Die
Geschichte
der
Kirche
in
Seyda.
5. Die
Kaiserzeit (1871-1918)
Durch
das Bündnis mit Napoleon hatte Sachsen nach den Befreiungskriegen große
Gebietsteile abtreten müssen. Dazu gehörte auch das Amt Seyda, was seit 1816
zur neugegründeten preußischen „Provinz Sachsen“ gehörte und aufgelöst
wurde. Noch lange hielten sich die Widerstände gegen Preußen, man wollte
wieder zu Sachsen zurück. Jedoch ging die Zeit über diesen Wunsch hinweg. Die
Reichseinigung 1871 tat ihr übriges, man war nun Deutscher, und der preußische
König war Kaiser für alle. Ein langer Traum war damit in Erfüllung gegangen:
Keine Grenzen, keine Kriege mehr innerhalb Deutschlands! Noch 1866 kämpften
auch Seydaer in der „Schlacht bei
Langensalza“ (Preußen
siegen gegen Hannoveraner). Danach brach eine Cholera in
Seyda aus, durch mitgebrachte Krankheitserreger.
Der
gewonnene Krieg gegen Frankreich 1870/71 stärkte das Nationalempfinden. Nun gab
es endlich ein einiges Deutschland! Am 25. April 1871 wurden auf dem Marktplatz
in Seyda zwei Linden gepflanzt, die nördliche: die Kaiser-Linde, die südliche:
die Friedenslinde. Beide wurden von dem Kaufmann Gustav Knade geschenkt.
„Mit der in den siebziger Jahren des 19.
Jahrhunderts einsetzenden Gründerzeit und den nachfolgenden Jahren des 20.
Jahrhunderts nahm auch Seyda einen kleinen wirtschaftlichen Aufschwung. Ab 1885
kamen durch die Einführung von Schutzzöllen bessere Zeiten für die Einwohner,
die Industrie hob sich, und die Landwirtschaft erholte sich. Gegen Ende des 19.
Jahrhunderts, mit dem Aufkommen von Maschinen und der Errichtung zweier Sägemühlen
in der Stadt, hatte sich eine Industrie in bescheidenem Umfang entwickeln können.
An handwerklichen Betrieben dominierten die holzverarbeitenden wie Tischlereien,
Stellmachereien, Böttchereien.“ (Heimatbuch
52).
Deutschland
wurde ein Industriestaat. Durch die fünf Milliarden Franc französische
Kriegskontributionen konnte viel investiert werden. Deshalb bezeichnet man die
Jahre 1871 bis 1873 auch als die Gründerjahre. Das „Stahlzeitalter“ begann,
in den 80iger Jahren löste der Elektromotor die Dampfmaschine ab.
In Seyda wuchs
die Bevölkerung noch einmal: 1875 zählte die Stadt 1.690 Einwohner, 1880 waren
es 1.683, 1885 1.794 Einwohner. Doch dann verstärkte sich die Abwanderung in
die Städte kräftig, und die Bevölkerungszahl sank allmählich.
Neben den vielen
Handwerksbetrieben, den 8 Gaststätten und später fünf Tankstellen in Seyda
spielte die Landwirtschaft immer noch eine wichtige Rolle. In der 2. Hälfte des
19. Jahrhunderts wurde begonnen, den Boden künstlich zu düngen, und die
Mechanisierung brachte Dampfpflüge, Drill- und Dreschmaschinen; die von
kleineren Betrieben freilich nur ausgeliehen werden konnten. „In keinem
anderen Gebiet Deutschlands war die Mechanisierung so weit fortgeschritten wie
hier“, in der Provinz Sachsen. (G
III 20).
Der
„preußische Geist“ wurde zu einer Sache aller Deutschen. Die Sekundärtugenden
wurden von Kindesbeinen anerzogen: Fleiß, Pünktlichkeit, Bescheidenheit. Ihre
Ausübung schuf durch ein Heer von Arbeitern großen materiellen Reichtum.
Ausdruck findet dieser „Geist“ auch in den Chorälen, wie zum Beispiel in
diesem:
„Gib, daß ich tu mit Fleiß, was mir zu tun gebühret,
wozu mich dein Befehl in meinem Stande führet. Gib, daß ich´s tue bald, zu
der Zeit, da ich soll, und wenn ich´s tu so gib, daß es gerate wohl!“
(Evangelisches
Gesangbuch Nr. 495, 2. Strophe; vgl. Sebastian Haffner: Preußen ohne Legende,
Hamburg 1978, S. 81, bei Christian Graf von Krockow, Der deutsche Niedergang,
Stuttgart 1998, S. 32.).
Freilich hatte
dieser preußische Sinn auch seine Pervertierung im „bedingungslosen
Gehorsam“, der Deutschland später in den Abgrund geführt hat. In dem
genannten Choral soll da ein Riegel vorgeschoben werden:
„O Gott, du frommer Gott, du Brunnquell guter Gaben,
ohn den nichts ist, was ist, von dem wir alles haben:
gesunden Leib gib mir und daß in solchem Leib ein unverletzte Seel und rein
Gewissen bleib.“ (1.
Strophe, aaO).
Der Leitspruch
der preußischen Könige, soweit sie fromm waren, hieß: „Die auf den Herren harren, kriegen neue Kraft, dass sie auffahren mit
Flügeln wie Adler, dass sie laufen und nicht müde werden, dass sie wandeln und
nicht matt werden.“ (Aus
der Bibel, Jes 40,31).
Daher kommt das
preußische Wappen, der Adler, der später zum Reichs- und Bundesadler wurde und
auch heute (noch!) auf unseren Münzen zu sehen ist.
Die
Schwarz-Weiß-Rote Flagge war seit 1876 auf Betreiben Bismarcks Nationalfahne,
schwarz-weiß für Preußen und rot-weiß für Brandenburg und viele Städte
(auch Seyda).
Seyda
sah damals ganz anders aus: Die Wege waren noch nicht gepflastert. „Das
Stadtbild erhielt in früheren Jahrzehnten sein Gepräge durch die zum Teil
recht stattlichen Birnbäume auf dem Markt, in der Jüterboger, Zahnaer, Neuen
und Triftstraße. Diese Bäume verschwanden gelegentlich der Straßenpflasterung
um die Jahrhundertwende.“ (Brachwitz,
aus HK 5/1996, S. 4).
Die Neue Straße
war tatsächlich die Neue Straße: dort war die Stadt zuende. Die Häuser waren
zumeist Fachwerkhäuser, aus Lehm gebaut, mit dem Giebel zur Straße. Auf der
Straße standen Pumpen, das Abwasser floß auch die Straße herunter. Viel mehr
wohnten in einem Haus, in einem Zimmer, als heute! Typisch waren kleine
Handwerksbetriebe mit Landwirtschaft im Nebenerwerb.
Der
schwarze Storch, der seit mehreren Jahren im Jagen 112 der fiskalischen Forst
bei Seyda nistete, stellte sich auf 1880 wieder ein.
(Schweinitzer
Kreisblatt 13.8.38, Vor rund 60 Jahren.).
Der
wirtschaftliche Aufschwung hatte Auswirkungen auf unsere Stadt. Zwischen 1874
und 1881 wurden in Preußen 6.000 neue Schulen gebaut. (G
III, 35).
Auch in Seyda,
im Jahre 1881. Genau 99 Jahre hat das Gebäude als Schule gedient, nun ist es
Kindertagesstätte. Ein Drittel der Kosten trug damals die Kirchengemeinde, ein
Zeichen dafür, wie eng Stadt und Kirche miteinander verbunden waren. Über der
Tür in dem noch heute gut zu sehenden gemauerten Kasten stand bis zur
Hitlerzeit in goldenen Buchstaben: „Marc
10,14.“ Im Markusevangelium Kapitel 10 Vers 14 sagt Jesus: „Lasst
die Kinder zu mir kommen und wehret ihnen nicht, denn solchen gehört das Reich
Gottes!“
Zwar lag in Preußen
seit 1872 die Schulaufsicht beim Staat, das änderte in Seyda aber nichts daran,
dass der Superintendent weiter „Kreisschulinspektor“ und der Pfarrer „Ortsschulinspektor“
blieben. Deshalb findet man im Kirchenarchiv auch für diese Zeit viele
Dokumente zur Schule.
„Das Schulhaus ist 1881 auf dem früher Wäsch´schen
Grundstücke erbaut für rund 27.000 M, wovon die Kirche 1/3 getragen hat; für
dieselbe ist eine Küster-Dienstwohnung mit eingebaut, außerdem 6 Schulklassen,
die eine dient als Schulsaal, in einer andern ist das „Heimatmuseum“
untergebracht, welches 1908-10 von den Herren Pfarrer Heinecke, Lehrer Fueß und
Lehrer Brachwitz gegründet worden ist. Das alte Schulhaus wurde 1882
abgebrochen, und die Grundfläche nebst dazu gehörigen Küstergarten wurde dem
Diakonate zugeteilt.“
(Gerhardt
in Heimatbote vom 8.7.1927)
Die alte Schule
stand also in dem heutigen Garten zwischen dem Haus Kirchplatz 2 und der
Schulstraße.
Aus
dem Kirchenarchiv:
Schulaufsicht
1895 - 1905
April
1899
Klasse
I a
44
Knaben, davon Seyda 40, Mellnitz 3, Schadewalde 1
Klasse
I b
38
Mädchen, davon Seyda 34, Mellnitz 1, Schadewalde 3
Klasse
II a
54
Knaben, davon Seyda 47, Mellnitz 4, Schadewalde 3
Klasse
II b
44
Mädchen, davon Seyda 42, Mellnitz -, Schadewalde 2
Klasse
III
24
Knaben, davon Seyda 19,Mellnitz 3, Schadewalde 2
16
Mädchen, davon Seyda 15, Mellnitz 1, Schadewalde -
Klasse
IV
27
Knaben, davon Seyda 24, Mellnitz 2, Schadewalde 1
20
Mädchen, davon Seyda 18, Mellnitz -, Schadewalde 2
gesamt:
267,
davon Seyda 239, Mellnitz 14, Schadewalde 14
davon
Seyda 130 Knaben, Mellnitz 12 Knaben, Schadewalde 7 Knaben
davon
Seyda 109 Mädchen, Mellnitz 2 Mädchen, Schadewalde 7 Mädchen
Vom
Kaiser wurde festgelegt, dass das neue Jahrhundert mit dem Jahr 1900 beginnt!
Dazu kam eine Dienstanweisung aus Merseburg „Über
die würdige Begehung des Jahrhundertwechsels an den Schulen“:
" Mit allerhöchster Ermächtigung
bestimme ich hierauf Folgendes:
In allen Lehr- und
Erziehungsanstalten ist am letzten Schultage vor den bevorstehenden
Weihnachtsferien Schülern und Schülerinnen in einem festlichen Akte unter
Hinweis auf die Bedeutsamkeit der nächsten Jahreswende ein Rückblick auf die
großen Ereignisse des zu Ende gehenden Jahrhunderts zu geben und ihnen zum Bewußtsein
zu bringen, wie es Pflicht des heranwachsenden Geschlechtes sei, mit Dank gegen
Gott das von den Vätern überkommene Erbe in Treue zu bewahren und fördern zu
helfen. ... Die den besonderen örtlichen Verhältnissen angemessene
Ausgestaltung der Feierlichkeit im Einzelnen bleibt den Schulleitern überlassen.
Berlin, den 13. Dezember 1899
Der Minister der geistlichen,
Unterrichts- und Medizinal-Angelegenheiten
gez. Studt“
Wie
eng Kirche und Schule verbunden waren, zeigt auch die Feier zur Schulentlassung
im Jahr 1900:
„Gesang: "Ich habe nun den
Grund gefunden" V. 1-3
(Evangelisches
Gesangbuch Nr. 354: 1. Ich habe nun den Grund gefunden, der meinen Anker ewig hält;
wo anders als in Jesu Wunden? Da lag er vor der Zeit der Welt, der Grund, der
unbeweglich steht, wenn Erd und Himmel untergeht. 2. Es ist das ewige Erbarmen,
das alles Denken übersteigt; es sind die offnen Liebesarme des, der sich zu den
Sündern neigt, dem allemal das Herze bricht, wir kommen oder kommen nicht. 3.
Wir sollen nicht verloren werden, Gott will, uns soll geholfen sein; deswegen
kam der Sohn auf Erden und nahm hernach den Himmel ein, deswegen klopft er für
und für so stark an unsers Herzens Tür.)
