Krüger

i) Zemnick, der aus 10 Hüfnern und 1 Kossäthen bestehenden Gemeinde Zemnick, Richter: Martin Richter

k) Meltendorf

l) Kanzleigutsbesitzer Friedrich Wilhelm Schmidt als Besitzer der Mark Friedersdorf

m) der Oberpfarre zu Seyda /: Königlichen Patronats:/ als Besitzer der Mark Zwuschen, derzeitiger Oberpfarrer Superintendent Magister Camenz

- Zeichnung und Grenzbeschreibung der Hutung

- abschriftlich die Unterschriften der Vertragsunterzeichnenden (man beachte: einige Bauern unterzeichnen derzeit noch mit xxx)

Die Dorfmarken waren in drei Schläge eingeteilt, einer blieb jedes Jahr brach für die Schaftrift liegen.

 

Alte Leute erzählen noch heute - wiederum von Berichten ihrer Eltern -, wie der Oberpfarrer alljährlich in der Gastwirtschaft „Zum Roten Hirsch“ am Markt saß und dort die neuen Pachtverträge für die Mark Zwuschen ausgehandelt wurden. Im Anschluß gab es Rotwein. Zeitweise waren von der Kirchengemeinde auch „Zwuschenrichter“ eingesetzt, die das Pachten abwickelten, zum Beispiel aus der Familie Hirsch.

 

Der zweite Pfarrer in Seyda, auch Diakon genannt, wohnte am Kirchplatz 2. Er hatte verschiedene Aufgaben, wie die Akten einer Kirchenvisitation für Morxdorf und Mellnitz im Jahre 1911 kundtun:

„Der Pfarrer von Mellnitz und Morxdorf ist zugleich Diakonus in Seyda und Leiter und Seelsorger der Arbeiterkolonie Seyda, auch Synodalvertreter für Innere Mission in der Ephorie Zahna, Leiter der Synodalkolportage, Waisenrat von Mellnitz, Waisenvater und Fürsorger für Zöglinge verschiedener Anstalten, Leiter eines Jungfrauenvereins, Geschäftsführer eines  143 Mitglieder starken Frauenvereins, Vorstandsmitglied im ev. Männerverein, Vertreter im Kreisausschuß für Jugendpflege, Verwalter eines Bibeldepots für Seyda und Umgegend, Vorsitzender des Schulvorstandes für Morxdorf und Ortsschulinspektor, auch Leiter des Religionsunterrichts in Morxdorf, Agent des christlichen Zeitschriftenvereins für Seyda und Umgegend, auch Lehrer an der Fortbildungsschule in Seyda, Vertrauensmann des ev. Preßverbandes der Provinz Sachsen, Geschäftsführer der Zweigstelle der Herbergssparkasse...(Die Zweigkasse der Kreissparkasse Herzberg wurde am 1. Januar 1894 in Seyda eröffnet.)

Der Mann war sehr fleißig! Pastor Heinecke ist auch noch „Vater der Heimatgrüße“ gewesen, jenes Evangelischen Monatsblattes, was für den ganzen Kirchenkreis Zahna seit 1913 erschien und für das er auch später noch viele Beiträge leistete. Er hat das Seydaer Heimatlied gedichtet und sich auch im Heimatverein verdient gemacht.

Wollen wir in den Visitationsprotokollen auch noch schauen, wie es in Mellnitz und Morxdorf damals zuging, was von Seyda aus betreut wurde:

„Mellnitz ist reine Bauerngemeinde, alle, mit einer Ausnahme betreiben Landwirtschaft, 1 Zimmermann fährt wöchentlich nach Berlin, 1 Mann besucht nicht den Gottesdienst.

Morxdorf ist nur zur Hälfte eine Landwirtschaft treibende Gemeinde, die andere Hälfte sind Maurer und Zimmerleute, die die Woche über in Berlin arbeiten, kommen nur sonntags nach Hause, besuchen seltener als die Bauern den Gottesdienst, sind sozialdemokratisch organisiert, bis auf zwei Ausnahmen, die nicht den Gottesdienst besuchen, aber wohl nur Mitläufer. Der Kirchenälteste Fromm macht seinem Namen alle Ehre.

