Die
Geschichte
der
Kirche
in
Seyda.
6. Die
Weimarer Republik und das Dritte Reich
(1919-1945)
Der
Weltkrieg, der mit solchem Jubel begonnen wurde, war verloren. Der Kaiser hatte
abgedankt, große Not war im Land: und viele Männer, Väter und Söhne kehrten
von den Schlachtfelder in ganz Europa nicht zurück. Die Chronik der Turmkugel
nennt die Zahl von 123 für Seyda.
Eine
Parteiendemokratie hatte die Herrschaft übernommen: eine neue Regierungsform für
Deutschland, die von Anfang an stark angefeindet und auch abgelehnt wurde: Man
schob ihr die Schuld für die Niederlage und die schwierige wirtschaftliche Lage
Deutschlands zu, obwohl sie für das Geschehene gerade nicht verantwortlich war.
Mit der
Abdankung des Kaisers endete auch das „konstantinische
Zeitalter“, was einmal im 4. Jahrhundert begonnen hatte. Seitdem war der
Kaiser Christ gewesen, und die Kirche stand unter seinem Schutz. Der letzte
Kaiser war für die evangelische Kirche sogar ein „summus episcopus“: der höchste Bischof.
Das wurde nun
anders, die Kirche mußte sich neu organisieren und ihren Platz in einer
demokratischen Gesellschaft finden, in der sie zwar Unterstützung fand, aber
nicht mehr in dem Maße, wie es bisher geschehen war. Es gab allerdings auch
Stimmen in der Kirche, die diese Entwicklung begrüßten: sahen sie darin doch
eine neue Freiheit der Kirche, unabhängig von den Machthabern ihrer Sache treu
zu bleiben. Die allgemeine Stimmung aber, auch in Seyda, war darum bemüht, so
viel wie möglich vom Alten zu retten - sogar mit der stillen Hoffnung,
vielleicht wieder einen Kaiser zu haben und die „gute
alte Zeit“ zurückzuholen. Auch das Kaiser-Wilhelm-Denkmal in der Bergstraße
erinnerte daran.
Der
Weltkrieg hatte drastische wirtschaftliche Folgen. Über die Not der Bevölkerung
im Weltkrieg ist schon berichtet worden, sie zog sich noch weit in die
Nachkriegszeit hinein.
Manche
hoffnungsvollen Projekte, die man vor 1914 hatte, konnten nicht mehr realisiert
werden. In unserer Gegend war zum Beispiel der Bau eines Kanals zwischen dem
Elbknick und Berlin geplant. Er sollte zwischen Elster und Listerfehrda beginnen
und an Seyda vorbeigehen. Die Pläne waren schon fertig, wurden aber nie ausgeführt.
Der
verlorene Krieg zog auch in Seyda mancherlei Einsparungen und Kürzungen nach
sich: So schlossen drei der sechs Gasthäuser: Die Brauerei Matthies (Neue
Straße/Ecke Jüterboger Straße; heute: Witkowski, Bergholz, Hempel);
der „Rote Hirsch“ (jetzt
Schreibwaren Groitzsch; Anfang der Dreißiger Jahre benannte man dann ein
anderes Lokal an der Westseite des Marktes so) und das Hotel „Zum
Deutschen Kaiser“ (früher
„Zum Anker“)
in dem Haus in der Bergstraße 1, wo sich heute die Stadtverwaltung befindet. Dort,
wo das Standesamt ist, waren auch von 1889 bis 1914 die königlichen Hengste
stationiert.
Die Zeitung
meldete: „Der preußische Minister des
Inneren hat die Polizeistunde auf 10 Uhr angewiesen (zuvor 11 Uhr, Sonnabend 11
½ Uhr). Eine Folge der schlechten Kohlenversorgung.
Der
Reichstagsabgeordnete Hemeter fragt bei der Reichsregierung an, ob die Maßnahmen
für den Heimtransport der Gefangenen aus Sibirien so beschleunigt werden können,
dass sie noch vor Beginn des sibirischen Winters die Heimat erreichen.“
(Seydaer
Stadt- und Landbote vom 30. März 1920).
Als
Folge des Krieges und einer Zerstörung der alten Ordnung war auch die Zunahme
von Brutalität und Verrohung zu spüren:
Im April 1920
schändeten Kinder zum wiederholten Male und „in
gröbster Weise“ Grabstätten auf dem Seydaer Friedhof.
(Stadtverordnetenversammlung am 10. April 1920.).
Die schlechte
Versorgungslage führte zur Wilderei. Die Forstleute suchten dem Einhalt zu
gebieten. Doch ein Menschenleben schien nicht mehr so viel zu zählen - nachdem
man im Krieg ja vier Jahre lang auf Menschen zielen mußte -: Der
Forstpraktikant Sterz wurde 1921 in der Heide erschossen. Noch heute erinnert
daran ein Grabmal, das Sterz-Denkmal. Es
befindet sich ca. 6 Kilometer vom Ortseingang Seyda entfernt. Den letzten Weg
links vor der Heimateiche muß man einbiegen, dann sind es noch ca. 500 Meter.
Es war eine
ganze Gruppe von Wilderern gewesen, die man ausfindig machte, die aber so
zusammenhielten, dass man den, der den tödlichen Schuß abgab, nicht
identifizieren konnte. Es ist wohl signifikant für diese Zeit der zerbrochenen
Ordnungen, dass man sich nicht zu helfen wußte und deshalb eine Hellseherin aus
Berlin bestellte. Sie wurde vom Bahnhof in Linda abgeholt und ließ sich an die
Unglücksstelle bringen, an dem Sterz im Morgengrauen erschossen worden war.
Dann soll sie mit dem Staatsanwalt in der Kutsche durch die Heide bis nach Seyda
gefahren sein, angeblich hat sie den Weg gezeigt, obwohl sie noch nie hier war.
Genau vor der Tür des Schuldigen ließ sie anhalten. Aber das war natürlich
(zum Glück!) kein Beweis für ordentliche Gerichte!
Danach mietete
sich ein Kriminalbeamter als Forstgehilfe getarnt im Schützenhaus ein. Der Fall
konnte jedoch nicht geklärt werden.
Schließlich
setzte sich einer der bekannten Wilddiebe nach Amerika ab. Man nahm an, er sei
es gewesen. Ein anderer Wilddieb hatte einen Streifschuß bekommen, ließ sich
aber auswärts behandeln, um nicht aufzufallen.
Im Jahre 1956
hat der Schuldige seine Tat auf dem Sterbebett seinem Nachbarn gebeichtet. Er
konnte mit dieser Schuld nicht sterben.
Was sagt man als
Pfarrer zu dieser Geschichte? So sehr Skepsis gegenüber jemandem, der sich als
Hellseherin ausgibt, angebracht ist, so ist es doch wohl so, dass es Dinge
zwischen Himmel und Erde gibt, die wir nicht erklären können. Auch das Böse
hat eine große Macht. In der Bibel wird vor dem Umgang mit Hellseherei und
dergleichen Dingen gewarnt aus der Erfahrung, dass dahinter tatsächlich Mächte
stecken, die uns beherrschen wollen. „Wir
sollen Gott über alle Dinge fürchten, lieben und vertrauen.“ mit diesen
Worten legte Martin Luther das 1. Gebot aus.
Die Geschichte
zeigt aber auch, wie drückend Schuld sein kann, und wie heilsam eine Beichte
ist. Dazu ist die Kirche auch da: Dass man dort solche Lasten loswerden kann.
Dafür starb Jesus am Kreuz.
Neben
diesen großen Nöten und manchem Merkwürdigen gab es natürlich das
Alltagsleben. Endlich konnte wieder ein Kinderfest stattfinden! Die Schulchronik
berichtet 1919: „Am 24. August, nach 6
Jahren, wieder Kinderfest. Es wurde in altgewohnter Weise gefeiert. Auf dem
Festplatz sprach Bürgermeister Andrae und schloß mit einem Hoch auf unser
liebes Seyda. Die Kinder bekamen Kaffee und Kuchen. Höhepunkt war die
Verlosung, obwohl die Gewinne nicht sehr groß ausfielen. Nach dem Einzug das
Schlußwort des Lehrers Brantin und das Lied „Nun danket alle Gott“.“
So war es bis
1956 üblich, der Einzug erfolgte vom Schützenhaus zum Markt.
Ein
bis heute begangenes Fest sind die Fastnachten in Seyda. Das hängt auch damit
zusammen, dass zu diesem Vergnügen am Ende der Winterzeit noch jedermann Zeit
hatte: nämlich bevor die Arbeit in der Landwirtschaft wieder losging. Wohl
weniger dachte man dabei an die „Nacht
vor dem Fasten“, die Fastenzeit vor Ostern ist dabei kaum im Bewußtsein.
Es gibt Kinder-,
Männer- und Jugendfastnachten. Damals fanden sie auf verschiedenen Sälen
statt. Bei „Borschtes“ in der
Wittenberger Straße haben die Jugendfastnachten
oft angefangen, auch bei „Pätz“
im Roten Hirsch auf dem Markt war man beieinander zur Kinder- und Männerfastnacht.
Ganz Seyda war da auf den Beinen!
„Asche kehren“ hieß ein
Brauch am Aschermittwoch. Die Kinder gingen mit einer Rute aus Birkenholz durchs
Städtchen, an den Stock wurden die Brezeln gehängt, die sie einsammelten. Auch
die Jugend ist durch die Stadt gezogen, verkleidet, mit Handwagen und mit Musik.
Am Fahrrad, wenn vorhanden, war meist eine Hupe, so dass man sie schon von
weitem kommen hören konnte. Auch sie bekamen Schaum-, Mohn- oder Salzbrezeln,
ab und zu auch einen Groschen.
Die alten
Platzmeister gingen mit einer Kiepe „zempern“.
Bratwürste und Eier wurden gesammelt, und dann abends beim Zemperball im Schützenhaus
gegessen. Bei diesem Besuch in den Häusern gab es Essen und Schnaps, mit den Mädchen
wurde getanzt. Die Mädchen machten den Platzmeistern ein buntes Band an Hut
oder Rock. Auch mit den Müttern wurde natürlich eine Runde gedreht.