(Biblische) Schriftverlesung
und Gebet
Gesang: "Ich will dich lieben,
mein Meister" V. 1-2
Deklamation:
Mädchen: "Wenn du noch eine
Mutter hast"
Knaben: "Wenn du noch einen
Vater hast", "Das Vaterhaus"
Gesang: "Ich will dich
lieben", V. 6-7
Ansprache des Lehrers
Gesang: "Ich will dich
lieben", V. 8
Vaterunser und Segenswunsch
Gesang: "Ach, bleib mit deiner
Treue" (Evangelisches
Gesangbuch Nr. 347: Ach, bleib mit Deiner Treue bei uns, mein Herr und Gott,
Beständigkeit verleihe, hilf uns aus aller Not.).““
Auch
über die Lehrer geben die Akten (des Kirchenarchivs!) Auskunft:
Lehrerdiensteinkommen
1900 (Jahresgehalt)
„Fiebler,
Friedrich Franz, geb. 18.5.1840, erster Mädchen- und Hauptlehrer, Küster
Dienstalter
40 Jahre, Grundgehalt 1.450 M, Mietzuschuß 140 M, Alterszulage 1.080 M,
zusammen
2.670 M,
Wagner,
Friedrich Ernst, geb. 13.10.1840, erster Knabenlehrer und Kantor
Dienstalter
11 1/2 Jahre, Grundgehalt 1.300 M, Mietzuschuß 120 M, Alterszulage 240 M,
zusammen 1.660 M
Träger,
Max Hugo, geb. 26.6.1863, zweiter Mädchenlehrer und Küster in Mellnitz
Dienstalter
16 1/2 Jahre, Grundgehalt 1.150 M, Mietzuschuß 120 M, Alterszulage 480 M,
zusammen
1.750 M
Döhring,
Franz Friedrich, geb. 26.2.1863, zweiter Knabenlehrer
Dienstalter
14 !/2 Jahre, Grundgehalt 1.000 M, Mietzuschuß 120 M, Alterszulage 360 M,
zusammen
1.480 M
Teichler,
Hugo Wilhelm, geb. 26.5.1878, 5. Lehrer
Dienstalter
1 Jahr, Grundgehalt 1.000 M, Mietzuschuß 120 M
zusammen
1.120 M“
Was
die Kinder lernten und die Lehrer leisteten, wird vom Superintendenten und
Pfarrer genau überprüft:
„Bericht über die Schulrevision
am 11.10.1900 in Seyda
an die Königliche
Kreisschulinspektion in Zahna
1. Knabenklasse
Der Lehrer Wagner hat in der ihm
anvertrauten Klasse mit Fleiß und gutem Lehrgeschick gearbeitet. Besonders
anzuerkennen ist die gute Schulzucht und die ... gleichmäßige Ausbildung ...
Schüler. In der Religionssache besitzen die Kinder meistens gute
Kenntnisse.
" ..." (ein Gedicht) wird
mit guter Betonung vorgetragen, auch wissen die Schüler über den Inhalt des
Gedichtes befriedigend Auskunft zu geben.
Die Leistungen in Raumlehre,
Naturkunde und Geschichte, Geografie, Singen und Schreiben sind befriedigend.
Das Zeichnen ist ebenfalls mit Fleiß
betrieben, aber es wird ausschließlich nach Vorlagen gearbeitet und zwar werden
meistens Handschriften zur Vorstellung gebracht. Es müssen mehr die
Anforderungen des bürgerlichen Lebens berücksichtigt, fleißig nach Körpern
und auch Ornamenten gezeichnet werden. Wir verweisen hierbei auf die weiteren mündlichen
Ausführungen des Revisors.
Es sind für den Zeichenunterricht
... zu beschaffen.
1. Mädchenklasse
Diese steht in ihren Leistungen
weit hinter der ersten Knabenklasse zurück. Am meisten zu rügen ist das leise
und durchaus ungeübte Sprechen der Kinder. Der Hauptlehrer Fiebler scheint
nicht träge zu sein, aber es fehlt ihm an Lehrgeschick und Lehrtemperament. Er
ist sehr behäbig und in derselben Behäbigkeit und Eintönigkeit spinnt sich
auch der Faden seines Unterrichtes ab.
Bei der Prüfung in der Religion
melden sich nur wenige Mädchen zum Antworten, die unterrichtliche Behandlung
ist mechanisch und oberflächlich.
Im Rechnen ist wenig Übung und
Sicherheit vorhanden. Die 2. Abteilung ist nicht einmal im Stande, eine
7stellige Zahl zu lesen. Bei einem auf der Tafel auszurechnenden
Divisionsbeispiel mit 2stelligem Divisor versagen die Schülerinnen gänzlich.
Deutsch: die Lehrfertigkeit ist im
Ganzen befriedigend. Bei Besprechung eines Lehrfachs zeigen sich die Mädchen
sehr ungeschickt und im Sprechen wenig geübt.
Die Kenntnisse in Naturkunde sind dürftig,
in Geografie ungenügend.
Der Gesang ist ziemlich
befriedigend.
Im Zeichnen müßte mehr geleistet
werden, übrigens ist das in Bezug auf das Zeichnen der 1. Knabenklasse gesagte
auch hier zu berücksichtigen. Die Handschriften sind im Ganzen befriedigend. Es
ist dafür Sorge zu tragen, daß bei dem Unterricht in weiblichen Handarbeiten
feine Nadelarbeiten nicht angefertigt werden.
2. Knabenklasse
Der Lehrer Döring hat ..., aber
doch keineswegs in der pflichtmäßigen Weise ausgenutzt.
Die Prüfung in der biblischen
Geschichte führt zu einem im ganzen befriedigenden Ergebnis. Die Leistungen im
Rechnen, Geografie und Naturkunde sind ziemlich befriedigend.
Die Lehrfertigkeit ist nicht
befriedigend, im Beten und Sprechen ist wenig Übung vorhanden.
In Geschichte wissen die Kinder
eigentlich nichts.
Die vorgelegten Handschriften und
Zeichnungen sind ziemlich befriedigend.
Wir ersuchen Sie, dem Lehrer Döhring
unser rechtes Mißfallen auszusprechen und ihm mit allem Nachdruck zu fleißiger
Arbeit anzuhalten.
Die 2. Mädchenklasse, welche von
dem Lehrer Träger unterrichtet wird, befindet sich in einem durchweg
befriedigenden Zustand. Der ... Lehrer hat mit ... Treue gearbeitet und seinen
Schülerinnen nicht nur das nötige Wissen vermittelt, sondern auch als Erzieher
in ...werter Weise auf sie eingewirkt. Die Leistungen in Religion, Deutsch,
Rechnen und Singen sind befriedigend, in Geschichte und Geografie gut. Die
vorgelegten Handschriften und Zeichnungen sind ziemlich befriedigend.
Die 3. und 4. Klasse (gemischt) mit
verkürzter Unterrichtszeit sind dem Lehrer Teichler anvertraut. Der genannte
hat sich Mühe gegeben, seine Schüler in angemessener Weise zu fördern, aber
dennoch zeigen sich einige nicht unerhebliche Lücken. Am meisten ist dies beim
Rechnen in der 4. Klasse der Fall, weshalb der Lehrer ... diesem
Unterrichtsgegenstand eine ganz besondere Pflege zu Theil werden lassen muß.
Die Leistungen in den übrigen
Unterrichtsfächern sind ziemlich befriedigend.
Der Turnunterricht (Lehrer Döhring)
wird ordnungmäßig betrieben; es muß jedoch das Turnen an den Geräten fleißiger
geübt werden.
Zur Beseitigung des starken Zuges
im unteren Hausflur wollen Sie dem Schulvorstande die Anbringung von 2
beweglichen Thüren aufgeben. Beim Bau des Schulhauses ist augenscheinlich eine
solche Einrichtung ins Auge gefaßt gewesen zu sein, ist dann aber später wohl
in Vergessenheit gerathen. Bericht zur Sache erwarten wir innerhalb 4 Wochen.
Die Kreisschulinspektion
Glaser
P.
und Ortsschulinspektor“
Aber
auch außerhalb der Akten gibt es Überlieferungen:
Von 1863 bis
1903 unterrichtete in Seyda der bereits erwähnte Lehrer Fiebler. Über ihn
dichteten die Kinder einen Reim, der bis heute (nach 100 Jahren!) nicht
vergessen ist und viel über den Schulalltag dieser Zeit aussagt:
„Alle Menschen müssen sterben,
nur der dicke Fiebler nich.
Hosen hat er zum Erbarmen,
passen keenen Menschen nich.
Wenn die Glocke achte schlächt,
kommt der Fiebler angefecht,
mit den Rohrstock unterm Arm,
schlächt die Jungens krumm und lahm...“
Bis
1922 wurden in Seyda Mädchen und Jungen getrennt unterrichtet! Ein Höhepunkt
des Jahres ist natürlich das Schul- (und Heimat)fest, bis heute!
„Es
gibt Unstimmigkeiten über die Feier des Schulfestes 1901. In einer
Lehrerkonferenz wurde von einem nicht Genannten geäußert: "Seyda mit
seinem Rummel". So findet das Schulfest 1901 nach einem Beschluß des
Schulvorstandes nicht statt. Statt dessen wird am 18. August eine patriotische
Gedenkfeier und ein Bürgerfest gefeiert. Die Kosten dieses Festes sollen aus städtischen
Mitteln bestritten werden. Die Feier selbst soll um 1 Uhr Nachmittag durch einen
Aus- und Umzug in der Hauptstraße der Stadt erfolgen, den Kindern ein kleines
Geschenk gereicht, sowie ihnen Bier (!) und Kuchen auf dem Festplatz verabfolgt
werden. Die Beaufsichtigung der Kinder bei der Feier, die Verteilung von Kuchen,
Bier und Geschenken übernehmen die Mitglieder der Stadtverordnetenversammlung.
Die
Gemeinden Mellnitz und Schadewalde sollen zur Theilnahme an der Festfeier
eingeladen werden. Abends findet ein Einzug in die Stadt und nach demselben ein
geselliges Beisammensein der Bürgerschaft bei musikalischer Unterhaltung im Schützenhause
statt. ... Die Veranstaltung dieser Feier geschieht ganz besonders aus
patriotischem Antriebe zur Erinnerung an die Schlachten am 15. und 18. August
1870, um die Erinnerung jener denkwürdigen Zeiten bei der Jugend wachzuhalten.
Am
Abend des 17. August soll zur Einleitung der Festfeier Zapfenstreich und am 18.
August früh Reveilette („Aufweckung“) stattfinden.
Die
Herren Geistlichen und Lehrer sollen zur Feier eingeladen werden.
gez.
Roeder Schulze
Schlawig Thiele
der
Magistrat Ganzert.“
Die
Zuckertüte kam übrigens erst 1910 auf, zuerst in der Magdeburger Börde. (G
III, 60).
Auch
Schulschwänzerei gab es damals schon. Bei Schulversäumnis wird Strafantrag
gegen die Eltern gestellt. Ein „Formular“ muß ausgefüllt werden:
"...,
daß der ... wegen Schulversäumnisses seines Sohnes mit (einer) Mark bestraft
worden ist und er diese Strafe an die hiesige Schulkasse gezahlt hat."
Finanzielle
Engpässe bei der Einstellung von Lehrer werden 1903 berichtet. Da wird auf
einen Antrag zur Einstellung eines Lehrers oder Schulamtskandidaten geantwortet:
"...,
dass wir wegen des herrschenden Lehrermangels eine bestimmte Zusage nicht machen
können."
Interessant
ist auch die Nachfrage von Amts wegen über die Kinderarbeit, die nach Erzählungen
allerdings nicht ganz wahrheitsgemäß beantwortet wurde: Viele berichten, dass
sie schon früh vor der Schule und auch hinterher hart arbeiten mußten.
„Bericht
über die Beschäftigung von Kindern:
Seyda,
den 7. December 1904
1.
Im Haushalt werden in hiesiger Stadt nur einige Kinder beschäftigt. Ihre Arbeit
besteht darin, daß sie einzelne Botengänge besorgen. Hierin liegt weder für
die Schule noch für ihre körperliche Entwicklung irgend eine Gefahr.
2.
In den landwirtschaftlichen Betrieben werden während der Herbstferien
verschiedentlich Kinder beim Kartoffelausnehmen gegen Lohn beschäftigt. Die
Kinder gehen dieser Arbeit gerne nach, da sie körperlich nicht allzusehr
anstrengend ist. Es ist hierin wohl kaum eine Gefahr für die Gesundheit,
Sittlichkeit oder den Schulunterricht zu erblicken.
gez.
Röhr
Vorstehender
Beurteilung schließe ich mich an mit der Hinzufügung, daß als Grund der
Kinderbeschäftigung die Bedürftigkeit der Eltern anzusehen ist.
gez.
Langmass Präger“
Schließlich
hat der Superintendent und Oberpfarrer Glaser auch das Disziplinarrecht über
die Lehrer:
Lehrer
Röhr erhält einen schriftlichen Verweis am 10. März 1905 wegen Veröffentlichung
eines Artikels in der "Zahnaer Zeitung" und dem "Seydaer
Anzeiger":
"Wir
mißbilligen in hohem Maße Ihr Verhalten, welches sich nicht mit ihrer
Verehrung des Offizierstandes rechtfertigen läßt, durch das vielmehr Ihr
Ansehen als Lehrer und Erzieher der Jugend stark beschädigt wird. Sie haben
leider schon wiederholt sowohl in Gadegast als auch in Seyda berechtigte Klagen
hervorgerufen. ... Sollten Sie unserem Verbote zuwiderhandeln, so sehen wir uns
genötigt, mit den schärftsten Disziplinarmitteln gegen Sie einzuschreiten und
zu erwägen, ob das Disziplinarverfahren mit dem Ziele der Dienstentlassung
gegen Sie einzuleiten ist.
gez.
Glaser Oberpfarrer“.
(Seydaer
Kirchenarchiv, Findbuch 927).