Ca. 8 Mal im Jahr besucht der Geistliche die Schule, nach dem Gottesdienst besucht er die Kranken.

Vergehen gegen das 6. Gebot („Du sollst nicht ehebrechen!“) kommt vor, keine eigentlichen Trunkenbolde, viel alkoholfreies Braunbier wird getrunken

Unterschiede in Tauffeiern für eheliche und uneheliche Kinder, in den Trauungen (mit und ohne kirchliche Ehren), 4 Männer besuchen den Gottesdienst nicht.“

(Seydaer Kirchenarchiv, Findbuch 1127).

 

Eine Erinnerung an das Alltagsleben um 1910: „Wenn man abends totmüde ins Bett konnte, bekam im Winter jedes Kind einen warmen Ziegelstein als Wärmflasche ins Bett. Und jedes Jahr zu Weihnachten gab´s ein Paar neue Holzpantinen.“ (Zeitungsartikel in der Luckenwalder Rundschau vom 1./2. November 1997 zu einem 90. Jubiläumszwillingspaar aus Seyda, Elsa Boldt und Minna Schwoch geb. Schuster).

 

Um die Jahrhundertwende nahm das immer mehr zu, was man später „Entfremdung“ nannte. Durch die Industriealisierung zogen immer mehr Menschen in die Städte, Familienbande und alte Traditionen rissen ab. Bisher stellte man vieles mit eigener Hand her und kannte den Entstehungsprozeß der Produkte bzw. konnte im Ort zuschauen, wie etwas vom Handwerker gefertigt wurde. Jetzt aber war die Arbeitsteilung so weit fortgeschritten, dass es dem Einzelnen oft nicht mehr möglich war, Einblick in das Herkommen von Produkten zu nehmen. Der Prozeß ging ständig weiter bis dahin, dass natürliche Lebensabläufe wie Geburt, Krankheit und Sterben aus dem natürlichen Lebensumfeld abgelöst worden sind. Die Alten blieben nicht selbstverständlich zuhause, auf dem „Altenteil“, sondern lebten an anderem Ort als die nächsten Generationen.

Von dieser „Entfremdung“ war auch die Kirche betroffen. Bis jetzt waren zum Beispiel die Gleichnisses Jesu aus der Landwirtschaft vom Säemann oder vom reichen Kornbauern unmittelbar vor Augen, nun aber wurde einem großen Teil der Menschen der Umgang mit Tieren und Pflanzen fremd.

Eine Gegenreaktion darauf war eine Neuentdeckung der Heimat, um die alten Traditionen zu bewahren und als Lebensbereicherung zu erhalten. Auch in Seyda wurde 1912 ein Heimatverein für die Stadt und die Umgebung gegründet. Der erste Vorsitzender war Oskar Brachwitz, der Heimatforscher, von dem schon so viel zu lesen war. Im Amtshaus wurde das Heimatmuseum untergebracht. Später war Pastor Heinecke Vorsitzender, der sein Amt 1914 nach einstimmiger Wahl an Pastor Voigt aus Gadegast abgab. Pastor Voigt führte auch die „Heimatgrüße“, jenes Evangelische Monatsblatt, was eine Fundgrube für Heimatfreunde ist, bis 1936 weiter.

 

1913 kam der elektrische Strom nach Seyda, ohne den unser modernes Leben wohl kaum denkbar wäre. Die Stadt hatte einen Vertrag mit der „Energieversorgung“ abgeschlossen, dass Weihnachten 1913 das elektrische Licht brennen sollte. Die Fernleitung aus Liebenwerda konnte jedoch nicht fertiggestellt werden. So wurde am Ende der Neuen Straße (bei Mechels gegenüber, wo auch heute noch der Stromverteiler steht) eine Dampfmaschine aufgestellt, um Strom zu produzieren. In der Nacht wurde auf Batterien umgeschaltet. Manche Leute hatten einfach nur eine 15 Watt-Lampe in ihrer Wohnung. Einige besuchten nun jeden Abend jemanden anders, um zuhause Strom zu sparen...