Schließlich kam
noch die „Polizei“ vorbei, die hat
Geld gesammelt, auch für den Abend. Und da wurde dann nicht selten Polonaise
auch auf den Tischen und durchs Fenster getanzt. (Erzählt beim Gemeindenachmittag 1999).
Doch
zurück zu den Sorgen dieser Tage: Die finanziellen Engpässe wirkten sich auch
ganz direkt auf die kirchliche Arbeit aus:
„Oktober 1920... Die Kirchengemeinde Seyda muß
infolge der finanziellen Notlage der landeskirchlichen Behörden auf eine 2.
Pfarrstelle (ist bereits seit 13.12.1916 unbesetzt) verzichten. Wegen der hohen
Kosten, welche die laufende Unterhaltung der Gebäude erfordert, soll ihr
Verkauf sobald als möglich erfolgen und zwar nicht gegen Bargeld, sondern gegen
Austausch von Acker- oder
Wiesengrundstücken.“ (Heimatkurier
10/1995, S. 3, aus: SSLB im Oktober
1920. Das Haus Kirchplatz 2 gehört uns heute noch und war im 20. Jahrhundert
mit seinen vielfältigen Bewohnern ein großer Segen für die Kirchengemeinde.).
Wenn man
bedenkt, was dieser zweite Geistliche, zum Beispiel Pastor Heinecke, alles
geleistet hat, so war die Einsparung der 2. Pfarrstelle ein herber Verlust. Die
Gemeinden Mellnitz und Morxdorf wurden nun vom „Oberpfarrer“
mit betreut. Er mußte schlimmstenfalls zu Fuß gehen, auch mit dem Rad sind die
Pfarrer später gefahren, zur Kirche aber wurden sie damals meist mit der
Kutsche oder später mit dem Taxi abgeholt. (Ein Taxifahrer war zum Beispiel Herr Rudolf Krüger
aus der Neuen Straße 23.).
Wie
willkommen war in dieser schweren Zeit die Verteilung der Kolonieländereien an
Seydaer Bürger: also solcher Flächen, die die Beschäftigten der
Arbeiterkolonie urbar gemacht hatten! Brachte ein zusätzliches Stück Land doch
neue Ernährungs- und Einnahmequellen. (SSLB
10.1.1920).
„Nach
dem 1. Weltkrieg befand sich die Arbeiterkolonie nach 39 Jahren in einer sehr
schlechten wirtschaftlichen Lage und stand 1924 vor dem Zusammenbruch. Die
Provinzialverwaltung in Merseburg übernahm die Anstalt in Seyda, nahm
umfangreiche Um- und Ausbauten vor, um eine „Landwirtschaftliche
Lehranstalt“ zu eröffnen. Sie bot 90 schulentlassenen Fürsorgezöglingen ein
neues Zuhause und eine Ausbildung in einem landwirtschaftlichen Beruf.“
(Bärbel
Schiepel: Abschlußarbeit im Rahmen der Sonderpädagogischen Zusatzausbildung,
Vorstellung des Diest-Hofes, 24. März 1998.).
In der „Landwirtschaftlichen
Lehranstalt“ konnten die „Zöglinge“
versäumte Schulkenntnisse nachholen sowie in einer großen Gärtnerei mit der
Arbeit in der Landwirtschaft sowie einigen Handwerksberufen vertraut werden. (Heimatbuch
52).
„Der Übernahme gingen umfangreiche Um- und
Ausbauten voraus, um 90 Zöglingen ein neues Zuhause zu geben. Die Jungen wurden
in Lehr- und Dienststellen bei Handwerkern und Bauern der Umgebung vermittelt.
1930 wurde die Anstalt für die Zöglinge verlegt, und Seyda wurde bis
Kriegsende wieder Arbeiterkolonie.“ (Heimatbuch
53).
Seelsorger für
die Jungen war auch Pastor Voigt aus Gadegast.
Eine
Folge der schlechten Wirtschaftslage war die Inflation, die 1923 ihren Höhepunkt
erreichte. Das „Ansteigen“ der Lehrergehälter macht es deutlich: Für eine
Stunde Unterricht gab es im August 1922 86 Reichsmark, von September bis
Dezember 165 Mark, im Januar 1923 440 Mark, im Februar 880 Mark, im März 1.100
Mark... (Seydaer
Schulchronik 1922/23).
Ein Ei kostete
1923 40.000 Mark! (Geschichte
der Kirche in Zemnick).
Schließlich
wurden 1 Billion Papiermark gleich einer neuen Reichsmark!
Die Auswirkungen
auf die Kirchengemeinde beschreibt Pastor Dr. Graf in der Turmkugel 1929:
„Kirchliche
Abgaben haben wir bis 1924 nicht gehabt, das Opfergeld ist der Geringfügigkeit
wegen nicht eingezogen worden, Läutegeld, Haugeld und Rente waren abgelöst.
Die Kirche hatte einen Vermögensbestand von über 100.000 M, die Oberpfarre ca.
26.000 M und außerdem die Pächte des Pfarrguts Zwuschen, nach dessen Verkauf,
wie schon geschrieben, den Vermögensbarzuwachs. Diakonat, Küsterei, Kantorat
hatten ebenfalls einen Fonds. Durch die Inflation sind die so sicher in
Staatspapieren angelegten Gelder verschwunden, und so waren die kirchlichen
Vertretungen gezwungen, die Kirchensteuer einzuführen, welche dann 1925 zum
ersten Male erhoben wurde. Trotzdem dieselbe sehr mäßig war, rief sie viel
Unwillen hervor; aber Austritte aus der Kirche haben nicht stattgefunden.“
(Jedenfalls
nicht gleich... Gerhardt, Heimatbote 16.9.1927).
Eine
Gastwirtschaft in Seyda wurde 1919 gekauft, die Raten waren durch die Inflation
„schnell“ bezahlt... Ähnlich ging es mit manchen Auszahlungen. Ein Rucksack
voller Geld war schnell beschafft!
Die
drückende Not veranlaßte viele, ihr Glück in den weiter anwachsenden Städten
zu suchen. Die Einwohnerzahl sank weiter, auch durch den Geburtenausfall im
Ersten Weltkrieg. So zählte Schadewalde 1924 96 Einwohner, 1940 waren es 88.
Am
Anfang des Jahres 1926 wurde Oberpfarrer Dörge pensioniert. Eine Erinnerung an
ihn ist zum Beispiel die, dass er immer seine Predigten auf dem Weinbergsweg am
Ortsausgang Richtung Mellnitz memorierte, also auswendig lernte! Nach der
Verwaltung des Pfarramts im Auftrag des Konsistoriums durch den pensionierten
Pfarrer Arnold erfolgte zum 1. September 1926 die Berufung von Pfarrer Dr. phil.
Theodor Graf.
1928 wurde die
Superintendentur Zahna, die seit 1878 bestand, aufgelöst, „wegen Ersparniskosten der Verwaltung“, Seyda kam zum
Kirchenkreis Jessen. Pastor Voigt aus Gadegast rettete die „Heimatgrüße“ als Evangelisches Monatsblatt (bisher „des
Kirchenkreises Zahna“) jedoch noch bis 1936.
Im
Juli 1926 fand das „Gauturnfest des
Sachsengaues“ in Seyda statt, und es gab Überschwemmungen:
„,In der Tat befinden sich von den
Kolonieländereien etwa 350 Morgen vollständig unter Wasser. Von den
Kartoffeln, Rüben, Klee und Seradella ist nichts mehr zu retten. Da der
Mutterboden des Koloniegeländes aus Torf besteht, wird für längere Zeit eine
Bearbeitung des Ackers nicht möglich. Die Besichtigung konnte nur in
Langstiefeln vorgenommen werden. Verwesende Tierkörper und Pflanzenstoffe
verbreiten einen unangenehmen Geruch.´ Im Ganzen ist mit einem Ernteausfall von
850 Morgen zu rechnen, was für Seyda einen großen Schaden bedeutet. In vielen
Kellern ist das Wasser infolge der Wolkenbrüche und des anhaltenden Regens noch
gestiegen.“ (Bärbel
Schiepel in HK 8/1996, S. 5; nach:
Heimatkalender 1927 und SSLB vom 22. und 29.6.).
Dadurch kam es
auch zu einer großen Mückenplage beim Beerensammeln, der man mit Mottenkraut
Herr zu werden suchte.
Zum
Alltagsleben in Stadt und Kirchengemeinde gehörte der Frauenverein. Im
Stadtblatt, dem „Seydaer Stadt-
und Landboten“, der seit 1919 erschien, konnte man am 30. Oktober 1926
lesen: „Seyda, 20. Okt. (E.B.) Am gestrigen Mittwoch fand bei Gastwirt Bergholz
die Generalversammlung des Frauenvereins statt. Nachdem der Schriftführer,
Pastor Voigt, einen kurzen Rückblick von der durch die Kirchengemeinde Seyda,
Gadegast, Zemnick, Morxdorf und Mellnitz am 28.10.1906 vorgenommenen Gründung
zum Zweck der „Krankenpflege auf dem Lande“ an - bis zum heutigen Tage, also
genau 20 Jahre - gegeben hatte, erstatte er des Näheren Bericht über die
Mitgliederzahl und den Kassenbestand. Der Verein hat 130 Mitglieder...“
Der Vorstand wird neu gewählt, Pfarrer Dr. Graf wird Schriftführer.