Im
Jahre 1881 wurde auch die Orgel in der Kirche neu gebaut. Es ist schon
erstaunlich und spricht für die Zeit, dass die Kirchengemeinde sich beides,
Orgel und Schule, in einem Jahr leisten konnte.
Die Orgel ist
eine der Stadtkirche angemessenes Instrument eines der besten sächsischen
Orgelbaumeister dieser Zeit: Conrad Geissler. Seit 1994 hat die Kirchengemeinde gute Kontakte zu
einem profunden Geissler-Kenner und Orgelliebhaber, Herrn Jiri Kocourek aus
Dresden. Er trug viele Informationen über diesen Orgelbauer zusammen und
erfreute die Gemeinde oft mit dem Orgelmusiken. Im Sommer des Jahres 2.000 fand
in Seyda eine Orgeltagung anläßlich des 175. Geburtstages von Conrad Geissler
statt, in der durch das Zusammentreffen verschiedener Spezialisten erstmals alle
120 Geissler-Orgeln aufgeführt werden konnten.
Die alte Orgel
sollte schon lange, seit 27 Jahren, repariert werden, es fehlten die Mittel
wegen nötiger Turmsanierung (1854) und Innenrenovierung der Kirche.
Die
alte Orgel:
„Seyda,
den 10. März 1880
Bericht
über die hiesige Kirchenorgel
Die
hiesige Orgel, etwas über 150 Jahre alt, ist von mir seit dem 31. Dezember
1841 gespielt worden.
Die
Disposition derselben war früher folgende:
A.
Pedal: 1. Subbass 16 ´ 2. Violan
8´ 3. Octavbaß 8´ .
B.
Hauptmanual: (1.-9.)
C.
Obermanual (1.-5.)
Im
Jahre 1851 wurde von mir ihr Neubau, weil sie zur wirksamen Leitung des
Gemeindegesangs zu schwach war, angeregt, und es sind zu dem Ende 3
Orgelbauanschläge von Petersilie in Langensalza, Ladegast in Weißenfels und
Baumgarten in Zahna eingereicht worden.
1852
wurde der Musicdirekctor Engel aus Merseburg herberufen, die Orgel zu
untersuchen und ein Gutachten darüber auszustellen, was ebenfalls nur die
Unzulänglichkeit des Werks zur Leitung des Kirchengesangs bestätigte. Der
Neubau unterblieb aber, weil der Thurm einen Neu- und das Innere der Kirche
einen Umbau nöthig machte, wodurch das Kirchenvermögen zu sehr in Anspruch
genommen wurde. Bei der Wiederaufstellung der Orgel nach dem ausgeführten
Thurm- und inneren Kirchenumbau blieben die Stimmen: Mixtur, Bass- und Süfflöte
weg, weil viele Pfeifen defect und nicht zur Ansprache gebraucht werden könnten.
Über
die noch jetzt vorhandenen 14 Stimmen ist zu bemerken:
In
den Pedalstimmen ist der große Wurm, welcher große Verwüstungen angerichtet
hat, so daß nur die wenigsten Pfeifen ansprechen. In den Manualen sind die
zinnernen Pfeifen von schlechtem dünnem Material, sind im Tone ganz ungleich
und schwach, viele sind auch angebrochen.
Die
Windladen sind zu klein und ohne gehörige Windberechnung hergestellt, daher
die Abnahme der Lautstärke und die scheinbare Verstimmung, wenn das ganze
Werk gespielt wird.
Das
Registrierwerk ist ebenfalls in desolatem Zustande. So kommt es öfter vor, daß
im Hauptmanual 3 oder 4 nebeneinanderliegende Tasten zusammen niedergehen und dadurch Harmonie
und Melodie (revinieren).
Eine
umfassende Reparatur würde auch Geld kosten und doch nicht alle Mängel
beseitigen; deshalb erscheint es nöthig, die alte Orgel durch eine neue zu
ersetzen.
Wartenberg
Cantor
und Organist.“
In
den Zeitungen wurde 1880 eine Annonce aufgegeben (so im „Schweinitzer
Kreisblatt“ und in der „Halleschen Zeitung“). Darauf gab es vier
Reaktionen von Orgelbaumeistern.
Der Kirchenrat
trat mit der Firma Geißler in Verhandlung, entschied sich für dessen teurere Variante mit 18 Registern (der Sachverständige
dagegen meinte, eine kleinere Orgel sei für Seyda völlig ausreichend).
Ein Vertrag
zwischen Kirchengemeinde und Orgelbaumeister wurde am 22. August 1880
geschlossen.
Im Frühjahr
1881 sollte die Orgel fertig sein, Geißler bat um eine Verlängerung der Frist
wegen Arbeitskräfteausfall. Diese wurde gewährt, bis September. Zwar wollte er
dies noch einmal hinausschieben, jedoch wurde die Orgel dann zum 17. September
1881 übergeben und abgenommen, zur Zufriedenheit des Musikdirektors Stein aus
Wittenberg, der als Sachverständiger wiederum ein Gutachten schrieb. Der
Briefwechsel der Kirchengemeinde mit Conrad Geissler ist ein schönes
Zeitdokument, er kann hier aber nur in Ausschnitten wiedergegeben werden. (Vgl.
dazu auch die Publikation über die Orgeltagung: „Werk und Wirkung - Conrad
Geissler, Seyda 2.000).
Brief von Conrad
Geissler, sein erstes Angebot:
„Hochwürdiger, hochzuverehrender Herr
Superintendent!
Eure Hochwürden wollen entschuldigen, wenn ich mir
gestatte, Sie mit diesen Zeilen zu belästigen. Aus dem Schweinitzer Kreisblatt
habe ich erfahren, daß Ein wohllöblicher Gemeinde-Kirchenrath in Seyda
beschlossen hat, eine neue Kirchenorgel zu beschaffen, da ich in der Nähe von
Seyda schon mehrere neue Orgeln, zum Beispiel in der Stadtkirche zu Jessen,
Stadtkirche zu Schweinitz, Gorsdorf, Trajuhn bei Wittenberg, die große Orgel in
der Stadtkirche zu Torgau, so wie im vorigen Jahr, den gänzlichen Umbau der
Orgel in der Stadtkirche zu Schlieben, zur Zufriedenheit der betreffenden
Gemeinden ausgeführt habe, erlaube ich mir, mich bei Euren Hochwürden um den
Bau der neuen Orgel zu bewerben, und ergebenst zu bitten, mir denselben gütigst
übertragen zu wollen.
Recht gern bin ich bereit, selbst nach Seyda zu
kommen, mit Euren Hochwürden über den Orgelbau Rücksprache zu nehmen, und mir
die Räumlichkeiten und Baustyl der Kirche anzusehen, um darnach eine passende
Disposition nebst Kostenanschlag und Zeichnung anzufertigen zu können.
Zu meiner Empfehlung bin ich so frei, ein Verzeichnis
über die von mir gefertigten neuen Orgeln zur gefälligen Ansicht beizulegen,
und bin gern auch erbötig, Zeugnisse und Revisionsprotocolle über meine größeren
Orgeln von sachverständigen Revisoren zur Einsicht zu übersenden, auch würde
Herr Musikdirector Stein in Wittenberg gewiß gern Auskunft über meine
Leistungen geben. Auch darf ich die Versicherung aussprechen, daß es mir auch
bei diesem Orgelbau in Seyda Ehrensache sein würde, ein gutes und tüchtiges
Orgelwerk zur allseitigen Zufriedenheit der Kirchengemeinde aufzustellen.
Mit der ergebenen Bitte, mich bei dem Wohllöblichen
Gemeinde-Kirchenrath in Vorschlag zu bringen, und mir gütigst Nachricht darüber
zukommen zu lassen, verbleibe ich mit der Versicherung aufrichtiger Hochachtung
Euer Hochwürden
ergebener Conrad Geißler,
Orgelbaumeister.
Eilenburg, den 24. Februar 1880.“
Andere
Angebote kamen von Nicolaus Schrickel, Orgelbauer in Eilenburg, Karl Herrwagen,
Orgelbauer in Benndorf-Poppel bei Eckartsberga und Friedrich, Orgelbaumeister
in Wittenberg.
Der
„Contract“ mit Geissler wird am 22. August 1880 unterschrieben.
Bedingungen:
-
Bau 1881
-
Abbruch der alten Orgel, so vornehmen, dass diese noch mal in einer kleineren
Kirche aufgebaut werden kann
-
Es wird eine Summe von Fünftausenddreihundertzweiundachtzig Mark vereinbart,
2/3 bei Abnahme, Restzahlung mit
Zinsen
-
Garantiezeit von 8 Jahren wird vereinbart, Mängel verspricht Herr Geissler
sofort zu beseitigen, das Stimmen der Orgel wird vereinbart
-
Bahntransport nach Elster und Fahrt nach Seyda trägt die Kirchengemeinde,
geschieht auf Gefahr des Unternehmers
-
Balgentreter für den Aufbau wird für 14 Tage von der Kirchengemeinde gestellt
-
beide Parteien haben den Kontrakt unterzeichnet.
(Seydaer
Kirchenarchiv, Findbuch 199).
Musikdirektor
Stein aus Wittenberg hat die Orgel abzunehmen und schreibt ein
Revisionsprotokoll am 2. November 1881:
„Revisionsprotocoll.
Am 17. September wurde in Gegenwart
des Herrn Oberpredigers Rietz, des Herrn Diaconus Jentzsch und der Mitglieder
des Gemeinde-Kirchenraths, die von dem Orgelbaumeister Herrn Geißler
gelieferte neue Orgeli n der Kirche zu Seyda durch den Unterzeichnenten
revidiert und abgenommen.
Das äußere der Orgel, im besten
Einklange mit den Chören stehend, giebt sich als ein besonderer Schmuck der
einfachen Kirche kund, aber nicht bloß äußerlich, sondern seinem inneren
Werthe nach, wird das Werk die heilige Stätte zieren...“
So
wurde die Orgel 1881 fertiggestellt, sie hat bis heute 18 Register und ungefähr
so viel Pfeifen, wie Seyda Einwohner hat.
Doch
diese schönen Ereignisse, Schul- und Orgelbau, dürfen nicht darüber hinwegtäuschen,
welche sozialen Verwerfungen die neue Zeit mit sich brachte. Viele waren mit großen
Hoffnungen in die großen Städte gezogen und lebten nun im Elend als
Industriearbeiter, fast ohne Rechte. Die Sozialdemokratie erstarkte. Bismarck
versuchte mit seiner Sozialgesetzgebung, die Folgen der Industriealisierung
sozial abzufedern. 1883 wurde die Krankenversicherung eingeführt, 1884 die
Unfallversicherung, 1889 die Invaliden- und Altersversicherung. (G
III, 30).
In unserer ländlichen
Gegend freilich wurde vieles noch durch die Großfamilien und durch
Nachbarschaftshilfe abgefangen. Jedoch waren auch hier zahlreiche „Tippelbrüder“
bzw. „brotlose Landarbeiter“ als Tagelöhner unterwegs, die kein Dach über
dem Kopf und kaum Brot für den nächsten Tag hatten. Da entstand in Seyda ein
großes christliches Liebeswerk: Die Arbeiterkolonie wurde gegründet, 1883.
Gustav
von Diest, Regierungsrat in Merseburg, war ein Verwandter Friedrich von
Bodelschwinghs, der bereits vorher durch sein diakonisches Engagement in Bethel
bei Bielefeld bekannt geworden war. Er ergriff die Initative zur Gründung einer
Arbeiterkolonie für brotlose Landarbeiter in Seyda.
„In der
zweiten Hälfte des vergangenen Jahrhunderts war es aufgrund einer
wirtschaftlichen Rezession zu Massenentlassungen gekommen. Die Arbeits- und
Obdachlosen erhielten keine staatliche Unterstützung und vagabundierten auf der
Suche nach Arbeit durch das Land. Aber es gab auch viele, die überlegten, wie
diese Not zu lindern sei. Einer davon war der Pastor Friedrich von
Bodelschwingh, der „seinen Brüdern von der Landstraße“ durch „Arbeit
statt Almosen“ zu helfen versuchte. Er gründete am 22. März 1882 die erste ländliche
Heimstätte für wandernde Arbeitslose, die Ackerbaukolonie „Wilhelmshof“ (Westfalen
- T.M.) und machte dort in kurzer Zeit
beste Erfahrungen.“ (Heimatbuch
53).
„Auch in der Provinz Sachsen und im Herzogtum Anhalt
schlossen sich Männer zusammen, um im Sinne und Geiste Bodelschwinghs zu
wirken. Auf Einladung des damaligen Regierungspräsidenten v. Diest - Merseburg
fanden sie sich am 9. November 1882 in Halle zu einer ersten Beratung zusammen,
an der auch Pastor v. Bodelschwingh teilnahm. Am 13. Februar 1883 fand in Halle
die Gründung des Vereins für die Provinz Sachsen und das Herzogtum Anhalt zur
Beschäftigung brotloser Arbeiter mit Sitz in Halle statt. Das Vereinsstatut
wurde beraten und ebenso die pachtweise Erwerbung eines 400 Morgen großen
moorigen Geländes im Revier der Oberförsterei Glücksburg. Nachdem am 3. März
eine eingehende Lokalbesichtigung stattgefunden hatte, wurde in der
Vorstandssitzung am 15. März „die Anlegung der Kolonie Seyda beschlossen“.