(Mündlicher Bericht von Horst Hirsch 1999.).

In den Heimatgrüßen heißt es: „Es schweben Verhandlungen, welche die Einrichtungen einer elektrischen Licht- und Heizanlage in unserer Kirche zum Ziele haben.“ Als Tag, an dem zum ersten Mal elektrisches Licht in Seyda brannte, wird der 25. November 1913 genannt. (HG 11+12/1913).

 

Im Jahr 1913 fanden umfangreiche Feiern zum 100. Jahrestag der Befreiungskriege statt. Dass Seyda ja zu Sachsen gehört hatte und dann wegen der Niederlage erst zu Preußen gekommen war, schien vergessen. Es war ein „patriotisches“ Fest, schon ganz im Sinne einer Kriegsvorbereitung mit dem „Erzfeind“ Frankreich.

Auf dem ehemaligen Sportplatz an der Jüterboger Straße wurde damals eine Eiche gepflanzt, die auch heute noch steht (vor der Mühle Rühlicke, mitten auf dem Kirchenacker!). Der Turnverein veranstaltete am Abend des 18. Oktober einen Umzug. Ein Freudenfeuer wurde abgebrannt, der Hauptlehrer Orthwein hielt eine Ansprache. In Gadegast wurde das Denkmal vor der Kirche gesetzt, bei dessen Einweihung viel Prominenz erschien. In Seyda, Morxdorf und Mellnitz wurden am 17. März 1913 „Luisenlinden“ gesetzt, zur Erinnerung an die preußische Königin Luise, die tapfer Napoleon widerstanden hatte; dazu wurde auch vom Kaiser ein Aufruf „An mein Volk“ verlesen.

 

Mit Jubel zog man in den Weltkrieg, der am 1. August 1914 ausbrach! Der Sieg schien - nach 1813 und 1871 - sicher zu sein, nur Ruhm und Ehre konnte ein Feldzug einbringen.

Doch bald zeigte sich die grausame Realität des Krieges. Pastor Voigt aus Gadegast schrieb monatlich seinen Konfirmanden, die nun „im Felde“ im Osten und im Westen fern der Heimat waren, und er bekam Antworten, die den Wandel widerspiegeln:

„Werter Herr Pastor, Ihrem Wunsch entsprechend nachzukommen, werde ich Ihnen ein paar Zeilen von meinen Kriegserlebnissen mitteilen. Als wir am 9.8. von Torgau abfuhren, wurden wir mit großer Freude überall begrüßt. Am 11.8. wurden wir in Düsseldorf ausgeladen. Von hier aus war nun alle Tage Marsch von früh bis abends spät. Am 15.8. überschritten wird die belgische Grenze mit einem lauten Hurra. (vgl. Anmerkung 1) Hier hörte man schon den Kanonendonner von weiter Ferne und so alle Tage. Alle Mann freuten sich auf das erste Gefecht, jedoch war es hier ein trauriger Anblick, wenn man durch ein Dorf kam, was vollständig niedergebrannt war, weil die Bewohner aus dem Hause geschossen hatten. Am 23.8. überschritten wir die französische Grenze, wo auch dasselbe Leid erschien, nur einige Dörfer und Städte waren verschont, auch waren hier die meisten Bewohner geflüchtet aus Furcht vor den französischen und englischen Soldaten und kehrten auch schon wieder zurück und freuten sich, daß unsere Truppen einwirkten.