Die
alte Zeit nimmt immer mehr Abschied:
„Am 14. Dezember 1927 fuhr die alte Pferdepost das
letzte Mal. Sie vermittelte den Post- und Personenverkehr seit 1816. Ein
Postillon, der Galauniform trug, blies zur letzten Fahrt die Signale und ein
Abschiedsliedchen. Vom 15.12. ab übernimmt die Seydaer Firma Lenz & Wolter
mit dem modernen Verkehrsmittel, dem Autoomnibus, die Vermittlung der Postsachen
und einen dreimaligen Personenverkehr. Damit ist unser abgelegenes Städtchen an
das große Bahnnetz Deutschlands angeschlossen. Die Verabschiedung der alten
Pferdepost fand unter reger Beteiligung von Seydaer Bürgern, der Stadt- und
Postverwaltung von Zahna und vieler Bewohner Zahnas in feierlicher Weise hier
auf dem Marktplatz, in Zahna am Rathause und Postgebäude und später im
Rathaussaale statt. Die Schule wohnte der Feierlichkeit auf unserem Marktplatze
am 14. Dezember 1927 10 Uhr vormittags bei.“ (Schulchronik
Seyda, 1927/28).
1928 wurde auch
die Zahnaer Straße neu gepflastert, zum Teil ist dieser Belag heute noch zu
sehen.
Am
15. August 1929 überquerte das Luftschiff „Graf
Zeppelin“ auf seiner Weltreise
Elster. „Alt und jung stand auf der Straße
und bestaunte dieses Wunderwerk der Technik.“ (Aus
den Heimatglocken, Gemeindeblatt für Elster; wieder abgedruckt im HK vom
14.10.99, S. 3).
In den Schulen
wurden Aufsätze geschrieben: Was wird sich durchsetzen, der Zeppelin oder das
Flugzeug? Und viele dachten, der Zeppelin wäre die Zukunft.
Einer,
der alle diese Jahre begleitet und geprägt hat, war der Kantor und Lehrer
Schmalz. 44 Jahre war er im Schuldienst, von 1909 bis 1953, und hat Generationen
von Schulkindern geprägt.
So ist vielen
noch in Erinnerung, dass in jedem Jahr am Heiligen Abend die Konfirmanden von
der Empore sangen:
„Dies ist die Nacht, da mir erschienen
des großen Gottes Freundlichkeit;
das Kind, dem alle Engel dienen,
bringt Licht in meine Dunkelheit,
und dieses Welt- und Himmelslicht
weicht hunderttausend Sonnen nicht.
Laß Dich erleuchten, meine Seele,
versäume nicht den Gnadenschein;
der Glanz in dieser kleinen Höhle
streckt sich in alle Welt hinein;
er treibet weg der Höllen Macht,
der Sünden und des Kreuzes Nacht.
In diesem Lichte kannst Du sehen
das Licht der klaren Seligkeit;
wenn Sonne, Mond und Stern vergehen;
vielleicht noch in gar kurzer Zeit,
wird dieses Licht mit seinem Schein
Dein Himmel und Dein Alles sein.
Laß nur indessen helle scheinen
Dein Glaubens- und Dein Liebeslicht;
mit Gott mußt Du es treulich meinen,
sonst hilft Dir diese Sonne nicht;
willst Du genießen diesen Schein,
so darfst Du nicht mehr dunkel sein.
Drum, Jesu, schöne Weihnachtssonne,
bestrahle mich mit Deiner Gunst;
Dein Licht sei meine Weihnachtswonne
und lehre mich die Weihnachtskunst,
wie ich im Lichte wandeln soll
und sei des Weihnachtsglanzes voll!“
(Evangelisches
Gesangbuch Nr. 40; nach der Melodie „O dass ich tausend Zungen hätte“
gesungen, wie auch das Lied von einem Seydaer 240).
Daheim unter dem
Weihnachtsbaum war es üblich, das Lied „Lobt
Gott, ihr Christen alle gleich“ zu singen.
1928 gab es zum
2. Weihnachtsfeiertag einen Theaterabend. Das übliche Weihnachtskonzert mit der
Stadtkapelle wurde mit diesem Abend verbunden.
Das
Theaterspielen war damals, als es noch keinen Fernseher gab, sehr beliebt. „Puppen-Richters“
lebten über Generationen im Haus in der Triftstraße 11, sie waren
professionelle Puppenspieler und führten viele Märchenspiele auf.
Im
Jahr der großen Weltwirtschaftskrise, 1929, mußte die Seydaer Turmkuppel
abgenommen werden: „Ein orkanartiger
Sturm hatte jüngst an der Turmhaube - namentlich auf der Südwestseite - eine
Reihe von Schiefersteinen herabgeschleudert und auch viele gelockert, die
herabzufallen drohten...“.
Deshalb haben
wir von diesem Jahr einen Bericht von Pfarrer Dr. Graf, auch mit einer Abschrift
der alten Dokumente seit 1708.
Er berichtet über
die Finanzprobleme der Kirchengemeinde: Kirchensteuer muß nun erhoben werden...
Es gibt auch einen Mangel an Theologiestudenten in der Provinz Sachsen, 400
Pfarrstellen konnten nicht besetzt werden.
Trotz allem aber
wird die Turmspitze wieder vergoldet, auch der Turmknopf und die Zeiger, wenn es
auch heißt: es „fällt der Gemeinde
schwer“. Er kann schreiben: „Hier
in Seyda sind bisher keine Kirchenaustritte erfolgt.“ Doch gibt es eine „große
Sektenpropaganda“, die „Weißenberger“
und die „Zeugen Jehovas“ sind rege
tätig, aber nur eine kleine Familie gehört zu den Weißenbergern.
Joseph
Weißenberg (1855-1941) ist die zentrale Figur der „Johannischen Kirche“, deren Anhänger deshalb auch „Weißenberger“
genannt werden. Er war als Heiler tätig (deshalb ist er in unserer Gegend auch
als „der Quarkdoktor“ bekannt
gewesen), und er traf prophetische Vorhersagen, die allerdings nicht immer
eintrafen. 1926 gründete er die „Johannische
Kirche“ und behauptete, als personhafte Offenbarung Gottes in einer Reihe
neben Mose und Jesus zu stehen. Bei Trebbin gründete er eine „Friedensstadt“, das „himmlische
Jerusalem“. Eine Gemeinde der „Johannischen
Kirche“ gibt es heute noch in Elster, im Ganzen hat die Gemeinschaft jetzt
ca. 6.000 Mitglieder und ist insbesondere karitativ engagiert.
Die
„Zeugen Jehovas“ sind noch in
Seyda unterwegs, nachdem sie den Weltuntergang bereits für 1874, 1914, 1915,
1916, 1918, 1925... 1975 und nun aber als „unmittelbar bevorstehend“ angekündigt
haben; eine schlimme Sekte, die viele auch heute in totale geistige und
materielle Abhängigkeit treibt.
Eine
dritte „Sekte“, die in Seyda bisher Anhänger fand, ist die „Neuapostolische Kirche“; bis zur Mitte der 90iger Jahre
existierte auch ein Versammlungsraum in Seyda.
Solche
Gemeinschaften gab es eigentlich zu allen Zeiten, jedoch ist insbesondere seit
1918 die Auseinandersetzung mit ihnen auf das geistige Feld beschränkt, was
auch gut ist. Deshalb aber können sie sich anders ausbreiten als zu Zeiten der
Staatskirche, wo es oft als eines der größten Verbrechen angesehen wurde,
jemandem das Seelenheil durch eine fremde Lehre unmöglich zu machen (die ewige
Seligkeit wog ungleich mehr als zum Beispiel jemandem etwas zu stehlen oder ihn
zu belügen). Doch hören wir weiter, was Pastor Dr. Graf 1929 über seine
eigene Kirchengemeinde zu berichten hat:
„...
der Kirchenbesuch ist im Vergleich zur Vorkriegszeit erheblich zurückgegangen,
er umfaßt hier in Seyda an gewöhnlichen Sonntagen durchschnittlich gerechnet
ca. 40-50 erwachsene Gemeindeglieder (vorwiegend Frauen), dazu kommen noch ca.
15 Lehrlinge der Landwirtschaftlichen Lehranstalt und einige Konfirmanden. An
den Fest- und Feiertagen ist die Kirche gefüllt.“
„Erschreckend ist der allgemeine Geburtenrückgang
in unserm Volk, der auf 1/3 der Vorkriegszeit gesunken ist.“
(Das „Heimatbuch“ nennt auf S. 52 für Seyda im Jahre 1930 1284 Einwohner.).
Der Pastor
beklagt auch eine große „Vergnügungs-
und Verschwendungssucht“ - ein wenig sind die „Goldenen Zwanziger Jahre“ wohl trotz aller Not auch in Seyda
angekommen.
Kurz nach diesem
ausführlichen Bericht, dessen großer politischer Teil noch erwähnt werden
wird, ist der Pfarrer schwer erkrankt: über 1 ½ Jahre muß er in Krankenhäusern
zubringen, im Juli 1931 wird er pensioniert.
(„Pfarrer“
- bezeichnet die Zuständigkeit für einen eingegrenzten Bereich, hier Seyda, Lüttchenseyda,
Schadewalde, Morxdorf, Mellnitz; „Pastor“
heißt auf lateinisch „der Hirte“ und sieht auf die Gemeindeglieder, die ein
Pastor betreut. Die Begriffe werden meistens beide gleichwertig verwendet
(zwischenzeitlich jedoch wurde damit auch einmal die Ausbildung unterschieden),
in Seyda sagte man gewöhnlich wohl „Pastor“,
wenngleich es immer die „Oberpfarre“
war; beim „Pfarrer“ klingt die
Verantwortung auch für die, die nicht Gemeindeglieder sind, ein wenig mit.
Dienstbezeichnung ist heute: „Pfarrer“.)
Seyda
erlebte seine erste „Vakanzzeit“,
also eine Zeit ohne einen festen Pfarrer. Von Juli 1931 bis zum Juli 1932 waren
in Seyda tätig: Herr Pfarrer in Ruhe Dr. Rausch aus Prettin, Herr P. Küsel
(Pfarrer in Mügeln und Verwalter der Arbeiterkolonie Seyda; die Pfarrvikare
Schmidt und Mücksch (in der Ausbildung). Außerdem wirkten als Vertreter Pastor
Voigt aus Gadegast und „Herr P.