Der Grundstein wurde am 10. August gelegt. Maurermeister Zierold aus Seyda führte
die Bauten zur größten Zufriedenheit aus. Nicht jeder Seydaer war mit der Gründung
der „Kolonie“ anfangs einverstanden. Im Schweinitzer Kreisblatt ist
nachzulesen: „... zu keiner anderen Zeit ist der Ort von einer solchen Anzahl
arbeitsloser, vagabundierender Menschen heimgesucht...“, oder: „fast täglich
nächtigen in der dortigen Herberge 15 bis 20 solcher Kunden“. Aber schon ein
Jahr später heißt es: „..., daß hier wirklich unglücklichen... Menschen
wieder soweit aufgeholfen wird, daß sie in die menschliche Gesellschaft wieder
als nützliche Glieder eintreten können“.
Die Kolonisten machten die mit Erlengestrüpp und
saurem Gras bewachsenen Moorländereien um Seyda nach und nach urbar. Durch
Ausheben von zwei Meter breiten Gräben wurden Beete von 800 bis 1.000 m Länge
und 25 m Breite gebildet. Die Gräben leiteten das Grundwasser in den zentralen „Morgengraben“, wodurch sich der
Grundwasserspiegel erheblich senkte. Die Beete wurden dann planiert und mit 13
cm Sand bedeckt. In der ersten zeit wurde der Sand mit Schubkarren, später mit
der Feldeisenbahn angefahren. es gab 2 km Schienen und 36 Kipploren. Obwohl die
Anstalt für 100 Kolonisten gedacht war, mußte sie bald erweitert werden, denn
manchmal waren es 200 und mehr. Waren die Ernten in den ersten Jahren auch noch
mäßig, so wogten doch bald goldgelbe schwere Getreidefelder in der Seydaer
Flur. Die Regulierung des Hauptgrabens führte zu einem Ernteertrag von 18
Zentner Gerste pro Morgen. Auf den Wiesen wuchsen saftige Gräser, und das Heu
wurde im Frühling gleich an Ort und
Stelle versteigert.“ (Michael
Lange, Leiter des Diest-Hofes von 1984 bis 2.000, im Heimatbuch 53).
Durch
diese Arbeiterkolonie wurde Seyda erneut über die Grenzen des Landes bekannt:
„Am südlichen Abhange des Flämings liegt im Kreise
Schweinitz das kleine Landstädtchen Seyda mit 1.500 Einwohnern, welches wegen
seiner von jeglichem Verkehr abgeschlossenen Lage vor 1883 selbst manchem
Kreiseingesessenen wohl nur dem Namen nach bekannt war, seit dieser Zeit aber in
allen Teilen der Provinz genannt wird als eine Stätte christlicher Nächstenliebe.“ (Die
Provinz Sachsen in Wort und Bild, 295). Nach dem Muster
der Arbeiterkolonie Seyda sind in Deutschland noch 30 solcher Anstalten
entstanden, darunter noch eine in der Provinz Sachsen, in Magdeburg. (ebenda, 295).
Für
die „Brüder von der Landstraße“
wurden Fachwerkhäuser errichtet, die auch heute noch zu sehen sind: ein
Anstaltsgebäude, ein Kolonistenhaus, ein Wirtschafts- und Waschhaus. Am Giebel
des ersten Gebäude zur Straße war auf einem Schild der alte hilfreiche Mönchsspruch
zu lesen: „Bete und arbeite!“ Unter der Aufsicht von „frommen Brüdern der Neinstedter Anstalten“ wurde hier vielen
geholfen.
Beachtenswert
ist auch das Gottvertrauen, mit der die Männer um Diest dieses Werk begonnen
haben. Wurde doch bei der Einweihung gesagt: Wir wissen noch nicht, wie wir es
weiter finanzieren und tragen sollen, aber Gott hat uns bis hierher geholfen, er
wird es auch weiter tun.
„Obwohl die Anstalt für 100 Kolonisten gedacht war,
mußte sie bald erweitert werden. Manchmal mußten mehr als 200 Männer
untergebracht werden. Für die Arbeitsleistung erhielt der Kolonist Verpflegung,
Obdach, Wäschereinigung, Licht und Heizung, außerdem eine tägliche
Arbeitsvergütung von 20 bis 50 Pfennigen.“ (Die
Provinz Sachsen in Wort und Bild, 295).
Lassen wir uns
hineinnehmen in das Leben in der „Arbeiterkolonie“ am Beginn unseres
Jahrhunderts in einer zeitgenössischen Beschreibung:
„Rings von Kiefernwald umgeben steht das einfache,
schmucklos gehaltene Gebäude inmitten der Wirtschaftsgebäude da, den Vorübergehenden
durch seine in großen Lettern angebrachte Inschrift „Bete und arbeite!“ den
Zweck unseres Daseins predigend. Manchem Besucher, der vielleicht nur aus
Neugier die Anstalt einer Besichtigung unterzog, mag dieselbe wohl wie ein
Johannes in der Wüste erschienen und ein stummer Bußprediger geworden sein. -
Mit einem geheimen Schauer betreten wir den Hof. Dort unter dem Protal des Gebäudes
auf einer Bank sitzt ein Greis von 70 Jahren, neben ihm ein Jüngling, der kaum
die Kinderschuhe ausgezogen hat; beide sind in tiefe Gedanken versunken.
Vielleicht steigt jetzt vor ihren geistigen
Augen jenes Gebäude mit den undurchdringlichen Mauern und den Gitterfenstern
auf, welches sie vor kurzem noch gefangen hielt. Der freudige Blick des Greises
bei unserem Nahen zeigt uns, daß er sich hier unter dem Zwange der Hausordnung
glücklicher fühlt, als in jener Zeit, da der Ordnungszwang zugleich als Strafe
auf ihm lastete. Doch unter den „Kolonisten“ befindet sich auch mancher, der
unverschuldet in Not geraten ist und Seyda aufsuchte, um nicht noch tiefer zu
fallen. Zwar gehört hierzu eine Selbstüberwindung, zu der nicht jeder fähig
ist, die aber für der Kolonisten späteres Leben nicht ohne Einfluß bleibt.
Unter den 1898 aufgenommenen 196 Personen befanden sich 158 bestrafte und 38
unbestrafte.
Zu den beiden Kolonisten gesellen sich in kurzer Zeit
noch etwa 70 andere, welche von dem Felde heimgekehrt, den Ton der Glocke
erwarten, der sie zur Mahlzeit ruft. Der größte Teil der Kolonisten wird nämlich
auf dem etwa 100 ha umfassenden „Koloniefelde“ mit Landarbeit beschäftigt.
- Einer der drei dienenden Brüder bietet sich uns auf unsre Meldung
bereitwilligst als Führer an, und wir betreten zunächst den im Erdgeschoß
gelegenen Betsaal, in welchem die Morgen- und Abendandachten, sowie die
patriotischen Festfeiern abgehalten werden. Einfach, aber würdig ausgeschmückt
bietet dieser Betsaal mit seinen Wandsprüchen, die uns zwar aus der Bibel
bekannt sind, deren tiefe Bedeutung wir aber hier erst recht erkennen, einen
freundlichen Anblick. Während wir
die
zahlreichen Inschriften lesen, hat der
„Bruder“ vor dem Harmonium Platz genommen, und die unerwartet unser Ohr berührenden
Akkorde des Chorals „Aus tiefer Not schrei ich zu Dir“ verfehlen ihre
Wirkung nicht. - Doch jetzt verkündet die Glocke, daß der Tisch gedeckt ist,
und wir begeben uns unter Führung des Bruders in den geräumigen Speisesaal, in
welchem die dampfenden Schüsseln auf langen Tischen zur Mahlzeit einladen. Wenn
auch die Kost einfach ist, denn es können für Beköstigung pro Tag und Kopf
nur 50 Pfennige verwendet werden, so sind die Speisen doch unter der Leitung
einer tüchtigen Hausfrau außerordentlich schmackhaft und sauber zubereitet.
Diese „große Familie“ muß in
einem noch nicht ganz verdorbenen verlorenen Sohne (Lk
15) die Sehnsucht nach dem trauten Heim erwecken, wo die
sorgende Mutter der Suppe die schönste Würze, die Liebe beigab. Und in der Tat
kehrt ein guter Prozentsatz der Kolonisten nach ihrer Entlassung zur Familie,
zum Heim zurück. Der Gedanke, daß wir uns zwischen zum größten Teil
heruntergekommenen Menschen befinden, schwindet fast gänzlich, und wir lassen
uns auf Einladung des Bruders hier für einige Augenblicke nieder und hören den
Ausführungen desselben über Einrichtung und Hausordnung der Anstalt zu.
Die Kolonie zu Seyda hat 100 Plätze. Bis Ende Februar
1900 wurden insgesamt 6.049 Personen aufgenommen und 5.963 entlassen. Der höchste
Personenbestand von 97 Personen war im Januar 1899 zu verzeichnen. Wegen Überfüllung
brauchte bisher also keinem Bittenden die Aufnahme verweigert werden.
Aufgenommen werden arbeitslose Leute aller Art, ohne Unterschied der Konfession
und des Standes, auch erlittene Strafen
schließen von der Aufnahme nicht aus;
jedoch werden absolut arbeitsscheue Personen wieder entlassen. Der Eintritt
geschieht durchaus freiwillig, denn die Anstalt ist kein Zwangshaus. Der
Aufenthalt dauert gewöhnlich 4 Monate, auf Wunsch aber noch länger. Fügung
unter die Hausordnung ist unbedingtes Erfordernis. Branntweingenuß ist streng
verboten, weil viele der Insassen gerade durch Trunksucht ins Elend gekommen
sind.
Die Hauptbeschäftigung der Kolonisten besteht in
landwirtschaftlichen Arbeiten, Moorkultur nach Rimpauschem System; Gebäude, Hof
und Garten sind Eigentum des „Vereins zur Beschäftigung brotloser Arbeiter für
die Provinz Sachsen und das Herzogtum Anhalt“. Die Kosten der Kolonie werden
gedeckt durch Provinzialzuschüsse, durch Kollektengelder und durch den Ertrag
der Landwirtschaft, welcher sich im Jahre 1899 auf rund 38.000 Mark belief.
Leiter der Anstalt ist der zweite Geistliche in Seyda. In der Kolonie wohnt als
Aufsichtsbeamter ein Hausvater, dem 3 Gehilfen
(„Brüder“) zur Seite stehen, welche
dem Bruderhause des Lindenhofes in Neinstedt angehören. Unter den Kolonisten
sind viele, welche die Anstalt schon öfter als Zufluchtstätte aufsuchten. An
Arbeitslohn erhält jeder Kolonist außer freier Station täglich 50 Pfennig;
das verdiente Geld wird bei der Entlassung gezahlt.
Doch nun müssen wir unsere Schritte beschleunigen, um
noch den Schlafsaal mit seinen sauberen Betten, die Küche mit ihren blanken
Kesseln und Geschirren, die Badeanstalt mit ihren praktischen Einrichtungen und
zuletzt noch die Scheunen mit ihren Maschinen und die Ställe mit ihren glatten
Rindern einer Besichtigung zu unterziehen.
Man kann die Anstalt nur hochbefriedigt mit dem
Wunsche verlassen, daß sie und ihr christlicher Liebesdienst auch fernerhin in
Segen wirken möge.“
(Hermann
Würzberg, Blönsdorf, in: Die Provinz Sachsen in Wort und Bild, 295-297; zur
Arbeiterkolonie vgl. auch HG 12/1913 und HG 5/1931.).
„Brich dem Hungrigen dein Brot.
Die im Elend wandern, führe in dein Haus hinein!
Trag die Last der andern.
Brich dem Hungrigen dein Brot,
du hast´s auch
empfangen.
Denen, die in Angst und Not, stille Angst und Bangen.
Der da ist des Lebens Brot, will sich täglich geben,
tritt hinein in unsre Not, wird des Lebens Leben.
Dank sei dir, Herr Jesu Christ, daß wir dich noch
haben
und dass du gekommen bist, Leib und Seel zu laben.
Brich uns Hungrigen dein Brot, Sündern wie den
Frommen,
und hilf, dass an deinen Tisch wir einst alle
kommen.“
(Evangelisches
Gesangbuch Nr. 418).
So
hat einer gedichtet, der in Seyda in diesen Jahren aufgewachsen ist und das
Leben der Arbeiterkolonie miterlebt hat. Sein Vater war „der zweite Geistliche
in Seyda“ und mit der Betreuung der Arbeiterkolonie beauftragt. Gleichzeitig
hat er in seiner Kinder- und Jugendzeit Sonntag für Sonntag vor unserem Altar
gesessen, in dessen Mitte der Abendmahlstisch dargestellt ist: Sehr schön
geschnitzt, Jesus mit seinen Jüngern beim Mahl. Und im Vordergrund ist auch
schon alles hingelegt: Brot und Kelch, für den, der noch herzukommt. All das
spiegelt sich in dem Lied wieder, was Martin Jentzsch 1951 gedichtet hat. Er
wurde nach Auskunft unseres Gesangbuches (Nr.