Am 26.8. kamen wir zum ersten Mal ins Gefecht mit Engländern, es war doch anders, wie man sich das gedacht hatte, wenn die Kugeln immer über den Kopf pfeifen. In der Nacht vom 26. - 27. bezogen wir Quartier in einem einzelnen Gehöft und am nächsten Morgen ging es weiter. Am nächsten Tag nahmen wir eine Patrouille von 54 Mann Engländern gefangen, welche sich in einem Gehöft versteckt und auf unsere Truppen geschossen hatten, und so hatten wir noch mehrere kleine Gefechte. Am 5.9. kamen wir in ein Gehöft, wo wir 1 Division gegen eine starke Übermacht kämpften. Es sollen 7 Armeekorps gewesen sein. Wir haben den Feind zurückgeschlagen und noch ein Dorf vom Feinde geräumt. Am späten Abend zogen wir uns zurück, wo uns das 2. Armeekorps zur Hilfe kam, denn wir waren bis auf 30 km vor Paris.

Und vom 6.9.-11.9. waren wir 50 km ab, und diese Stellung hielten wir, bis uns ein anderes Regiment ablöste.

Wir hatten wohl viele Verluste, aber immer siegreich geschlagen, und jetzt sind wir 100 km von Paris ab. Wir mußten uns zurückziehen, weil die anderen Armeekorps noch nicht so weit waren. Hoffentlich geht es bald wieder vorwärts. Ich will nun schließen, weil man Bücher voll dessen schreiben könnte. Ich bin noch gesund, was ich auch von Ihnen hoffe. Nochmals besten Dank und viele Grüße sendet Reinhold Richter. In Eile, denn die Post fährt jetzt ab. Viele Grüße an meine lieben Eltern und an die Gemeinde.“ (Aus: Lieber Herr Pastor! Feldpostbriefe von Gadegastern und Zemnickern aus dem Ersten Weltkrieg. Seyda 1998.).

 

Der Ausbruch des Krieges im August 1914 kam für die deutsche Öffentlichkeit trotz allem überraschend (G III, 72). Es war der erste Krieg, der den ganzen Erdball überzog und mit einer vorher nie dagewesenen Brutalität geführt wurde. Erstmals sind moderne Waffen wie Maschinengewehre, Panzer und Massen-vernichtungsmittel eingesetzt worden. Deutschland hatte den Krieg begonnen.

Auch in der Heimat begann man bald, die Schrecken des Krieges zu spüren. 1915 wurden Brotkarten eingeführt, 1916 gab es auch eine Fleischkarte. In den Städten betrug die wöchentliche Ration pro Erwachsene 1916/1917: 2,5 kg Kartoffeln oder als Ersatz Kohlrüben; 1,9 kg Brot bzw. Brotersatz, 250 g Fleisch oder Wurst, 180 g Zucker, 80 g Butter und ein halbes Ei. Die Lebensmittelkarten sicherten aber nur den Anspruch, ob man es dann tatsächlich bekam, war unsicher. „Die Kartoffelmißernte 1916 verschlimmerte die ohnehin angespannte Lage weiter und führte dazu, daß die Kohlrübe als Kartoffelersatz ausgegeben werden mußte. Im „Kohlrübenwinter“ 1916/17 kam es zu schweren gesundheitlichen Belastungen, in vielen Fällen zu Hunger, Krankheit und Tod. Diese enorme Lebensmittelknappheit führte zu verschiedenen Versuchen, Lebensmittelersatz herzustellen... Ein Beispiel dafür war das Vorgehen der Berliner Eckhoff KG, Brot unter Zusatz von 30 Prozent Tierblut und 10 Prozent Pflanzenmehl herzustellen... dazu kam der Mangel in der Brennstoffversorgung der Haushalte...“ (G  III, 77f). Dies findet auch Niederschlag in der Gadegaster Schulchronik, z.B. 1917: Von der Reichsstelle für Gemüse und Obst GmbH Berlin W. Potsdamer Straße 75 ging für die Gadegaster und die Zemnicker eine Anzahl Flugblätter durch die Königl. Kreisschulinspektion Wittenberg "Sammelt die wildwachsenden Gemüse, Wildsalate, Tee, Ersatzpflanzen" am 21. Juni ein. Die Kinder wurden durch den Lehrer mit dem Inhalt bekanntgemacht, auch ihnen die Zweckmäßigkeit und Wichtigkeit des Sammelns klargemacht und die Blätter unter sie, so weit sie reichten, verteilt.“

 

Viele Päckchen schickte man als „Liebesgaben“ zu den Vätern, Brüdern und Söhnen an die Front, teils durch organisierte Transporte, teils auf privater Basis, zum Beispiel Strümpfe, Zigarren, Tabak und Pfeifen.