Springborn, ein 83jähriger, aber noch sehr energischer, fleißiger Herr im
Ruhestande aus Jüterbog, der mit voller Hingebung und starkem Willen beseelt
war, die unsittlichen Zustände dieser Gemeinde, wie sie sich in den letzten
Jahren entwickelten, zu bessern.“ (Seydaer
Schulchronik 1932).
Trotz dieser
Schwierigkeiten konnte 1931 Strom in die Kirche
gelegt werden, insbesondere für das elektrische Gebläse der Orgel. Der
Blasebalg blieb aber auch noch weiter mechanisch funktionsfähig: heute noch
kann man sehen, wo die Füße hineingestellt werden mußten; mancher Konfirmand
hat dort schwitzend Luft für die Orgelpfeifen produziert und wurde durch die
„Klingel“ erinnert, stärker zu treten.
1931 konnten
endlich auch die Prospektpfeifen der Orgel erneuert werden, die - wie im ganzen
Land - mit den Glocken als Metallspende im Weltkrieg 1917 abgegeben werden mußten.
Zinnpfeifen, wie sie im Original gewesen waren, konnte man sich (bis heute)
nicht leisten, sie sind aus Zinkblech gefertigt.
Bevor
nun von ganz dunklen Zeiten der deutschen und damit der Seydaer Geschichte
berichtet werden muß, soll noch etwas Heiteres aus diesen Jahren erzählt
werden. Waren es doch für viele einfach auch Kinder- und Jugendjahre, von denen
sie glückliche Stunden in Erinnerung haben.
Die „Heimatgrüße“ berichten vom 28. Juni 1931: „Unser Frauenverein, der im Herbst sein 25jähriges Stiftungsfest
feiern wird, hatte heute eine seiner beliebten Sommertagungen im Schützenhause,
zu der uns auch der Gründer des Vereins, Herr Pfarrer Heinecke aus Berlin,
besuchte, der einige Tage seines Urlaubes in Seyda bei seiner Schwester
verbringt. Herr Pastor Heinecke erzählte in längeren Ausführungen aus seinen
Erfahrungen aus dem Leben eines Großstadtpfarrers. Er hängt noch mit großer
Liebe an seiner alten Gemeinde Seyda, wie er denn überhaupt viel Sinn für
Heimat und Heimatkunde besitzt und gezeigt hat, durch die Gründung des
Heimatmuseums in Seyda, das sich zur
Zeit in einem Klassenraum der Seydaer Stadtschule befindet. Sein humorvolles
Gedicht auf Seyda, das er zum besten gab, und das vom Frauenverein, der gern
Heimatlieder singt, sogleich mitgesungen wurde, soll auf mehrfachen Wunsch hier
ein Plätzchen finden.
Ferientage in Seyda
Melodie: Im schönsten
Wiesengrunde
Zwei Stunden ab von Zahna
Ist meiner Heimat Haus.
Bis Zahna fährt die Bahne,
Dort steigt man aus.
Dich mein stilles Tal,
Grüß ich tausendmal.
Bis Zahna fährt die Bahne,
Dort steigt man aus.
Dann wandert man zu Fuße
Zwei Stunden durch den Wald,
Jetzt fährt im Autobusse
Man heim gar bald.
Quer durch die Gad´sche Heide
Bringt mich der Postillion,
Da kann das liebe Seyde
Ich sehen schon.
Nun geht’s von Bergesrücken
Durch Gadegast im Nu
Vorbei an Wiesenstücken
Auf Seyda zu.
Vom Kirchturm winkt die Fahne,
Dort grüßt die Molkerei.
Wie schade, daß die Bahne
Nicht fährt vorbei!
Das Auto fährt gar schnelle;
jetzt biegt´s ins Städtchen ein
Bald werde ich zur Stelle
Bei Muttern sein!
Schon seh ich meine Lieben
Dort auf dem Marktplatz stehn.
Zu Haus ist keiner blieben.
Die Tücher wehn!
Und schöne Blumen schaue
Ich in der Mutter Hand,
S´ sind rote, gelbe, blaue,
Die sie mir band.
„Willkommen hier in Seyde!“
So rufen froh sie aus.
Ich
fühl aufs neu die Freude:
Ich bin zu Haus!
Zur Ferienzeit drum eil ich
Stets nach der Heimat hin,
Nach Seyde eil ich, weil ich
Da heimisch bin.“
(HG
7/1931).
„Pfarrer Heinecke war der Onkel der Frau Dr.
Nekwasil
(später eine bekannte
Zahnärztin in Seyda, die noch Erwähnung finden wird). Er gründete am 15. September 1912
den „Heimatverein Seyda und Umgegend“ und im Oktober d. J. das Heimatmuseum.
Im Januar 1914 siedelte er nach Berlin um und übernahm dort an der
Immanuel-Kirche das Pfarramt.
Der Frauenverein hatte sich damals die Aufgabe
gestellt, eine Art Nachbarschaftshilfe für Notbedürftige zu leisten. Kranke
wurden z. B. zu Hause gepflegt und betreut. Er tat das wohl gut und ausreichend,
so daß beispielsweise die Stadtverordneten die „Bildung eines
Wohlfahrtsausschusses“ für die Stadt ablehnten, „da der hiesige
Frauenverein voll und ganz seine Pflicht tut“. (Seydaer
Stadt- und Landbote 10.1.1920) Der Verein hatte eine große Anzahl von
Mitgliedern, organisierte viele Veranstaltungen und bereicherte so das
kulturelle Leben der Stadt. (Bärbel
Schiepel in: HK 6/1995, S. 4).
Die
politische Lage stellte sich dem Seydaer Pfarrer 1929 sehr düster da. In seinen
Ausführungen wird eine Meinung deutlich, die damals allgemein verbreitet war.
Die Schuld für die wirtschaftliche und politische Misere Deutschlands wird
nicht bei deren Urhebern, sondern bei der seit 1919 bestehenden Demokratie und
ihren Vertretern gesehen. Mit Macht versucht man sich gegen das Neue zu stemmen.
Aus der Turmkugel, 1929:
„Seit den letzten Aufzeichnungen von 1908 haben sich
welterschütternde Ereignisse zugetragen, namentlich entfacht von dem vierjährigen
Weltkrieg, der vom 1. Juli (August!
T.M.) bis
9. November 1918 wütete. Es war das grösste und blutigste Völkerringen, das
je die Erde sah! Deutschland mit seinen drei Verbündeten (Oesterreich,
Bulgarien und Türkei) führte gegen 22 Nationen einen Verteidigungskrieg auf
Leben und Tod. Unvergleichliche Heldentaten haben unsere deutschen Heere zu Land
und zu Wasser vollbracht und standen bis zuletzt durch Waffen unbesiegt einer zwölffachen
Uebermacht gegenüber in der Feinde Länder! Annähernd
zwei Millionen deutscher Soldaten haben ihr Leben gelassen zum Schutze des
bedrohten Vaterlandes; Aus unserer Kirchengemeinde Seyda starben 123 Krieger den
Heldentod! Auch die heimatliche Bevölkerung, die alles
Edelmetall wie Gold, Silber, Kupfer usw. auf den Altar des Vaterlandes legte,
brachte und erduldete die grössten und schwersten Opfer der Entsagung und
Entbehrung! Da Deutschland durch die feindlichen Land- und Seemächte von
jeglicher Zufuhr von Lebens- und Existenzmitteln abgeschnitten war, stieg die
Not unseres Volkes immer mehr. Alle Lebensmittel wurden proportioniert, d.h.
jede Person erhielt - unter strenger staatlicher Kontrolle - nur auf sogenannte
Lebensmittelkarten ein bestimmtes, kaum
ausreichendes Quantum an Brot, Fleisch, Milch, Butter, Kartoffeln, Mehl usw.;
auch die Bekleidungsstücke wurden rationalisiert! ...
Die Flamme der Revolution, von staatsfeindlichen
Elementen im Geheimen vorbereitet und geschürt, brach plötzlich hervor... Erdrückend
waren und sind die Kriegsentschädigungen und Tribute, die die Siegerstaaten,
wie sich unsre Feinde jetzt nannten, in unversöhnlichem Haß im Frieden von
Versailles unserm Volk aufbürdeten, dass sie in lügenhafter Weise für die
Schuld am Ausbruch des Krieges verantwortlich machen... Alljährlich muß
Deutschland über 2 Milliarden Goldmark an die Ententeländer abführen...
Deutschland, das einst so reich und blühend war, sinkt auf die Stufe völliger
Verarmung und Versklavung herab. Am schlimmsten
war die Zeit der sogenannten Inflation, der Geldentwertung, die bald nach dem
Zusammenbruch einsetzte und im Jahre 1923 ihren Höhepunkt erreicht hatte...
Man rechnete nur noch nach Milliarden und Billionen.