957) 1879 in Seyda geboren, war später Pfarrer in
Delitzsch und 1909 Leiter der Flußschiffermission in Berlin, 1919 Pfarrer und
später Kirchenrat in Erfurt und ist dort 1967 gestorben.
Eine
andere recht beliebte Tradition, die auch diakonische Wurzeln hat, verbreitete
sich in diesen Jahren im Land: Der Adventskranz. Er geht auf Johann Hinrich
Wichern zurück, von dem bereits die Rede war, als es um das Jahr 1848 ging.
Wichern, der verwahrloste Jungen in einem „Rauhen Haus“ in Hamburg sammelte,
hängte solch einen Kranz an die Decke, an dem das Licht in der Adventszeit bis
zum Christfest immer mehr wird. Zunächst mit 24 Kerzen, später mit 4 für die
Adventssonntag: Das ist allgemein bekannt geworden, und heute gibt es wohl kaum
eine Familie in Seyda, die nicht solch einen Adventskranz kennt.
Auch unser
Weihnachtsbaum ist noch nicht so alt. Er wurde um 1540 erstmals in Straßburg
gesehen: Der neue Paradiesbaum, mit den Früchten (Kugeln) daran, der erinnert,
dass durch Jesus die Tür zum Paradies wieder aufgetan ist. Am Heiligen Abend
singen wir immer: „Heut schleußt er
wieder auf die Tür zum schönen Paradeis: Der Cherub steht nicht mehr dafür,
Gott sei Lob, Ehr und Preis!“ (Evangelisches
Gesangbuch Nr. 27 Vers 6; vgl. 1 Mose 3). Der
Weihnachtsbaum wurde im 19. Jahrhundert auch in Seyda üblich; aus alter Zeit
bewahrt die Familie Wahle einen besonderen Christbaumständer auf: Er dreht sich
und spielt eine Melodie.
In
Seyda finden sich auch noch andere poetische Talente: im Jahre 1884 gibt die
Schriftstellerin Ottilie Ludwig aus Seyda zwei Bände „Mein Waldesleben“ heraus.
Darüber
berichtet uns wieder der Heimatforscher Oskar Brachwitz: „Das
Wohnhaus der Schriftstellerin und Dichterin Ottilie Ludwig in Seyda. Wenn du
einmal von Wendisch-Linda oder Mügeln nach Seyda wanderst und du nach
stundenlangem Marsch aus dem Walde heraustrittst, so grüßen dich rechts am
Wege die ersten Häuser Seydas, die Arbeiter-Kolonie, zwei Sägemühlen und das
Schützenhaus. Und dahinter wirst du ein Häuschen finden, lauschig versteckt
unter einer mächtigen Linde. Eine Lärche steckt schützend wie ein Pförtner
ihre Zweige über den Eingang zum Garten, Lebensbäume stehen als treue Wächter
an der Seite des Fußsteiges, und dahinter duftet es von zahlreichen
Blumenbeeten. Dies Häuschen ist wahrlich eine Stätte des Friedens, so recht
geschaffen zum Dichten, Träumen und Sinnen. Darum, du eilender Wanderer, raste
hier einen Augenblick und gedenke dabei der Schriftstellerin Ottilie Ludwig, die
lange Zeit in diesem Hause ein Heim gefunden hatte.
Ottilie Ludwig wurde als Tochter des sächsischen
Oberforstmeisters August von Pflugk am 19. April 1813 zu Söllichau bei Düben
geboren. 1852 heiratete sie den Forstmann Ludwig zu Seyda, den sie nach 30jähriger
Ehe durch den Tod verlor. In dem Nachlaß ihres Mannes fand sie forstliche
Schilderungen vor, welche sie ordnete und zu Ehren des Verstorbenen herausgab.
Diese fanden Anerkennung und regten die Herausgeberin zu eigenem Schaffen an. So
wurde die inzwischen 70jährige Frau zur Schriftstellerin. Wöchentlich
erschienen im Unterhaltungsblatt der „Saale-Zeitung“ Erzählungen „Mein
Waldesleben“. 1884 erschienen sie gesammelt in zwei Bänden. Auch Gedichte und
andere Kleinigkeiten fanden bei verschiedenen Veranlassungen in Journalen
Aufnahme.
Wie meisterhaft diese Frau die Sprache beherrschte,
wie treffend sie Bilder aus der Natur literarisch aufzeichnen konnte, beweist
ein kurzer Ausschnitt aus dem o.g. Buch, wo sie einen Kiefernhochwald rechts von
der Dahmschen Straße folgendermaßen beschreibt: „Vor uns ein prächtiger,
masthoher Kiefernhochwaldbestand. Ein Baum so kerzengerade wie der andere
strebte säulengleich dem Himmel zu, oben seinen Wipfel mit dem der
nebenstehenden zu einem grünen Dach vereinigend. Unten am Boden wuchs das stets
grünende Preiselbeerkraut zwischen Stellen, die durch die herabfallenden Nadeln
in hellem Braun glänzten. Gelbgrünes Moos wucherte an den Stammenden der Bäume,
während weiter hinauf weiße, in bläulich spielende Algen in den Borkenrissen
sich zeigten. Es war still, feierlich still in diesem domartigen Hochwald. Nur
ein leises Rauschen ging oben durch die Kronen. Der Dammweg mündet auf einer
ausgedehnten Wiese, die überschritten werden muß, um den Lieblingsplatz zu
erreichen. Hier sind die Torfwiesen. Auf der grünen Rasenfläche wächst ein
gar wunderliches Gewächs, dessen grüne Halme kleine Baumwollbüschel tragen,
wie weiche schneeige Watte bewegen sie sich im Luftzuge und erregen unser
Staunen; es ist eine Grasart, die nur auf trofigem Grunde gedeiht, das Wollgras.
Einige Schritte weiterhin stehen wir vor einer ausgetorsten Stelle, um deren
Rand hohes Schilf wuchert, während in der Mitte eine freie Wasserbank glänzt.
Bald darauf schwimmt aus dem Schilfe eine Ente, gefolgt von ihrer noch sehr
jungen Brut. Wie schwarze Punkte umspielen die Kleinen die Mutter, die unter
Locktönen begierig im Entengries schnattert. Es ist ein reizendes Bild, diese
wilde Entenfamilie in ihrem harmlosen Treiben. Nur der sonst so schön
gefiederte Vater sieht etwas struppig aus, weil er eben sein Federkleid
wechselt. Deshalb kann er auch nicht auffliegen, als er uns wahrnimmt, sondern
zieht sich eiligst mit Frau und Kindern in das hohe Röhricht zurück, und das
Bild ist, so schnell wie es erschien, auch wieder verschwunden.“ (Heimatkalender
1924; Lexikon deutscher Frauen der Feder; HG 5/1913, in: HK 2/1996, S. 3, von Bärbel
Schiepel herausgesucht, mit Bildern.).
1883
wurde die Luthereiche auf dem Kirchplatz gesetzt, gezogen aus einer Eichel der
Luthereiche am Elstertor in Wittenberg, wo Martin Luther die Bannbulle
verbrannte. Zum 400. Geburtstag des Reformators fanden große „patriotische“
Feierlichkeiten statt.
Es
war die Zeit zahlreicher Vereinsgründungen. Nach dem Verbot der
Sozialdemokratie durch Bismarck schossen Vereine wie Pilze aus dem Boden, um
verdeckt diese Arbeit weiterzuführen. Um dem entgegenzusteuern, forderte der
Oberpräsident der Provinz Sachsen persönlich in einem Schreiben vom 9. Juli
1891 die ihm untergebenen Behörden auf, dafür zu sorgen, dass sich in jeder
Gemeinde ein Verein konstituiert, der den „christlich
und monarchisch gesinnten Ortsbewohnern, ohne Unterschied des Standes und
Besitzes und ohne Geldbeitrag den Beitritt gestattet“. (Vgl.
Staatsarchiv Magdeburg, Rep. C 28 Ia I, Nr. 845, Bd. VIII. 178; in: G III, 40).
In
Seyda gab es zu dieser Zeit schon einen „Evangelischen Männerverein“: „1890
trat ein evangelischer „Männer-Verein“ zusammen, welcher bis 1914 bestand;
in den Vereinsabenden, Montags, wurden nach einer christlichen Ansprache
belehrende Vorträge gehalten aus allen Gebieten des Lebens. Die vier
Familienabende, welche jährlich stattfanden, füllten den Saal bis zum letzten
Platze, so beliebt waren dieselben.“
(Gerhardt,
Heimatbote 19.8.1927).
Auch
die Frauen fanden sich im Verein zusammen: 1906: wurde in Seyda der „Frauenverein
für Seyda und Umgegend“ gegründet. Er übte auch ganz praktische Nächstenliebe.
Eine „Gemeindeschwester“ war von ihm angestellt, Frau Keller, die Kranken
und Hilfsbedürftigen zur Seite stand. Auch blieb eine Mutter im Wochenbett
nicht unversorgt. Der Frauenverein bestimmte dann Mitgliederinnen, die sich um
das Kochen, das Versorgen des Viehs und andere notwendige Arbeiten kümmerten.
(1996
wurde in der Kirchengemeinde „90 Jahre Frauenverein“ gefeiert, der im
„Gemeindenachmittag“ fortbesteht. Vgl. HG 4/1914; Heimatbote vom 19.8.1927).
Im
Jahr 1894 fand eine große Kirchenrenovierung statt. Sie umfaßte
Maurerarbeiten, zum Beispiel am Anbau an der Nordseite (Maurermeister Karl
Zierold, Seyda); und Tischlerarbeiten (unser heutiges Gestühl, Arbeiten an der
Empore, Mützenhaken vorn rechts im Altarraum; eine Fußbank für den
Organisten, die Kanzeltreppe; durchgeführt von den Meistern Große und
Freiwald.). Die Malerarbeiten führte Malermeister Seidel aus Wittenberg aus, in
Zusammenarbeit mit Meister Mechel aus Seyda, der einen Sternenhimmel an die
Decke brachte. Die Altarseite schmückte ein großer Fächer und zwei
(angemalte) Säulen. Die Turmuhr baute die Uhrenfabrik Wenke aus Bockenem bei
Hannover für 1.650 Reichsmark. Uhrmachermeister Thiele aus der Triftstraße zog
sie dann jede Woche auf, sie steht noch im Turm.
Die bunten
Fenster kamen in die Kirche, jeweils für 200 Reichsmark, besondere Schmuckstücke.
Rechts der Gute Hirte Jesus Christus, der sein Schäfchen wiedergefunden hat und
es auf den Schultern nach Hause trägt. Dieses Bild findet sich heute auch in
vielen Wohnzimmern, es wurde oft zu großen Geburtstagen verschenkt: Der, der
uns trägt! Der 23. Psalm kann bis heute fast jeder auswendig (auch die
Konfirmanden), der hat Generationen auf ihrem Lebensweg getröstet und gestärkt,
das Bild ist eine Erinnerung daran:
„Der Herr ist mein Hirte. Mir wird
nichts mangeln. Er weidet mich auf einer grünen Aue und führet mich zum
frischen Wasser. Er erquicket meine Seele. Er führet mich auf rechter Straße
um seines Namens willen. Und ob ich schon wanderte im finsteren Tal fürchte ich
kein Unglück, denn du bist bei mir, dein Stecken und Stab trösten mich. Du
bereitest vor mir einen Tisch im Angesicht meiner Feinde. Du salbst mein Haupt
mit Öl und schenkst mir voll ein. Gutes und Barmherzigkeit werden mir folgen
mein Leben lang, und ich werde bleiben im Hause des Herrn immerdar. Amen.“
Auf dem linken
Glasfenster ist auch Jesus zu sehen, der an die Herzenstür klopft, wie es im
letzten Buch der Bibel heißt: „Siehe,
ich stehe vor der Tür und klopfe an. Wer mir auftut, zu dem will ich
hineingehen und das Abendmahl mit ihm halten.“ (Offb
3,20).
Eine
Besonderheit in der Darstellung ist die, dass auf der Tür keine Klinke zu sehen
ist. Jesus fällt nicht mit der Tür ins Haus, er klopft an. Aufmachen muß man
selber, deshalb hat die Tür nur auf der verdeckten Seite eine Klinke. Eine
Erinnerung daran, dass das Evangelium mit Feinfühligkeit ausgerichtet werden
will - und das jeder seine Entscheidung für Jesus selbst treffen muß.
Schulden
mußte die Kirchengemeinde für diese große Renovierung aufnehmen: 7.097,56
Reichsmark. Pro Jahr wurden 150 Reichsmark abgezahlt, die letzte Rate am 31.
Dezember 1948!
Das Vermögen
wurde versichert, weswegen es eine Aufstellung gibt:
„Versicherungspolice
des Jahres 1894:
Verzeichnis
der zu versichernden Gegenstände
1.
Brustbild Luther und Melanchthon
2.
Bild des Superintendenten Hilliger
3.
ein versilberter Abendmahlskelch und Löffel
4.
eine versilberte Patene
5.
zwei ... Altarleuchter
6.
eine versilberte Taufkanne und Taufbecken
7.
zwei Kronleuchter
8.
eine rote Altar- und Kanzelbekleidung Tuch
9.
eine schwarze Altar- und Kanzelbekleidung
10.
eine grüne
11.
ein Altarteppich
12.
zwei schwarze Vorhänge von ...