Es wurden auch öffentliche Sammlungen durchgeführt. Die Schulkinder sammelten neben Geld: Kupfer, Messing, Papier, Gummi, Korn aus Ähren, Kastanien, Pflaumenkerne, Kirschkerne, Sonnenblumenkerne, Brennnesseln, Windröschen, Flaschen, Haare; für Ostpreußen: Kleidungsstücke, Reis, Kaffee. Die „Ludendorffspende“ war speziell für Kriegsbeschädigte bestimmt.

Noch im November 1918 rief Pfarrer Voigt dazu in den „Heimatgrüßen“ auf, wohl nicht nur aus „patriotischer Gesinnung“, sondern vor allem, weil er die Not „seiner“ Männer an den Fronten kannte.

 

In der Kirche gab es neben diesen Sammelaktionen „Kriegsbetstunden“. Die „Reformationsjubiläumsfeier“ am 31. Oktober 1917 wurde zu einem Einschwören auf den Patriotismus. Die Pfarrer setzten sich auch für ihre Gemeindeglieder ein, in dem sie Urlaubsgesuche oder die Bitten um eine Verlegung in ein nahegelegenes Lazarett unterstützten. Eine der schwersten Aufgaben war es, den Eltern und Frauen die Todesnachricht von Gefallenen zu überbringen.

 

Durch eine Verordnung vom 20. Juni 1917 mußten alle Einrichtungsgegenstände aus Kupfer und Kupferlegierungen (Messing, Rotguß, Tombak, Bronze) abgeliefert werden. Das betraf auch die Orgelpfeifen und die Kirchenglocken! „Während sie bisher dem Kindlein auf des Lebens ersten Gange, dann Braut und Bräutigam lud "Zu des Festes Glanz", dem Abgeschiedenen das letzte Geläute gab, muß sie nun in anderer Sprache, als brüllende Kanone im Weltkriege Dienste tun. Möchte sie mit ihren vielen hinausziehenden Kameraden recht bald zurückkehren, um im Frieden wieder ihr Geläute erklingen zu lassen. Die Kessel der Brauhäuser sind nicht beschlagnahmt.“ berichtet die Gadegaster Schulchronik.

Pastor Dr. Graf aus Seyda schreibt über die Abgabe von Glocken und Orgelpfeifen für die Turmkugel 1929: Das war „eine Art Sacrilegium, das sich bitter rächte, denn von jener Zeit an wich der Segen Gottes von unserm Volk. Auch unsere Gemeinde Seyda musste von ihren zwei Kirchenglocken eine abliefern, sowie die Orgelpfeifen...“  1917 wurde in Seyda eine Glocke von 1717 eingeschmolzen! Auch die Blasinstrumente, sogar Konservenbüchsen mußten abgeliefert werden.

„Die Fahrradbereifungen waren bereits in der Zeit vom 12. bis 17. März 1917 restlos zur Ablieferung gelangt. Hinfort sah man Radfahrer, die sich im Schweiße ihres Angesichts auf Rädern mit Drahtspiralen abquälten. Auch die gebrauchten Flaschenkorke sammelte man ein. Am 4. Juli rief der Landrat zum Sammeln der großen Brennessel zur Fasergewinnung auf...“ (Schweinitzer Kreisblatt am 26.9.42).