Immer neue, immer höher lautende Geldscheine wurden gedruckt... Infolgedessen
verarmten die früher Vermögenden fast völlig... Auch unsere hiesige
Kirchengemeinde Seyda, die einst über ein grosses Vermögen verfügte, wurde
schwer betroffen. Das Gut Mark Zwuschen, das ca. 1.200 Morgen umfasste und als
Pfründe zur Oberpfarre gehörte, war im Jahre 1913
(1908! T.M.), also
kurz vor dem Krieg, verkauft, und der Erlös von über 100.000 Reichsmark in mündelsicheren
Staatspapieren angelegt worden - ist nun dahin! Zwar besitzt die Gemeinde Seyda noch einige Kirchen- und Pfarrländereien, aber die Einnahmen
reichen zur Bestreitung der kirchlichen Bedürfnisse und zum Pfarrgehalt bei
weitem nicht aus, so dass jetzt Kirchensteuern erhoben werden müssen, z. Zt.
betragen dieselben 6% der Staatseinkommenssteuer, sowie 12 bis 20% der
Realgrundsteuern und bedeuten eine
weitere Belastung für die durch Abgaben aller Art schon bedrückten
Gemeindeglieder... Was die evangelische Kirche anbetrifft, so steigert sich ihre
Notlage immer mehr... Schon heute herrscht ein außerordentlicher Mangel an
jungen Pfarrern. Die Anzahl der Theologiestudierenden ist auf ¼ der
Vorkriegszeit zurückgegangen. Viele Pfarrstellen (in der Provinz Sachsen allein
über 400) können nicht mehr besetzt werden... Auch
die hiesige 2. Pfarrstelle, das sogenannte Diakonat, ist seit 1921 vakant und
wird von dem Inhaber der ersten (Ober)pfarrstelle mitverwaltet... Auch sonst trägt
die evangelische Kirche das Kleid der Armut und Not. Während des Krieges wurden
auf staatliche Anordnung fast überall die Kirchenglocken und Orgelpfeifen
beschlagnahmt und abgenommen, um daraus Kriegsmaterial herzustellen, eine Art
Sacrilegium, das sich bitter rächte,
denn von jener Zeit an wich der Segen Gottes von unserm Volk. Auch unsere
Gemeinde Seyda musste von ihren zwei Kirchenglocken eine abliefern, sowie die
Orgelpfeifen; bis heute ist es aber der Gemeinde nicht möglich gewesen,
dieselben zu erneuern; doch hoffen wir, dass es uns mit Gottes Hilfe durch jährliche
Rücklagen und freiwillige Gabensammlungen bald gelingen wird, wieder eine
zweite Kirchenglocke anzuschaffen und die Orgel wiederherzustellen. Auch das
Innere der Kirche bedarf dringend einer gründlichen Renovation, doch fehlen uns
dazu die erforderlichen Mittel...
Was nun das religiöse und kirchliche Leben
anbetrifft, so hat dasselbe durch den Krieg mit seinem unglücklichen Ausgang
die schwersten Erschütterungen erlitten. Ein fühlbarer Zug der Gottentfremdung
und des Unglaubens sowie eine antireligiöse und antikirchliche Bewegung geht
durch unser deutsches Volk... Die Jugend soll ohne Religion erzogen werden, die
christliche Glaubens- und Sittenlehre soll durch sogenannte Morallehre ersetzt
werden.
Hier in Seyda sind bisher keine Kirchenaustritte
erfolgt. Selbst die Arbeiter, die sozialistisch und kommunistisch eingestellt
sind, halten an der kirchlichen Sitte der Taufe und Konfirmation sowie der
kirchlichen Trauung und Bestattung durch den Pfarrer fest; aber den kirchlichen
Gottesdiensten, Abendmahlsfeiern und sonstigen kirchlichen Veranstaltungen
bleiben sie möglichst fern. Auch haben hier in Seyda die mannigfachen Sekten,
die sich überall regen, und unter denen besonders die V.E.B. (Ernste
Bibelforscher) (nennen
sich erst seit 1931 „Jehovas Zeugen“)
und die Weissenberger große Propaganda machen, bis jetzt keinen Fuß fassen können,
nur eine kleine Familie bekennt sich zu der letztgenannten Sekte.
Sehr beklagenswert und folgenschwer ist die immer
fortschreitende Entsittlichung unsres Volkes, namentlich des größten Teiles
unserer deutschen Jugend. Der Sonntag wird immer mehr entheiligt und immer
weniger geachtet; der Kirchenbesuch ist im Vergleich zur Vorkriegszeit erheblich
zurückgegangen;
er umfaßt hier in Seyda an gewöhnlichen
Sonntagen durchschnittlich gerechnet ca. 40-50 erwachsene Gemeindeglieder
(vorwiegend Frauen), dazu kommen noch ca. 15 Lehrlinge der Landwirtschaftlichen
Lehranstalt und einige Konfirmanden. An den Fest- und Feiertagen ist die Kirche
gefüllt. Die Zahl der Abendmahlsgäste in Seyda betrug im vergangenen Jahr 1928
insgesamt 525. In den Filialdörfern Mellnitz und Morxdorf ist der Kirchenbesuch
reger. Erschreckend ist der allgemeine Geburtenrückgang in unserm Volk, der auf
1/3 der Vorkriegszeit gesunken ist. Gegenwärtig halten sich die Geburts- und
Todesfälle fast das Gleichgewicht... Die
Zahl der unehelichen Geburten wächst. Auch werden die Eheschliessungen reiner
Brautleute immer seltener. Die Zahl der Geburten in der Stadt Seyda betrug im letzten Jahr 23, die der
Todesfälle 22. Auch ist die Zahl der städtischen Einwohner in den letzten
Jahren gegenwärtig auf 1.445 Seelen gesunken. Obgleich Seyda durch die täglich
mehrmalige Post- und Personenautoverbindung mit Zahna aus seiner Entlegenheit
den Verkehrszentren näher gerückt ist, dürfte wohl in absehbarer Zeit kaum
mit einem Wachstum und Aufschwung der Stadt zu rechnen sein.
Was noch besonders am Mark unsres Volkes zehrt, ist
eine Vergnügungs- und Verschwendungssucht in solchem Ausmaß, wie man es nie im
Vergleich zu der früheren schlichten und sparsamen Lebensweise des deutschen
Volkes für möglich gehalten hätte. Trotz aller Notlage und der herrschenden
Teuerung fröhnt der überwiegende Teil unsres Volkes einer Genußsucht, wie man
sie früher noch nicht kannte. Daß diese Zustände der wachsenden
Gottentfremdung, des Abfalls vom Glauben und die Entsittlichung unser Volk immer
mehr dem Verderben entgegentreiben müssen, muß jeden ernsten und wahren
Vaterlandsfreund mit schwerer Besorgnis erfüllen. Wir können nur Gott bitten,
daß er sich unsres armen, verblendeten Volkes erbarme und es mit seines
heiligen Geistes Kraft zur religiösen Wiedergeburt
und zur sittlichen Erneuerung erwecke.
Wir wollen auch angesichts aller schwerer Bedrängnisse
und Zustände unserer Evangelischen Kirche nicht verzweifeln, sondern mit dem
Psalm 46 bekennen und rühmen: „Gott ist unsere Zuversicht und Stärke, eine
Hilfe in den großen Nöten, die uns getroffen haben.“ Auch wollen wir
festhalten an der Verheißung des Herrn unserer Kirche Jesu Christi, daß die
Pforten der Hölle seine Gemeinde nicht überwältigen sollen, wenn dieselbe nur
festgegründet bleibt in dem Glauben an ihn, den hochgelobten Sohn Gottes (Mt
16,18).
Ganz besonders sei unsere evangelische Kirchengemeinde
und Stadt Seyda der Gnade, dem Schutz und Segen Gottes befohlen. Geschrieben und
unterzeichnet
Seyda, den 24. Mai 1929
Pfarrer Dr. phil. Theodor Graf (seit dem 1. September
1926 in die hiesige Pfarrstelle berufen).“
Unter
diesen Voraussetzungen kann man sich vorstellen, wie 1933 ein „Führer“
bejubelt wurde, der eine umfassende Erneuerung versprach...
Die
„Heimatgrüße“ spiegeln das
Empfinden der Zeit wider. So können wir 1933 aus der Feder von Pastor Voigt
lesen:
„Vor 12 Jahren, in der April-Nummer der Heimatgrüße
von 1922, hatten wir ein Gedicht von Pastor Bahr, ein Stoßgebet aus dem Herzen
des Volkes, an die Spitze gestellt, das um seiner unglaublich buchstäblichen
Erfüllung und Erhörung willen hier noch einmal abgedruckt sein mag. Es ist überschrieben:
Ein Mann!
Ein Mann tut uns not mit stahlharter Stirn,
Ein Mann, mit flammender, zündender Rede,
Ein Mann, der Welten trägt im Gehirn,
Ein Mann, der siegreich besteht jede Fehde;
Ein Mann, der die Liebe zum Vaterland,
Die Ehre aufpeitscht mit gewaltigen Hieben,
Ein Mann, der ins Herz wirft den Feuerbrand,
Daß Feigheit und Selbstsucht in Funken zerstieben;
Ein Mann wie Luther, ein Riesenheld,
Ein F
ü h r e r in Nacht und Sturm
und Wetter,
Ein Mann, den segnet die deutsche Welt,
Du, Herrgott im Himmel, o send uns den Retter!“
Kein Mensch wußte damals: „wie mag das zugehen?“
oder: „wer mag das sein?“ - Der Mann, der Führer selbst kannte seine
Bestimmung noch nicht. Aber Gott hatte Sein Werkzeug, den Retter Deutschlands,
schon bereit: Adolf Hitler; und 12 Jahre später, als die Not aufs höchste
gestiegen war, da hat Er ihn uns gegeben. Wer nun noch zweifelt, daß Gott
Gebete erhört, wer nun noch bestreitet, daß Gott auch heute noch Wunder tut,
dem ist nicht zu helfen, der will eben nicht sehen...“
Es
gehört zu den dunkelsten Kapiteln unseres Volkes und auch unserer Kirche, dass
viele diesem Ver-Führer gefolgt sind, der so vielfaches Leid nicht nur über
unser Land, sondern über die Völker Europas gebracht hat. In einer Geschichte
der Kirche von Seyda soll das nicht verschwiegen werden. Die Katastrophe, die
darauf folgte, war noch größer als die erste, und ihre Folgen zeigen sich noch
heute, über ein halbes Jahrhundert später.
So,
wie es sich der Pastor Voigt wünschte, dass auch die Kirche durch diesen Führer
neu geordnet würde, trat es nicht ein. Denn es gab mutige Leute in der Kirche,
die das verhindert haben. Sie gründeten die „Bekennende
Kirche“ und installierten neben der verordneten Kirchenleitung eine „provisorische“,
die sich nicht wie alle anderen Organisationen „gleichschalten“
ließ. Auch der Pastor Mücksch, der 1932 ins Amt in Seyda kam, aber schon bald
wieder wegging, gehörte zu dieser „Bekennenden
Kirche“. Pastor Hagendorf, seit 1936 in Seyda, soll erst auch ein Anhänger
der neuen „Bewegung“ gewesen sein,
wurde dann aber doch noch wegen kritischer Äußerungen inhaftiert. Davon wird
noch die Rede sein.