13.
drei Fenstervorhänge von dem Turm und Sakristei
14.
zwei Kniebänke
15.
Messingleuchter 86 Stück
16.
ein Baseltuch
17.
ein ... desgleichen
18.
zwei Schränke
19.
ein Besteck für Krankenkommunion
20.
zwei versilberte Abendmahlskannen
21.
eine Altarbibel
22.
eine weiße Altardecke
23.
ein Kruzifix
24.
ein kleiner vergoldeter Abendmahlskelch mit Patene
25.
eine weiße Altardecke für Abendmahl
26.
ein Krug (zum Gebrauch bei Taufen)
27.
ein Lesepult
28.
sieben ...
29.
3 ...
30.
Seile (zum Begräbnis erforderlich)
31.
Christbaumhalter und Leuchter
32.
Liedertafeln mit Ziffern
33.
drei Bücher
34.Vorrat
an Lichtern
Immobilien
Versicherungssummen
1.
Juli 1879
Wohnhaus 4.140
Mark
Stallgebäude 260
"
20.
Dez.1890 Stallgebäude
1000 "
Immobiliar-Versicherung
der Kirche Stadt Seyda Kirchplatz Haus-Nr. 178 1. Juli 1879
Versicherungssummen
Kirche
17.230 Mark
Thurm
7.200 "
Anbau
140 "
Orgel
2.000 "
(beseitigt und durch eine neue ersetzt)
Große
Glocke 1.000 "
Kleine
Glocke 600
"
Uhr
200 "
31.
Dezember 1881
Orgel
5.500 "
"
30.
November 1897
Versicherungssummen
Kirche
37.240 Mark
Thurm
und
Treppenhausanbauten
12.000 "
(laut Taxrevision)
Anbau
680 "
Orgel
5.500 "
Große
Glocke
1.500 "
Kleine
Glocke
1.000 "
Uhr
1.800 "
28.
Dezember 1901
Turm
mit Treppenhausanbauten 11.200
"
1.
Januar 1894
Leichenhalle
630 Mark Zahnaer
Str. Nr. 238“
(Seydaer
Kirchenarchiv, Findbuch 223).
Die
verschiedenen Farben der Altarbehänge lassen darauf schließen, dass
entsprechend des Kirchenjahres gewechselt wurde. Die Plätze in der Kirche waren
eingeteilt, jeder hatte seinen Platz. Oben links auf der Empore saßen zum
Beispiel die Familien des Amtshofes. Mancher kann sich noch heute an
„seinen“ Platz erinnern. Dafür wurde ein „Stuhlregister“ geführt.
Im Jahre 1878
wurde die Superintendentur in Seyda aufgelöst, es entstand der Kirchenkreis
Zahna, der bis 1928 Bestand hatte. Dann gehörten wir zum Kirchenkreis Jessen
(bis 1998), nun zum Kirchenkreis Wittenberg.
Vor 100 Jahren
waren die Pfarrstellen noch unterschiedlich dotiert. Seyda war eine begehrte
Stelle. Oberpfarrer Dörge setzte sich unter 20 Bewerbern durch.
An
den großen Festtagen war der Gottesdienstbesuch allgemein üblich. An
„normalen“ Sonntagen aber werden etwa 1896 in der frisch renovierten Kirche
ca. 30 Gemeindeglieder gezählt. Es ist also auch damals eine relativ kleine
Gruppe gewesen, die die Kirchengemeinde mit ihrem Beten und Singen
„hindurchgetragen“ hat.
Einen Bericht
aus dem Jahr 1927 gibt es, der das kirchliche Leben in Seyda um das Jahr 1900
beschreibt:
„Die
Orgel ist z. Z. noch nicht wieder im Besitz der im Weltkriege eingezogenen
Pfeifen, auch die eine Glocke ist noch nicht ersetzt. Das Mittag- und Abendläuten
hört man nicht mehr, letzteres nur noch Sonnabends. Der Kirchenbesuch könnte
und müßte eigentlich reger sein; es ist doch eine schöne Stunde der Erbauung,
welche jedermann aller 2-3 Wochen wohl aufsuchen müßte. Als Kinder wurden wir
zum Kirchenbesuche angehalten, und
ich weiß mich noch zu erinnern, wie voll besetzt alle Stühle und Bänke waren,
bis hinter der Orgel hin, und wie der Klingelbeutel, welcher herumgetragen
wurde, Mühe hatte, vor Beendigung des Gesanges herumzukommen. Ich entsinne mich
auch noch sehr gute einiger alter Frauen, welche als Kopfputz eine
Flügelhaube hatten, nämlich ein großes
helles Tuch wurde so zusammengelegt und aufgesetzt, daß es aussah wie zwei
Engelflügel. Auch ist mir noch erinnerlich, daß bei dem Namen „Jesu“ die
alten Frauen die Knie beugten.“
(Hermann
Gerhardt, Seyda, im Heimatboten 1927).
Bis
zum Beginn des 20. Jahrhunderts gab es in Seyda „Feldhüter“, die unter
anderem dafür zu sorgen hatten, dass die Sonntagsruhe eingehalten wurde. Wer
sonntags zum Beispiel mit einer Sense auf dem Feld erwischt wurde, mußte mit
einer Strafe rechnen.
Der letzte in
der Bevölkerung auch als solcher bekannte Feldhüter war Herr Gröhst, der in
der Triftstraße wohnte (heute das Haus der Familie Oberländer), und den die
Seyd´schen „Gröhsts Deibel“
nannten. Er hatte auch einen kleinen Laden, in dem er Waren des täglichen
Bedarfs feilbot. Er starb 1926, ein Jahr vor seiner Diamantenen Hochzeit.
Feldhüter
in Seyda: Haase 1796, 1801; Hense 1806 (in Seyda?); Mechel 1812, auch
Handarbeiter; Müller 1837; Gröhst 1836, 1837, 1853, 1863, 1865; Wiedicke 1834,
1851.
Feldhüter
in Lüttchenseyda: Schuck 1847; Wergner ca. 1850; Bröse, genannt Lehmann 1848,
1862, 1869, 1872, 1892, 1895.
Feldhüter
in Mellnitz: Kappert 1863, auch Nachtwächter; Eilitz: 1865, 1866 auch Nachtwächter,
1870, 1871, 1872,1880.
Feldhüter
auf Mark Zwuschen: Otte oder Otto 1765, 1783, 1784, 1786, 1801, 1804, 1806, 1811; Hache 1831; Richter 1866, 1873;
Schulze 1883, 1884, 1894; Neumann 1898, 1900.
Feldhüter
in Morxdorf: Lehmann 1836, 1840; Schroeder 1843, auch Handarbeiter.
Feldhüter
in Zemnick: 1872.
Feldhüter
in Gadegast: Wenzel 1918, Jagdaufseher und Feldhüter (da hochbetagt gestorben).
(Aus den Seydaer und Gadegaster Kirchenbüchern.).
1894
wurde auch die Lindenallee auf dem Markt angelegt. Im Haus Markt 11, was durch
seine Mehrstöckigkeit und seinen Balkon hervorragt, wohnte der Bürgermeister
Ganzert mit seiner Familie. Es war gleichzeitig das Rathaus. Später wurde das
Haus von dem Arzt Dr. Nekwasil gekauft.
Am Beginn des
Jahrhunderts gab es in Seyda zahlreiche Handwerker, die ganze Jüterboger Straße
hinauf fast in jedem Haus, und auch auf dem Markt und vereinzelt in den anderen
Straßen.
Allein drei
Schmiede arbeiteten hier: in der Zahnaer Straße (Schugk, heute das Haus der
Familie Busch); in der Jüterboger Straße (Brachwitz/Seiler; das kleine Haus
vor der Gaststätte Zur Heide), auf dem Markt (Schmied Krüger, später GUMA,
gegenüber der Bushaltestelle zwischen Krügers und Wahles).
Die meisten
hatten nebenbei eine Landwirtschaft. 1897 machte die Nachricht von einem
Aufstand der Landarbeiter in Mark Friedersdorf Schlagzeilen:
„Ein Aufstand, wie ihn unsere friedliche Gegend wohl
überhaupt noch nicht gesehen hat, wurde durch das Gesinde, Knechte und Mägde,
auf dem Gute Mark-Friedersdorf am Montag in Szene gesetzt. Der Gutsbesitzer Herr
Marnitz war am Sonntag wegen einer Geschäftsreise nach Berlin von seinem Gute
abwesend und kehrte erst am Montag zurück. Doch welch ein Bild bot sich seinen
Augen! Die Familie schrie aus dem verschlossenen Hause um Hilfe, die Fenster
waren eingeschlagen und die Fensterkreuze theilweise herausgerissen. Das Gehöft
selbst war von dem Gesinde, welches sich am Montag geweigert hatte, die Arbeit
aufzunehmen, umlagert. In der erschreckenden Weise war die Familie schon den
ganzen Tag belästigt worden. Hilfe zu requirieren war der von jeglichem Verkehr
abgeschlossenen Familie nicht möglich gewesen. Erst Herr Marnitz konnte nach
seiner Ankunft nach dem Gendarm Schulz - Seyda schicken. Da derselbe sich aber
auf einer Revisionsreise, die mehrere Tage in Anspruch nahm, befand, wurde die Hülfe
des Polizeiserganten Hecht in Anspruch genommen. Die Aufrührer verließen denn
auch nach hartem Kampfe das Gehöft. Jedoch kehrten dieselben am Mittwoch Morgen
zurück und begannen dasselbe Mannöver. Herr Wachmeister Schulz, der sich
sofort nach seiner Rückkehr am Mittwoch früh zur Feststellung des
Thatbestandes nach Mark-Friedersdorf begab und jedenfalls im Glauben war, es
werde sich nun wieder alles in Ordnung befinden, sah schon von ferne, wie das
rohe Volk tobte und mit Hacken, Haken und anderen Wirthschaftsgeräthen
bewaffnet, das Haus umzingelt hielt und alle todtzuschlagen drohte. Herr
Marnitz, der sich mit seiner Familie in der größten Lebensgefahr befand, war
eben im Begriff, sich mit seinem Gewehr zur Nothwehr zu setzen und hatte schon
auf den Rädelsführer, den Knecht Reimann, angelegt, als er den Gendarm
erblickte und so ein größeres Unglück verhütet wurde. Nun gelang es mit
Hilfe eines zufällig vorüberfahrenden Handelsmannes, die sich furchtbar
widersetzende Rotte zu fesseln und nach dem Gefängniß zu überführen. Außer
dem Knecht Große und dem schon genannten Reimann wurde noch ein am Montag erst
aus Berlin angekommener Knecht Knopp, der sich gleich, ohne die Arbeit überhaupt
aufzunehmen, den Aufständischen anschloß, mit verhaftet.“
(Zauch-Belziger Zeitung vom 4. Juli 1897, in: HK 8/1996, S. 4, herausgesucht von
Bärbel Schiepel, die ergänzt: „Die Gründe,
warum die Knechte und Mägde diesen Aufstand inszenierten, erfahren wir leider
nicht aus diesem Artikel. Die schlechten und schweren Arbeitsbedingungen der
einfachen Leute auf dem Lande vor 100 Jahren sind für uns heute kaum noch
vorstellbar.“).
Zur
Oberpfarre in Seyda gehörte das „Pfarrgut Zwuschen“, und zwar von alters
her. Es war der Grund, warum die Seydaer Kirchengemeinde fast nie finanzielle
Schwierigkeiten hatte. Nun wurden diese 25 Hufen Land (ca. 200 Hektar) im Jahr
1908 für 107.000 Reichsmark verkauft. 67.000 Reichsmark waren eine Hypothek auf
das Gut, 40.000 Reichsmark nahm der Käufer aus Staatsanleihen. Dieses Geld
wurde angelegt, man hoffte dadurch, den Querelen mit den Pächtern zu entkommen
und trotzdem regelmäßige Einnahmen zu haben. In der Inflation in den zwanziger
Jahren aber ist das angelegte Geld verloren gegangen: Seitdem mußten auch in
Seyda Kirchensteuern erhoben werden. Bisher war das - durch Mark Zwuschen -
nicht nötig gewesen! Die ersten Kirchenaustritte folgten.
(Seydaer
Kirchenarchiv, Lagerbuch, S. 61).
Viele
Seiten im Pfarrarchiv sind mit Schriftstücken zu „Mark Zwuschen“ gefüllt.
„Mark
Zwuschen ist nicht etwa vor dem Dreißigjährigen Kriege verheeret worden, wie
ein Schriftstück behauptet, sondern in einem anderen blutigen Kriege, der im
Churkreis große Verwüstungen angerichtet hat. Vielleicht ist aber Mark
Zwuschen unter der großen Pest, die zu Zeiten Ludwig des V. 1346 Deutschland
verödet hat, ein wüster Ort geworden. 1542 wird Zwuschen bereits eine wüste
Mark genannt. Im Jahre 1591 waren erst 16 Hufen urbar gemacht, die übrigen
Hufen waren noch mit Holz bewachsen. Die Nachricht, wann und warum die Mark
Zwuschen zur Pfarre Seyda gekommen ist, ist in der langen Zeit verlorengegangen.