Die Seydaer Orgelpfeifen sollen nicht weit gekommen sein! Ein Seydaer Werkzeugmacher will sie selbst später noch auf dem Schutt zerknickt gefunden haben. Erst nach langer Zeit konnten die Pfeifen durch Zinkpfeifen ersetzt werden, die heute noch genutzt werden. Die originalen Zinnpfeifen hatten einen weicheren Klang, eine Umrüstung (wie in Jessen) hat sich die Kirchengemeinde aber bis heute noch nicht leisten können.

 

Durch den Krieg veränderte sich die Gesellschaft. Die Männer fehlten, die Frauen hatten ihre Arbeit zu übernehmen. Im Winter 1916/1917 hatte der Erschöpfungsgrad der Bevölkerung die Grenzen des Ertragbaren erreicht (G III, 79): Unterernährung, Magen- und Darmerkrankungen, Tuberkulose waren verbreitet. In der Schule waren die Ferien verlängert worden - infolge der „Kohlennot“. Großstadtkinder werden wegen Unterernährung aufs Land, also nach Seyda und in die umliegenden Dörfer, verschickt.

Der Glaube an die Autoritäten zerbrach: der Kaiser mußte schließlich abdanken, und auch die Kirchenvertreter, die sich für den Krieg stark gemacht hatten, erlitten einen großen Glaubwürdigkeitsverlust.

 

Im April 1917 forderten in ganz Deutschland mehr als eine halbe Million Menschen Frieden und Brot. Auch in Wittenberg fanden Streiks statt (G III, 80).

Die Gadegaster Schulchronik berichtet:

Revolution in Deutschland.

In der Nacht vom 8. zum 9. November des Jahres ist in Deutschland die Revolution ausgebrochen. Überall haben Arbeit- und Soldatenräte die Gewalt an sich gerissen. Kaiser Wilhelm hat auf den Thron verzichtet und sich nach Holland begeben. Ebenso haben sämtliche Fürsten Deutschlands ihre Kronen niedergelegt und alle deutschen Staaten haben sich zu Republiken erklärt. An der Spitze Deutschlands steht ein "Rat der Volksbeauftragten" von 6 Mann, gebildet von den Sozialdemokraten und den Unabhängigen. Vorsitzender (Reichskanzler) ist Sozialdemokrat Ebert. (u. Haase). Kontrolliert wird die Regierung vom Vollzugsrat des "Berliner Arbeiter- und Soldatenrats". Der Einberufung einer "Nationalversammlung" setzten die Unabhängigen und besonders die noch radikaleren Spartakusse Widerstand entgegen. Erstere Partei hat aber doch zugestimt und so sind die Wahlen vorläufig auf den 16. Februar 1919 angesetzt. Auch in Preußen hat sich eine neue Regierung gebildet aus denselben Parteien. Das Kultusministerium verwalten die Sozialdemokratischen Abgeordneten Adolf Hoffmann und Hänisch. Als Programm haben sie die Trennung von Kirche und Schule und Staat - Kirche aufgestellt.“

 

„123 Krieger starben den Heldentod.“ so schreibt es Pastor Dr. Graf in die Turmkugel 1929. Die Trauer blieb, später wurde ein großer Gedenkstein auf dem Friedhof, ein Quader, gesetzt. Daneben war große wirtschaftliche Not über das ganze Land gekommen. Die alten Strukturen waren zerbrochen, die erste Demokratie in Deutschland, die Weimarer Republik, entstand 1919. Verbreitet in den Köpfen und Herzen war aber die Sehnsucht nach der „guten alten Kaiserzeit“ und, in Verkennung der Tatsachen, eine „Dolchstoßlegende“, die besagte, die neuen Machthaber wären als „Novemberverbrecher“ schuld an der schlimmen Lage in Deutschland.

Pfarrer Voigt blieb bis zuletzt und auch noch nach Kriegsende „kaisertreu“. Noch 1993 wurde die schwarz-weiß-rote Fahne in seinem Nachlaß gefunden.

 

Ein ausführliches Quellen- und Literaturverzeichnis findet sich am Ende des letzten Bandes.