Im
Jahr 1933 jedenfalls war es schwierig und für viele wohl fast unmöglich, die
Absichten des Adolf Hitler zu durchschauen. Er traf mit seinen Reden genau
diesen Ton: Deutschland sollte wieder aus seiner „Schmach“ geführt werden, mit dem „Parteiengezänk“ sollte Schluß sein, „Brot und Arbeit“ sollte es geben, „Deutschland“ sollte wieder etwas gelten. Von Anfang an aber
setzte er seine Ziele mit unmenschlichen Mitteln und brutaler Gewalt durch.
Die
Hoffnung, dass der „Nationalsozialismus“
eine Verbesserung der Lage des Landes und auch ganz persönlich bringen würde,
ergriff viele. Das kam auch in Seyda bei verschiedenen Feierlichkeiten zum
Ausdruck. Im August 1933 konnte endlich die zweite Glocke wieder ersetzt werden,
die im Weltkrieg abgegeben worden war. Das schien wie ein Zeichen einer neuen,
besseren Zeit zu sein. Auf der Glocke war zu lesen:
„1917 O Land, Land, Land, höre des Herrn Wort 1933
Wach auf, Wach auf, du deutsches Land
du hast genug geschlafen
Bedenk, was Gott an dich gewandt,
wozu er dich geschaffen
Bedenk, was Gott dir hat gesandt
und dir vertraut sein höchstes Pfand,
drum magst du wohl aufwachen!“
Die Glocke wurde
auf einem mit Blumen geschmückten Wagen durch die Stadt gefahren und dann -
alle Schulkinder mußten anfassen - an einem Strick den Turm hinaufgezogen. Die „Heimatgrüße“
berichteten:
„Seyda, 22. August. Das diesjährige Kinderfest
erhielt in diesem Jahre dadurch eine ganz besondere Note, daß es seinen Anfang
mit der Einholung unserer neuen zweiten Glocke nahm. Der Rollwagen mit der
festlich geschmückten Glocke nahm in der Triftstraße Aufstellung. Dort
versammelten sich die kirchlichen Körperschaften und die SA. Die Glocke selbst
wurde geleitet von jungen Mädchen des Jugendbundes. Auf dem Marktplatz
erwartete eine große Menge den Wagen mit der Glocke, der dann am Denkmal (Kaiser Wilhelms am Eingang der Bergstraße zum
Markt)
hielt. Die Kapelle intonierte zu Beginn
das Lied „Lobe den Herrn“. Die Menge sang gemeinsam die ersten 3 Strophen
dieses Liedes. Schulkinder, Knaben und Mädchen in bunter Reihe, trugen Stellen
aus Schillers unsterblichem „Lied von der Glocke“ vor. Pfarrer Mücksch
ergriff dann das Wort, indem er etwa folgendes ausführte: „Freude dieser
Stadt bedeute, Friede sei ihr erst Geläute!“ Das sind die gewaltigen Grundtöne,
die sich heute zu einem vollen Zusammenklang vereinen und immer weiter klingen
sollen: Freude und Friede. Unter dem Zeichen der Freude steht heute unsere
Stadt...
Der eherne Mund der Glocke will unser Volk aufrütteln
mit dem Mahnen zum Worte Gottes. Die Glocke will unser Leben begleiten. Wenn wir
unsere Kinder zur Taufe tragen, wenn zwei Menschen ihre Hände zu gemeinsamem
Lebensweg ineinander legen, sie wird ihre Sprache vom Gotteswort und von seinem
ewigen Ernst sprechen. Sie will unsere Gemeinde am Sonntag zur heiligen
Feierstunde rufen. Und sie wird auch einmal über dem offenen Grabe ihre Stimme
erheben, das auf Deinen letzten Gang wartet. Wenn die Glocke läutet, so wollen
wir bedenken, was uns anvertraut ist. Ein Unterpfand zur Freude und zum Frieden.
Darum: „Wach auf, wach auf du deutsches Land, du hast genug geschlafen!“
Anschließend an die Rede von Pfarrer Mücksch
formierte sich der Zug der Kinder zum Schulfest im Schützenhause. Dort auf dem
Platze, bei herrlichstem Sonnenschein, hielt Hauptlehrer Brantin eine Ansprache
an die Jugend, die von hohem vaterländischen und deutschen Geist erfüllt war.
Er forderte die Kinder auf, an dem großen Ziel unseres unvergleichlichen Führers
Adolf Hitler mitzuarbeiten, um Deutschland wieder zur Einheit und Größe zu führen.
Auch an die Alten, denen vielleicht noch die vergangenen 14 Jahre zu sehr in den
Gliedern steckten, richtete er die Mahnung und Aufforderung, nach besten Kräften
am Aufbau unseres lieben deutschen Vaterlandes mitzuhelfen. Seine Rede klang aus
in dem gemeinsamen Gesang des Deutschlandliedes und des Horst Wesselliedes...“
(HG 9/1933).
Eine feierliche
Glockenweihe fand im September statt. Generalsuperintendent Lohmann, der als „Bischof“
fungierte, hielt die Festpredigt: an einem Tag zunächst bei der Glockenweihe in
Gadegast, dann in Seyda.
Der
Glockenschlag strukturierte weiter das Leben: den Schulbeginn, die Mittagszeit,
das Abendläuten, der Wochenschluß, die fröhlichen und traurigen Anlässe des
Lebens. Aber auch das Tönen der Sirene an der Schneidemühle (Glücksburger
Straße 1) gehört nun zum Alltag in Seyda.
Hitler
festigte seine Macht. Im August 1934 starb der alte Reichspräsident Hindenburg,
wohl einer von denen, die noch die Macht gehabt hätten, den Nationalsozialismus
zu stoppen. Noch am gleichen Tage leisteten Offiziere und Mannschaften der
deutschen Wehrmacht ihren Treueeid auf Hitler. „Die Armee wurde aufgerufen, nicht auf die Verfassung oder das
Vaterland, sondern auf Hitler persönlich zu schwören: „Ich schwöre bei Gott
diesen heiligen Eid, daß ich dem Führer des deutschen Reiches und Volkes,
Adolf Hitler, dem Oberbefehlshaber der Wehrmacht, unbedingten Gehorsam leisten
und als tapferer Soldat bereit sein will, jederzeit für diesen Eid mein Leben
einzusetzen.“... Die nationalsozialistische Revolution war vollendet: Hitler
war Diktator von Deutschland geworden.“ (Alan Bullock: Hitler, S. 291).
Im
Rausch des Aufbruchs wurden wohl die „Nebenerscheinungen“ verdrängt: Das
Verschwinden „unliebsamer“
Personen, das Verbot von Büchern, die wachsende Diskriminierung der Juden, die
Planung des Krieges.
In
der Evangelischen Kirche gab es einen regelrechten „Kirchenkampf“ zwischen Anhängern der „Deutschen Christen“,
die Hitler folgten (und zum Beispiel das „jüdische“
Alte Testament zurücksetzten) und der „Bekennenden
Kirche“, die sich gegen eine Vereinnahmung und „Gleichschaltung“ der Kirche durch Hitler zur Wehr setzte.
Ein Dokument davon steht heute noch in unserem Evangelischen Gesangbuch,
die „Theologische Erklärung der
Bekenntnissynode von Barmen“ vom 29. bis 31. Mai 1934. Darin heißt es zum
Beispiel: „4. ... Wir verwerfen die
falsche Lehre, als könne und dürfe sich die Kirche abseits von diesem Dienst
besondere, mit Herrschaftsbefugnissen ausgestattete Führer geben und geben
lassen. 5. ... Wir verwerfen die falsche Lehre, als solle und könne der Staat
über seinen besonderen Auftrag hinaus die einzige und totale Ordnung
menschlichen Lebens werden und also auch die Bestimmung der Kirche erfüllen.
Wir verwerfen die falsche Lehre, als solle und könne sich die Kirche über
ihren besonderen Auftrag hinaus staatliche Art, staatliche Aufgaben und
staatliche Würde aneignen und damit selbst zu einem Organ des Staates
werden.“ (Evangelisches
Gesangbuch Nr. 810).
In Berlin-Dahlem
war Martin Niemöller Pastor. In seiner Gemeinde wurde in dieser bedrängten
Zeit begonnen, das alte Glaubensbekenntnis („Ich
glaube an Gott, den Vater...“) laut durch die Gemeinde mitzusprechen. Bis
dahin hatte es der Pfarrer in jedem Gottesdienst allein gesagt. Das ist heute
allgemein, auch in Seyda üblich. (Vgl:
Eberhard Bethge: Dietrich Bonhoeffer.).
In dieser Zeit
wurden auch die „Bibelwochen“
eingeführt, auch sie gehören heute zur Tradition, im ganzen Land und in Seyda
und den umliegenden Ortschaften. Man fragte in der Kirche neu nach dem, was uns
trägt und hält.
Etwa
die Hälfte der evangelischen Pfarrerschaft in Deutschland blieb indifferent
gegenüber „DC“ und „BK“,
in der Bekennenden Kirche waren etwa 2.000 Pfarrer, Mitglieder bei den Deutschen
Christen etwa 5.000. (Für
die Kirchenprovinz Sachsen: „Bereits
Ende 1937 hatte eine Erhebung ergeben, daß von 990 amtierenden Pfarrern 319 zur
Bekennenden Kirche rechneten, 524 als neutral und gruppenungebunden anzusehen
waren und 147 zu den Deutschen Christen gehörten. Von den etwa 2.000
Kirchgemeinden der Kirchenprovinz hatten sich insgesamt 46 Gemeinden offiziell
der Bekennenden Kirche angeschlossen. Von den zwei Millionen Kirchengliedern
hatten 16.217 die Mitgliederverpflichtung unterschrieben.“ (Meier: Der
evangelische Kirchenkampf III, S. 319).