Der Wald ist nach und nach wieder in Acker umgewandelt worden. Jede 10. Mandel
wurde der Pfarre Seyda von den Bauern als Pachtzins gegeben....
Zwuschen
hat, wie der Keuler behauptet, fast eine Meile im Umfang. Er brauche nachts
wenigstens zwei Stunden, um das Zwuschenland zu umgehen. Es wird noch der Weg
zum Keilerhaus (oder Keulerhaus) beschrieben (unter Act. de. 19. Jun. 1787)“
(Seydaer
Kirchenarchiv, Findbuch 277).
Flurnamen
der Wüsten Mark Zwuschen: Morlbreite, Heidefeldschmalle, Heidefeldbreite,
Mittelfeldschmalle, Puhlstück, Neuefeldbreite, Mittelfeldbreite,
Neuefeldschmalle, Heidestücke, Morlschmalle. (Seydaer Kirchenarchiv, Findbuch
235).
„Ablösung
der Schafhutung auf der Mark Zwuschen:
Die
ehemalige Königliche Domäne Seyda, im Schweinitzer Kreise, Regierungsbezirk
Merseburg hatte unter andern auch auf den benachbarten Dorffeldmarken Oehna, Göhlsdorf,
Seehausen, Naundorf, Mellnitz, Morxdorf, Lüttchenseyda, Schadewalde, Zemnick
und Meltendorf und den wüsten Marken Friedersdorf und Zwuschen, von welchen die
erstere zum Schmidtschen Canzley gute zu Seyda, die andere zur Oberpfarre
daselbst gehört, nicht allein täglich während der ganzen Sommerweidezeit,
sondern auch im Winter auf der Saat die Hutungs Servitut mit ihren sämmtlichen
Schaafheerden ohne Beschränkung der Stückzahl, auszuüben.
1835
- Ablösungsvertrag wird geschlossen zwischen
I.
Seilermeister Gottlob Lüdicke und Genossen aus Seyda, Besitzer der Domänenhutung
II.
den mit der Hütung belasteten Dorfschaften und Eigenthümern der wüsten Marken
a)
Oehna b) Goehlsdorf c) Seehausen d) Naundorf e) Mellnitz
der
aus Pfarre/: Königlichen Patronats:/ 11 Hüfnern und 1 Häusler bestehenden
Gemeinde, Richter: Martin Matthies
f)
Lüttgenseyda der aus 8 Hüfnern bestehenden Gemeinde, Richter: Gottfried
Dannenberg
g)
Morxdorf der aus 6 Hüfnern und 3 Häuslern bestehenden Gemeinde, Richter:
George Globig
h)
Schadewalde der aus Schule/: Königlichen Patronats./, 8 Hüfnern, 1 Kossäthen
und 1 Häusler bestehenden Gemeinde, Richter: Martin Krüger
i)
Zemnick, der aus 10 Hüfnern und 1 Kossäthen bestehenden Gemeinde Zemnick,
Richter: Martin Richter
k)
Meltendorf
l)
Kanzleigutsbesitzer Friedrich Wilhelm Schmidt als Besitzer der Mark Friedersdorf
m)
der Oberpfarre zu Seyda /: Königlichen Patronats:/ als Besitzer der Mark
Zwuschen, derzeitiger Oberpfarrer Superintendent Magister Camenz
-
Zeichnung und Grenzbeschreibung der Hutung
-
abschriftlich die Unterschriften der Vertragsunterzeichnenden (man beachte:
einige Bauern unterzeichnen derzeit noch mit xxx)
Die
Dorfmarken waren in drei Schläge eingeteilt, einer blieb jedes Jahr brach für
die Schaftrift liegen.
Alte
Leute erzählen noch heute - wiederum von Berichten ihrer Eltern -, wie der
Oberpfarrer alljährlich in der Gastwirtschaft „Zum Roten Hirsch“ am Markt
saß und dort die neuen Pachtverträge für die Mark Zwuschen ausgehandelt
wurden. Im Anschluß gab es Rotwein. Zeitweise waren von der Kirchengemeinde
auch „Zwuschenrichter“ eingesetzt, die das Pachten abwickelten, zum Beispiel
aus der Familie Hirsch.
Der
zweite Pfarrer in Seyda, auch Diakon genannt, wohnte am Kirchplatz 2. Er hatte
verschiedene Aufgaben, wie die Akten einer Kirchenvisitation für Morxdorf und
Mellnitz im Jahre 1911 kundtun:
„Der Pfarrer von Mellnitz und
Morxdorf ist zugleich Diakonus in Seyda und Leiter und Seelsorger der
Arbeiterkolonie Seyda, auch Synodalvertreter für Innere Mission in der Ephorie
Zahna, Leiter der Synodalkolportage, Waisenrat von Mellnitz, Waisenvater und Fürsorger
für Zöglinge verschiedener Anstalten, Leiter eines Jungfrauenvereins, Geschäftsführer
eines 143 Mitglieder starken
Frauenvereins, Vorstandsmitglied im ev. Männerverein, Vertreter im Kreisausschuß
für Jugendpflege, Verwalter eines Bibeldepots für Seyda und Umgegend,
Vorsitzender des Schulvorstandes für Morxdorf und Ortsschulinspektor, auch
Leiter des Religionsunterrichts in Morxdorf, Agent des christlichen
Zeitschriftenvereins für Seyda und Umgegend, auch Lehrer an der
Fortbildungsschule in Seyda, Vertrauensmann des ev. Preßverbandes der Provinz
Sachsen, Geschäftsführer der Zweigstelle der Herbergssparkasse...“
(Die Zweigkasse der
Kreissparkasse Herzberg wurde am 1. Januar 1894 in Seyda eröffnet.)
Der
Mann war sehr fleißig! Pastor Heinecke ist auch noch „Vater der Heimatgrüße“
gewesen, jenes Evangelischen Monatsblattes, was für den ganzen Kirchenkreis
Zahna seit 1913 erschien und für das er auch später noch viele Beiträge
leistete. Er hat das Seydaer Heimatlied gedichtet und sich auch im Heimatverein
verdient gemacht.
Wollen wir in
den Visitationsprotokollen auch noch schauen, wie es in Mellnitz und Morxdorf
damals zuging, was von Seyda aus betreut wurde:
„Mellnitz ist reine
Bauerngemeinde, alle, mit einer Ausnahme betreiben Landwirtschaft, 1 Zimmermann
fährt wöchentlich nach Berlin, 1 Mann besucht nicht den Gottesdienst.
Morxdorf ist nur zur Hälfte eine
Landwirtschaft treibende Gemeinde, die andere Hälfte sind Maurer und
Zimmerleute, die die Woche über in Berlin arbeiten, kommen nur sonntags nach
Hause, besuchen seltener als die Bauern den Gottesdienst, sind
sozialdemokratisch organisiert, bis auf zwei Ausnahmen, die nicht den
Gottesdienst besuchen, aber wohl nur Mitläufer. Der Kirchenälteste Fromm macht
seinem Namen alle Ehre.
Ca. 8 Mal im Jahr besucht der
Geistliche die Schule, nach dem Gottesdienst besucht er die Kranken.
Vergehen gegen das 6. Gebot
(„Du sollst nicht
ehebrechen!“) kommt vor, keine eigentlichen
Trunkenbolde, viel alkoholfreies Braunbier wird getrunken
Unterschiede in Tauffeiern für
eheliche und uneheliche Kinder, in den Trauungen (mit und ohne kirchliche
Ehren), 4 Männer besuchen den Gottesdienst nicht.“
(Seydaer
Kirchenarchiv, Findbuch 1127).
Eine
Erinnerung an das Alltagsleben um 1910: „Wenn
man abends totmüde ins Bett konnte, bekam im Winter jedes Kind einen warmen
Ziegelstein als Wärmflasche ins Bett. Und jedes Jahr zu Weihnachten gab´s ein
Paar neue Holzpantinen.“ (Zeitungsartikel
in der Luckenwalder Rundschau vom 1./2. November 1997 zu einem 90. Jubiläumszwillingspaar
aus Seyda, Elsa Boldt und Minna Schwoch geb. Schuster).
Um
die Jahrhundertwende nahm das immer mehr zu, was man später „Entfremdung“
nannte. Durch die Industriealisierung zogen immer mehr Menschen in die Städte,
Familienbande und alte Traditionen rissen ab. Bisher stellte man vieles mit
eigener Hand her und kannte den Entstehungsprozeß der Produkte bzw. konnte im
Ort zuschauen, wie etwas vom Handwerker gefertigt wurde. Jetzt aber war die
Arbeitsteilung so weit fortgeschritten, dass es dem Einzelnen oft nicht mehr möglich
war, Einblick in das Herkommen von Produkten zu nehmen. Der Prozeß ging ständig
weiter bis dahin, dass natürliche Lebensabläufe wie Geburt, Krankheit und
Sterben aus dem natürlichen Lebensumfeld abgelöst worden sind. Die Alten
blieben nicht selbstverständlich zuhause, auf dem „Altenteil“, sondern
lebten an anderem Ort als die nächsten Generationen.
Von dieser
„Entfremdung“ war auch die Kirche betroffen. Bis jetzt waren zum Beispiel
die Gleichnisses Jesu aus der Landwirtschaft vom Säemann oder vom reichen
Kornbauern unmittelbar vor Augen, nun aber wurde einem großen Teil der Menschen
der Umgang mit Tieren und Pflanzen fremd.
Eine
Gegenreaktion darauf war eine Neuentdeckung der Heimat, um die alten Traditionen
zu bewahren und als Lebensbereicherung zu erhalten. Auch in Seyda wurde 1912 ein
Heimatverein für die Stadt und die Umgebung gegründet. Der erste Vorsitzender
war Oskar Brachwitz, der Heimatforscher, von dem schon so viel zu lesen war. Im
Amtshaus wurde das Heimatmuseum untergebracht. Später war Pastor Heinecke
Vorsitzender, der sein Amt 1914 nach einstimmiger Wahl an Pastor Voigt aus
Gadegast abgab. Pastor Voigt führte auch die „Heimatgrüße“, jenes
Evangelische Monatsblatt, was eine Fundgrube für Heimatfreunde ist, bis 1936
weiter.
1913
kam der elektrische Strom nach Seyda, ohne den unser modernes Leben wohl kaum
denkbar wäre. Die Stadt hatte einen Vertrag mit der „Energieversorgung“
abgeschlossen, dass Weihnachten 1913 das elektrische Licht brennen sollte. Die
Fernleitung aus Liebenwerda konnte jedoch nicht fertiggestellt werden. So wurde
am Ende der Neuen Straße (bei Mechels gegenüber, wo auch heute noch der
Stromverteiler steht) eine Dampfmaschine aufgestellt, um Strom zu produzieren.
In der Nacht wurde auf Batterien umgeschaltet. Manche Leute hatten einfach nur
eine 15 Watt-Lampe in ihrer Wohnung. Einige besuchten nun jeden Abend jemanden
anders, um zuhause Strom zu sparen...
(Mündlicher
Bericht von Horst Hirsch 1999.).
In den Heimatgrüßen
heißt es: „Es schweben Verhandlungen,
welche die Einrichtungen einer elektrischen Licht- und Heizanlage in unserer
Kirche zum Ziele haben.“ Als Tag, an dem zum ersten Mal elektrisches Licht
in Seyda brannte, wird der 25. November 1913 genannt. (HG
11+12/1913).
Im
Jahr 1913 fanden umfangreiche Feiern zum 100. Jahrestag der Befreiungskriege
statt. Dass Seyda ja zu Sachsen gehört hatte und dann wegen der Niederlage erst
zu Preußen gekommen war, schien vergessen. Es war ein „patriotisches“ Fest,
schon ganz im Sinne einer Kriegsvorbereitung mit dem „Erzfeind“ Frankreich.
Auf
dem ehemaligen Sportplatz an der Jüterboger Straße wurde damals eine Eiche
gepflanzt, die auch heute noch steht (vor der Mühle Rühlicke, mitten auf dem
Kirchenacker!). Der Turnverein veranstaltete am Abend des 18. Oktober einen
Umzug. Ein Freudenfeuer wurde abgebrannt, der Hauptlehrer Orthwein hielt eine
Ansprache. In Gadegast wurde das Denkmal vor der Kirche gesetzt, bei dessen
Einweihung viel Prominenz erschien. In Seyda, Morxdorf und Mellnitz wurden am
17. März 1913 „Luisenlinden“ gesetzt, zur Erinnerung an die preußische Königin
Luise, die tapfer Napoleon widerstanden hatte; dazu wurde auch vom Kaiser ein
Aufruf „An mein Volk“ verlesen.
Mit
Jubel zog man in den Weltkrieg, der am 1. August 1914 ausbrach! Der Sieg schien
- nach 1813 und 1871 - sicher zu sein, nur Ruhm und Ehre konnte ein Feldzug
einbringen.