In den „Heimatgrüßen“
beispielsweise, dem Evangelischen Monatsblatt unserer Orte, wurde offen Werbung
für die „Deutschen Christen“
gemacht. Man sah hier die Möglichkeit, die gesamte „Volksgemeinschaft“
wieder zurück zur Kirche zu führen. „Echte
deutsche Menschen feiern hier Gottesdienst unter dem Bilde des Heilandes und
durch ihn in ihrem Wesen geläutert... Kirche und deutsches Volk müssen eine
Einheit bilden. Deutsche Menschen werden im Gottesdienst in ihrem Wesen geadelt.
Das deutsche Volk braucht die Kirche und den christlichen Gottesdienst, weil überall
die Macht der Unterwelt des Satans in Lüge und Gier auf die Seele des Menschen
ihre Machtansprüche geltend macht und darum die erlösende Kraft des Heilandes
so nötig ist. Das deutsche Volk braucht den Gottesdienst, sonst geht es in Sünde
und Elend zugrunde.“ (Pastor
Ostermann in den HG 1/1936, S. 360.).
Walter Mücksch,
Pfarrer in Seyda, war im „erweiterten
Bruderrat“ der Bekennenden Kirche, zusammen mit Pfarrer Martin Jentzsch
(der in Seyda als Sohn des zweiten Geistlichen geboren wurde und das Lied Nr.
418 in unserem Gesangbuch gedichtet hat). (Meier:
Der evangelische Kirchenkampf III, Anm. 873, S. 658).
Im Jahr 1935
fand der Eintritt des Frauenvereins in die „Evangelische
Frauenhilfe“ statt. Das war eine Schutzfunktion, um nicht von den
Nationalsozialisten und ihren Organisationen vereinnahmt zu werden.
Alle Pfarrer
hatten 1938 einen „Treueeid auf
Hitler“ abzugeben! Auf
Initiative nicht des NS-Staates, sondern der „DC“,
wurde allgemein angenommen, weil man damit den Vorwurf der Staatsfeindschaft und
der politischen Unzuverlässigkeit abwehren wollte. Zum Kaiser als der
„Obrigkeit“ zu stehen war ja auch selbstverständlich gewesen. Die
„Wertung des Pfarrerstandes in der Öffentlichkeit litte darunter, daß die
Pfarrer als einzige als Träger eines öffentlichen Amtes in unsrem Volke nicht
auf den Führer vereidigt seien“ sagte ein Kirchenvertreter. (Meier: Der
evangelische Kirchenkampf III, S. 44f).
Dennoch
merkte Hitler bald, dass es ihm nicht gelang, die Kirchen ganz in seinen Staat
einzugliedern. Er zeigte deutlich, dass er den christlichen Glauben scharf
ablehnte. „In Hitlers Augen war das
Christentum eine Sklavenreligion; insbesondere verachtete er seine Ethik. Er
erklärte, die Lehre des Christentums sei eine Auflehnung gegen das Naturgesetz,
das die Auswahl durch Kampf und Überleben der Besten vorsehe.“ (Alan
Bullock: Hitler, S. 371).
Das hatte zur Folge, dass sich Nationalsozialisten auch in Seyda von der Kirche
distanzieren mußten. Es gab die ersten Trauungen, die nur auf dem Standesamt
durchgeführt wurden, sowie auch erste Kirchenaustritte.
Der
Religionsunterricht wurde mit nationalsozialistischen Inhalten gefüllt (weshalb
manche Gemeinden die „Christenlehre“
im Kirchenraum einführten, die es später auch in Seyda gab). 1932 fand das
letzte Krippenspiel in der Schule statt, unter Leiter von Kantor und Lehrer
Schmalz. Die Maria war
Martha Hähner, später viele Jahrzehnte Kirchenälteste in Seyda.
Im
Krieg wird Hitler noch deutlicher: „Das
Übel, das uns am Lebensmark frißt“, bemerkte er im Februar 1942, „sind
die Geistlichen beider Konfessionen. Im Augenblick kann ich ihnen nicht die
Antwort geben, die sie verdient haben... Aber es ist alles notiert. Die Zeit
wird kommen, in der ich mit ihnen abrechnen werde. Sie werden bestimmt noch von
mir hören, und dann lasse ich mich nicht von Paragraphen aufhalten.“ (Hitler´s
Table Talk 1941-1944. Übers. von Norman Cameron und R.H.Stevens, London 1953,
S. 304 In: Allan Bullock: Hitler, S. 371).
In
Seyda also war die Begeisterung wie fast überall im Land zunächst allgemein;
an manchem Hausneubau wurde im Giebel ein Hakenkreuz angebracht. Die
Hakenkreuzfahnen kamen bis in die Kirche.
Im
September 1933 wird der Beschluß gefaßt, Maurer- und Zimmererarbeiten am
Kirchturm vorzunehmen. Das Uhrziffernblatt wird neu angestrichen: Es ist damals
noch schwarz auf weißem Grund, so dass man es auch vom Feld aus größerer
Entfernung sehen kann.
1934 finden im
Pfarrhaus Renovierungsarbeiten statt, der im Mai ordinierte Pastor Heinrich
Ostermann kommt nach Seyda. Unter seiner Leitung beginnt 1935 endlich die lang
ersehnte Kirchenrenovierung! Das Kirchenblatt berichtet: „Am 26. August ist mit den Erneuerungsarbeiten in unserer Kirche
begonnen worden. Zuerst mußte die Orgel auseinandergenommen und die einzelnen
Teile sicher verpackt werden, um sie so vor Staub und Schmutz zu bewahren. Wie nötig
diese Arbeit war, sah man wenige Tage später, als die Handwerker mächtige Gerüste
im Kircheninnern aufgerichtet hatten und nun die ganze morsche Decke abrissen.
Da war die Kirche bald von dichten Staubwolken erfüllt, und sie glich einem Trümmerfeld.
Nach diesem Zerstörungswerk setzte sogleich eine lebhafte Aufbautätigkeit ein.
Oben auf den Gerüsten ist jetzt ein Pochen und Hämmern den ganzen Tag. Eine
neue Decke wird hergestellt, der Fußboden wird erneuert, eine Heizungsanlage
und elektrische Beleuchtung kommen in die Kirche. Wände und Gestühl erhalten
neuen Anstrich und der schöne Barockaltar wird sachverständig aufgefrischt.
Die Gottesdienste finden während der
Kirchenerneuerung im Heim der Hitlerjugend in der Schule statt. Dort stehen -
nebenbei bemerkt - keine Schulbänke, wie mancher irrtümlich geglaubt hat,
sondern große und breite Bänke für Erwachsene: dieselben, die bisher im
Gemeinderaum im Pfarrhause gestanden haben.
Doch wir wollen uns darauf besinnen, daß bei unsern
Gottesdiensten nicht der Raum die Hauptsache ist, sondern vielmehr die
gemeinsame Anbetung Gottes durch treue Gemeindemitglieder, die sich regelmäßig
durch das Wort Gottes Kraft für die Seele holen wollen. Gott schenke uns
Seydaern solche gesegneten Gottesdienste.“
(HG 9/1936).
Im
Dezember bereits waren die Arbeiten beendet:
„Die Kirchengemeinde Seyda hat dieses
Jahr ein ganz besonders schönes und großes Weihnachtsgeschenk bekommen, die
erneuerte Kirche. Am 4. Adventssonntag erlebten wir die feierliche Wiedereinführung
des schönen, schmucken Gotteshauses. Den Weiheakt vollzog Herr Pfarrer
Ohlert-Schweinitz, der als Superintendenturvertreter die Glückwünsche der
Kirchenbehörde überbrachte. Auch Herr Pfarrer Voigt-Gadegast richtete
herzliche Grußworte an die zahlreich versammelten Gemeindeglieder. An die
Einweihung schloß sich der erste Gottesdienst an, in dem der Ortspfarrer
Ostermann über das Schriftwort des 4. Advent aus dem Philipperbrief sprach:
„Freuet euch in dem Herrn allewege...“ Ein Grund größter Freude ist es für
die Gemeinde Seyda, daß sie nun wieder im erneuerten und geheizten Gotteshause
zusammenkommen kann, um hier gemeinsam Gott anzubeten und Gottes Wort zu hören.
Der Ortspfarrer wies besonders auf die Sprüche und Symbole (Sinnbilder) an den
Emporen hin, die alle die Grundtatsachen unseres evangelischen Glaubens
aussprechen und darstellen. Bibel, Kelch, Kreuz, Luther- und Melanchthonwappen,
an der Orgelempore 2 Posaunen mit dem Wort: Singet dem Herrn ein neues Lied,
denn er tut Wunder! Die angebrachten Bibelsprüche sollen ein Christenherz stärken,
aufrichten, erheben und - vor Gott demütigen. Wenn die Gemeinde in einer wahren
christlichen Glaubensgemeinschaft ihre Gottesdienste hier feiert, kann sie
Gottes Segen erhoffen.
Am Nachmittage des Einweihungstages feierten wir das
Heilige Abendmahl, zu dem sich wieder eine große Gemeinde versammelt hatte. Und
dann kam Weihnachten, das diesmal so besonders innig und froh gefeiert wurde, da
wir unsere schöne, helle, warme Kirche haben.
Im Pfarrbezirk Seyda waren im Jahre 1935: 45 Taufen;
20 Trauungen; 26 Bestattungen.“
(HG 1/1936).
Ja,
auch eine warme Kirche hatten die Seydaer nun: Die Heizungsanlage wurde
eingebaut, auch die Konfirmanden hatten beim Heizen mitzuhelfen. 5 Zentner Kohle
(250 kg) wurden für ein Wochenende gebraucht. Herr Kirchendiener Schulze fing
am Sonnabend um 17 Uhr nach dem Läuten mit dem Heizen an und schob die ganze
Nacht nach. 1941, als die Kohlen rationiert worden sind, hörte auch das Heizen
der Kirche auf. Es wird berichtet, dass es vorn am Altar sehr warm wurde (dort
sind die Luftschächte) und der Pfarrer sich den Schweiß von der Stirn wischen
mußte, während in anderen Bankreihen kaum Wärme zu spüren war, da die warme
Luft nach oben zog.