Doch bald zeigte
sich die grausame Realität des Krieges. Pastor Voigt aus Gadegast schrieb
monatlich seinen Konfirmanden, die nun „im Felde“ im Osten und im Westen
fern der Heimat waren, und er bekam Antworten, die den Wandel widerspiegeln:
„Werter Herr
Pastor, Ihrem Wunsch entsprechend nachzukommen, werde ich Ihnen ein paar Zeilen
von meinen Kriegserlebnissen mitteilen. Als wir am 9.8. von Torgau abfuhren,
wurden wir mit großer Freude überall begrüßt. Am 11.8. wurden wir in Düsseldorf
ausgeladen. Von hier aus war nun alle Tage Marsch von früh bis abends spät. Am
15.8. überschritten wird die belgische Grenze mit einem lauten Hurra. (vgl.
Anmerkung 1) Hier hörte man schon den Kanonendonner von weiter Ferne und so
alle Tage. Alle Mann freuten sich auf das erste Gefecht, jedoch war es hier ein
trauriger Anblick, wenn man durch ein Dorf kam, was vollständig niedergebrannt
war, weil die Bewohner aus dem Hause geschossen hatten. Am 23.8. überschritten
wir die französische Grenze, wo auch dasselbe Leid erschien, nur einige Dörfer
und Städte waren verschont, auch waren hier die meisten Bewohner geflüchtet
aus Furcht vor den französischen und englischen Soldaten und kehrten auch schon
wieder zurück und freuten sich, daß unsere Truppen einwirkten.
Am 26.8. kamen wir
zum ersten Mal ins Gefecht mit Engländern, es war doch anders, wie man sich das
gedacht hatte, wenn die Kugeln immer über den Kopf pfeifen. In der Nacht vom
26. - 27. bezogen wir Quartier in einem einzelnen Gehöft und am nächsten
Morgen ging es weiter. Am nächsten Tag nahmen wir eine Patrouille von 54 Mann
Engländern gefangen, welche sich in einem Gehöft versteckt und auf unsere
Truppen geschossen hatten, und so hatten wir noch mehrere kleine Gefechte. Am
5.9. kamen wir in ein Gehöft, wo wir 1 Division gegen eine starke Übermacht kämpften.
Es sollen 7 Armeekorps gewesen sein. Wir haben den Feind zurückgeschlagen und
noch ein Dorf vom Feinde geräumt. Am späten Abend zogen wir uns zurück, wo
uns das 2. Armeekorps zur Hilfe kam, denn wir waren bis auf 30 km vor Paris.
Und vom 6.9.-11.9.
waren wir 50 km ab, und diese Stellung hielten wir, bis uns ein anderes Regiment
ablöste.
Wir hatten wohl viele Verluste, aber immer siegreich geschlagen, und jetzt sind wir 100 km von Paris ab. Wir mußten uns zurückziehen, weil die anderen Armeekorps noch nicht so weit waren. Hoffentlich geht es bald wieder vorwärts. Ich will nun schließen, weil man Bücher voll dessen schreiben könnte. Ich bin noch gesund, was ich auch von Ihnen hoffe. Nochmals besten Dank und viele Grüße sendet Reinhold Richter. In Eile, denn die Post fährt jetzt ab. Viele Grüße an meine lieben Eltern und an die Gemeinde.“ (Aus: Lieber Herr Pastor! Feldpostbriefe von Gadegastern und Zemnickern aus dem Ersten Weltkrieg. Seyda 1998.).
Der
Ausbruch des Krieges im August 1914 kam für die deutsche Öffentlichkeit trotz
allem überraschend (G
III, 72).
Es war der erste Krieg, der den ganzen Erdball überzog und mit einer vorher nie
dagewesenen Brutalität geführt wurde. Erstmals sind moderne Waffen wie
Maschinengewehre, Panzer und Massen-vernichtungsmittel eingesetzt worden.
Deutschland hatte den Krieg begonnen.
Auch in der
Heimat begann man bald, die Schrecken des Krieges zu spüren. 1915 wurden
Brotkarten eingeführt, 1916 gab es auch eine Fleischkarte. In
den Städten betrug die wöchentliche Ration pro Erwachsene 1916/1917: 2,5 kg
Kartoffeln oder als Ersatz Kohlrüben; 1,9 kg Brot bzw. Brotersatz, 250 g
Fleisch oder Wurst, 180 g Zucker, 80 g Butter und ein halbes Ei. Die
Lebensmittelkarten sicherten aber nur den Anspruch, ob man es dann tatsächlich
bekam, war unsicher. „Die Kartoffelmißernte 1916 verschlimmerte die ohnehin angespannte
Lage weiter und führte dazu, daß die Kohlrübe als Kartoffelersatz ausgegeben
werden mußte. Im „Kohlrübenwinter“ 1916/17 kam es zu schweren
gesundheitlichen Belastungen, in vielen Fällen zu Hunger, Krankheit und Tod.
Diese enorme Lebensmittelknappheit führte zu verschiedenen Versuchen,
Lebensmittelersatz herzustellen... Ein Beispiel dafür war das Vorgehen der
Berliner Eckhoff KG, Brot unter Zusatz von 30 Prozent Tierblut und 10 Prozent
Pflanzenmehl herzustellen... dazu kam der Mangel in der Brennstoffversorgung der
Haushalte...“ (G III, 77f).
Dies findet auch Niederschlag in der Gadegaster Schulchronik, z.B. 1917: „Von
der Reichsstelle für Gemüse und Obst GmbH Berlin W. Potsdamer Straße 75 ging
für die Gadegaster und die Zemnicker eine Anzahl Flugblätter durch die Königl.
Kreisschulinspektion Wittenberg "Sammelt die wildwachsenden Gemüse,
Wildsalate, Tee, Ersatzpflanzen" am 21. Juni ein. Die Kinder wurden durch
den Lehrer mit dem Inhalt bekanntgemacht, auch ihnen die Zweckmäßigkeit und
Wichtigkeit des Sammelns klargemacht und die Blätter unter sie, so weit sie
reichten, verteilt.“
Viele
Päckchen schickte man als „Liebesgaben“
zu den Vätern, Brüdern und Söhnen an die Front, teils durch organisierte
Transporte, teils auf privater Basis, zum Beispiel Strümpfe, Zigarren, Tabak
und Pfeifen.
Es
wurden auch öffentliche Sammlungen durchgeführt. Die Schulkinder sammelten neben Geld: Kupfer, Messing, Papier, Gummi,
Korn aus Ähren, Kastanien, Pflaumenkerne, Kirschkerne, Sonnenblumenkerne,
Brennnesseln, Windröschen, Flaschen, Haare; für Ostpreußen: Kleidungsstücke,
Reis, Kaffee. Die „Ludendorffspende“ war speziell für Kriegsbeschädigte
bestimmt.
Noch im November
1918 rief Pfarrer Voigt dazu in den „Heimatgrüßen“ auf, wohl nicht nur aus
„patriotischer Gesinnung“, sondern vor allem, weil er die Not „seiner“ Männer
an den Fronten kannte.
In
der Kirche gab es neben diesen Sammelaktionen „Kriegsbetstunden“. Die
„Reformationsjubiläumsfeier“ am 31. Oktober 1917 wurde zu einem Einschwören
auf den Patriotismus. Die Pfarrer setzten sich auch für ihre Gemeindeglieder
ein, in dem sie Urlaubsgesuche oder die Bitten um eine Verlegung in ein
nahegelegenes Lazarett unterstützten. Eine der schwersten Aufgaben war es, den
Eltern und Frauen die Todesnachricht von Gefallenen zu überbringen.
Durch eine
Verordnung vom 20. Juni 1917 mußten alle Einrichtungsgegenstände aus Kupfer
und Kupferlegierungen (Messing, Rotguß, Tombak, Bronze) abgeliefert werden. Das
betraf auch die Orgelpfeifen und die Kirchenglocken! „Während sie bisher dem Kindlein auf des Lebens ersten Gange, dann
Braut und Bräutigam lud "Zu des Festes Glanz", dem Abgeschiedenen das
letzte Geläute gab, muß sie nun in anderer Sprache, als brüllende Kanone im
Weltkriege Dienste tun. Möchte sie mit ihren vielen hinausziehenden Kameraden
recht bald zurückkehren, um im Frieden wieder ihr Geläute erklingen zu lassen.
Die Kessel der Brauhäuser sind nicht beschlagnahmt.“ berichtet die
Gadegaster Schulchronik.
Pastor Dr. Graf
aus Seyda schreibt über die Abgabe von Glocken und Orgelpfeifen für die
Turmkugel 1929: Das war „eine Art
Sacrilegium, das sich bitter rächte, denn von jener Zeit an wich der Segen
Gottes von unserm Volk. Auch unsere Gemeinde Seyda musste von ihren zwei
Kirchenglocken eine abliefern, sowie die Orgelpfeifen...“
1917 wurde in Seyda eine Glocke von 1717 eingeschmolzen! Auch die
Blasinstrumente, sogar Konservenbüchsen mußten abgeliefert werden.
„Die
Fahrradbereifungen waren bereits in der Zeit vom 12. bis 17. März 1917 restlos
zur Ablieferung gelangt. Hinfort sah man Radfahrer, die sich im Schweiße ihres
Angesichts auf Rädern mit Drahtspiralen abquälten. Auch die gebrauchten
Flaschenkorke sammelte man ein. Am 4. Juli rief der Landrat zum Sammeln der großen
Brennessel zur Fasergewinnung auf...“ (Schweinitzer
Kreisblatt am 26.9.42).
Die
Seydaer Orgelpfeifen sollen nicht weit gekommen sein! Ein Seydaer Werkzeugmacher
will sie selbst später noch auf dem Schutt zerknickt gefunden haben. Erst nach
langer Zeit konnten die Pfeifen durch Zinkpfeifen ersetzt werden, die heute noch
genutzt werden. Die originalen Zinnpfeifen hatten einen weicheren Klang, eine
Umrüstung (wie in Jessen) hat sich die Kirchengemeinde aber bis heute noch
nicht leisten können.
Durch
den Krieg veränderte sich die Gesellschaft. Die Männer fehlten, die Frauen
hatten ihre Arbeit zu übernehmen. Im Winter 1916/1917 hatte der Erschöpfungsgrad
der Bevölkerung die Grenzen des Ertragbaren erreicht (G
III, 79):
Unterernährung, Magen- und Darmerkrankungen, Tuberkulose waren verbreitet. In
der Schule waren die Ferien verlängert worden - infolge der „Kohlennot“.
Großstadtkinder werden wegen Unterernährung aufs Land, also nach Seyda und in
die umliegenden Dörfer, verschickt.
Der Glaube an die Autoritäten zerbrach: der Kaiser mußte
schließlich abdanken, und auch die Kirchenvertreter, die sich für den Krieg
stark gemacht hatten, erlitten einen großen Glaubwürdigkeitsverlust.
Im
April 1917 forderten in ganz Deutschland mehr als eine halbe Million Menschen
Frieden und Brot. Auch in Wittenberg fanden Streiks statt (G
III, 80).
Die
Gadegaster Schulchronik berichtet:
„Revolution
in Deutschland.
In der Nacht
vom 8. zum 9. November des Jahres ist in Deutschland die Revolution
ausgebrochen. Überall haben Arbeit- und Soldatenräte die Gewalt an sich
gerissen. Kaiser Wilhelm hat auf den Thron verzichtet und sich nach Holland
begeben. Ebenso haben sämtliche Fürsten Deutschlands ihre Kronen niedergelegt
und alle deutschen Staaten haben sich zu Republiken erklärt. An der Spitze
Deutschlands steht ein "Rat der Volksbeauftragten" von 6 Mann,
gebildet von den Sozialdemokraten und den Unabhängigen. Vorsitzender
(Reichskanzler) ist Sozialdemokrat Ebert. (u. Haase). Kontrolliert wird die
Regierung vom Vollzugsrat des "Berliner Arbeiter- und Soldatenrats".
Der Einberufung einer "Nationalversammlung" setzten die Unabhängigen
und besonders die noch radikaleren Spartakusse Widerstand entgegen. Erstere
Partei hat aber doch zugestimt und so sind die Wahlen vorläufig auf den 16.
Februar 1919 angesetzt. Auch in Preußen hat sich eine neue Regierung gebildet
aus denselben Parteien. Das Kultusministerium verwalten die Sozialdemokratischen
Abgeordneten Adolf Hoffmann und Hänisch. Als Programm haben sie die Trennung
von Kirche und Schule und Staat - Kirche aufgestellt.“
„123
Krieger starben den Heldentod.“ so schreibt es
Pastor Dr. Graf in die Turmkugel 1929. Die Trauer blieb, später wurde ein großer
Gedenkstein auf dem Friedhof, ein Quader, gesetzt. Daneben war große
wirtschaftliche Not über das ganze Land gekommen. Die alten Strukturen waren
zerbrochen, die erste Demokratie in Deutschland, die Weimarer Republik, entstand
1919. Verbreitet in den Köpfen und Herzen war aber die Sehnsucht nach der
„guten alten Kaiserzeit“ und, in Verkennung der Tatsachen, eine „Dolchstoßlegende“,
die besagte, die neuen Machthaber wären als „Novemberverbrecher“ schuld an
der schlimmen Lage in Deutschland.
Pfarrer
Voigt blieb bis zuletzt und auch noch nach Kriegsende „kaisertreu“. Noch
1993 wurde die schwarz-weiß-rote Fahne in seinem Nachlaß gefunden.
Ein
ausführliches Quellen- und Literaturverzeichnis findet sich am Ende des letzten
Bandes.