Die elektrische
Beleuchtung kam nun vollständig in die Kirche, der Deckenputz wurde erneuert
(bis dahin schmückte ein „Sternenhimmel“ die Kirche), der Fußboden und die
Wände wurden ausgebessert, die gesamte Kirche erfuhr einen Innenanstrich.
Diesen führte
Meister Richard Mechel sen. aus, der lange auf dem Amtshof wohnte. An der Rückseite
des Kreuzes kann man es lesen: „R.
Mechel, Maler, 1935.“
Die
Gesamtkosten beliefen sich auf 11.200 Reichsmark, davon wurden 6.000 RM als
Kredit aufgenommen mit einer jährlichen Tilgungsrate von 500 RM; 3.000 RM
Patronatsgeld (Staatsleistung), 2.200 RM eigenes Vermögen. Ein „Nachspiel“
hatten die Arbeiten noch: wegen Bevorteilung von Baubetrieben durch den
Kirchenrat und mangelhafte Ausführung der Arbeiten kam es zum Prozeß (SSLB
23.7.1936).
Die
Sprüche an der Empore der Kirche sollen noch einmal erwähnt werden. Da ist auf
der rechten Seite Paulus zitiert: „Sooft
Ihr von diesem Brot eßt und aus diesem Kelch trinkt, verkündet Ihr des Herrn
Tod, bis er kommt.“ (1 Kor 11,26). Darin enthalten ist der Verweis auf die
Feier des Abendmahles und die unerschütterliche Hoffnung: Jesus wird
wiederkommen. Daneben steht das erste Gebot, was eine Orientierungshilfe und ein
Rettungsanker sein will: „Ich bin der
Herr, Dein Gott! Du sollst keine andern Götter haben.“ (2 Mose 20,1f).
Dann ist Paulus zitiert mit dem Wort vom Kreuz: „Das
Wort vom Kreuz ist eine Torheit denen, die verloren werden, uns aber ist´s eine
Gotteskraft.“ (1 Kor 1,18). Unter der Orgel, wo auch der Chor Platz hat,
steht das Wort aus dem Psalter: „Singet
dem Herrn ein neues Lied, denn er tut Wunder!“ (Ps 98,1). „Wachet
und betet!“, die Aufforderung Jesu an seine Jünger kurz vor seiner
Gefangennahme, ihm beizustehen, ist auf der linken Emporenseite angeschrieben
(Mt 26,41: „Wachet und betet, dass Ihr nicht in Anfechtung fallt!“). „Stehet
im Glauben!“ ist ein Wort des Apostels Paulus (1 Kor 16,13f): „Wachet,
stehet im Glauben, seid mutig und seid stark! Alle Eure Dinge laßt in der Liebe
geschehen!“.
Ganz vorn sind
dann die Wappen von Luther (die Lutherrose mit dem, was ihm wichtig war, im
Mittelpunkt: Die Liebe Gottes in Jesus Christus) und Melanchthon zu sehen (wie
die Israeliten auf die eherne Schlange schauen sollten, so sollen wir auf
Christus schauen, um gerettet zu werden; 4 Mose 21,8), dazu die Liedverse
Luthers: „Eine feste Burg ist unser
Gott, ein gute Wehr und Waffen“ (Evangelisches Gesangbuch Nr. 362).
An den Rückwänden
der Kirche, rechts und links vom Ausgang, stand bis zur Kirchenrenovierung 1995
geschrieben: „Herr, ich habe lieb die Stätte
Deines Hauses und den Ort, da Deine Ehre wohnt!“ (Ps 26,8; links), und „Einen
andern Grund kann niemand legen als den, der gelegt ist: Jesus Christus.“
(1 Kor 3,11).
Im
Eingangsbereich steht noch heute die Mahnung des Propheten Jeremia: „O Land, Land, Land, höre des Herrn Wort!“ (Jer 22,29);
darunter die griechischen Buchstaben für „CH“
und „R“ (Christus) und der erste
und der letzte Buchstabe des griechischen Alphabeths: Alpha und Omega: Jesus
Christus ist der Anfang und das Ende von allem.
Mit
der neugemalten Kirche hoffte man nun auch auf eine Erneuerung des Glaubensmutes
in der Masse der Bevölkerung. Pastor Ostermann schreibt in den Heimatgrüßen: „Das
Sprichwort ,Leere Kirche - volle Gefängnisse´ birgt eine tiefe
Wahrheit, denn man hat die Beobachtung gemacht, daß eine Gemeinde, die leere
Kirchen hat, dafür umsomehr die Gefängnisse bevölkert. Aber in kirchlichen
Gemeinden mit vollen Gottesdiensten ist das Gemeindeleben gesegnet: Es gibt mehr
Elternachtung, mehr wohlgeratene Kinder, mehr friedfertige Ehen, mehr hilfreiche
Nachbarn, mehr Herzensbildung und treue fromme Menschen...“
(HG 1/1936, S. 360. Pastor Ostermann ging 1936 nach Belgern, 1945 fiel er als
Sanitätssoldat in der Eifel, er hinterließ eine Frau mit vier Kindern.)
Ganz
nebenbei, in einem unteren Absatz, kann man in den „Heimatgrüßen“ im Zusammenhang mit einer Volkszählung in
Deutschland lesen: „Nicht unbeträchtlich
hat sich die Zahl der Israeliten vermindert (um 11,5%).“ (HG
9/1935, S. 342).
Es ist Zeit,
nach dem jüdischen Leben in Seyda zu fragen! Schon immer hatte man ja, zum
Beispiel zu Weihnachten, von Christus als „Davids Sohn“ gesungen; schon
immer wurde aus dem Alten Testament gelesen und gelehrt, der Mose steht oben an
unserem Altar; und auf dem alten Ölbild von Superintendent Hilliger kann man
hebräische Schriftzeichen entdecken: Er verstand die Sprache der Juden.
Bis heute rätselhaft
ist die Herkunft des Davidssterns über der Kirchtür. Ein Tischlermeister hat
festgestellt, dass er aufgrund der schon mechanischen Bearbeitung nicht älter
als 120 Jahre sein kann.
Im Jahre 1910
wird in einer Erhebung für Seyda „1
Jude“ registriert. Alte Leute berichten von jüdischen fliegenden Händlern,
die früher oft durch Seyda kamen. In unserer Gegend, auf dem Lande, konnten
sich Juden früher kaum ansiedeln. Durch die Vorschriften der christlichen Zünfte
hatten sie keine Möglichkeit, mit einem Handwerk Fuß zu fassen, das Bodenrecht
verwehrte ihnen die Landwirtschaft.
Eine
Frau, Rosalie Israel, ist am 18.11.1865 in Schadewalde geboren worden, eine Jüdin,
die später in Düsseldorf heiratete und bis an ihr Lebensende den Sabbat
gehalten und gefeiert hat.
Die
Schwiegermutter eines Seyd´schen, nach dem damaligen verbrecherischen
Sprachgebrauch „Halbjüdin“ genannt, wurde vom Pastor 1943 in Seyda
beerdigt. Ein Geschäftsmann will einen Juden in seinem Wagen aus Seyda
hinausgeschmuggelt haben. - Das sind die wenigen Nachrichten, die etwas über
Juden in Seyda vor 1945 sagen. In Jessen gab es einen jüdischen Anwalt, der bei
der Machtübernahme der Nationalsozialisten die Gefahr erkannte und 1934 seine
Familie in die Schweiz brachte, selbst aber nicht mehr rechtzeitig das Land
verlassen konnte und Selbstmord beging. Ein Todesmarsch aus dem KZ Lichtenburg
ging in den letzten Kriegstagen durch das Stadtgebiet. Mit ihm kam Dr. Weidauer,
ein jüdischer Arzt, nach Seyda. Von ihm soll noch im nächsten Band berichtet
werden.
Pastor
Hagendorf, 1936 als Vikar nach Seyda gekommen, war es, der sich schützend vor
den Davidsstern in der Kirche stellte. Die Nazis wollten ihn herausschlagen. Der
Pastor wehrte sich dagegen mit den Worten: „Der Stern ist schon viel länger dort oben als Ihr da seid!“ So
blieb er erhalten. (Erinnerung
eines Konfirmanden).
Im
20. Jahrhundert haben die Machthaber oft gewechselt, und so ist es in manchen
Orten nötig gewesen, die Straßennamen regelmäßig zu ändern. In Seyda war
das nicht der Fall, die alten Bezeichnungen sind im wesentlichen geblieben, nur
zwei Fälle sind bekannt: die Kirchstraße wurde zur „Schulstraße“. Die Schule steht nun nicht mehr dort, wohl aber
ist die Kirche an ihrer Stelle geblieben.
Die Bewohner der
„Kuhgasse“, die so benannt war,
weil die Kühe dort ihren Weg auf die Weiden gingen, verlangten nach der Änderung
des Namens. Sie wurde in „Triftstraße“
umbenannt. Die „Trift“ bezeichnet
den „Weideabtrieb“, was dem alten
Straßennamen nahe kommt. Als man dann nach einer Straße suchte, die man „Adolf-Hitler-Straße“
nennen könnte, schlug man der Behörde in Schweinitz diese Straße vor. Der
Antrag soll abgelehnt worden sein: Man könnte doch nicht die ehemalige „Kuhgasse“ mit diesem Namen schmücken.
Neben
den politischen Ereignissen gab es natürlich das ganz normale Leben:
Im Juni 1936
wurde das erste Mal die „Goldene
Konfirmation“ in Seyda begangen: also die Feier zum 50. Jahrestag der
Konfirmation. Das ist bis heute ein wichtiges Fest, an dem auch viele aus der
Ferne kommen, um die Heimat wiederzusehen. Der größte Teil des Lebenswerkes
ist vollbracht, man schaut gemeinsam zurück und fragt auch nach seinen Wurzeln
und nach dem, was bleibt.
Pastor Hagendorf
schrieb noch im hohen Alter, 1993, „seinen“ Konfirmanden ein Grußwort zur
Goldenen Konfirmation: „,Nun aber bleibt
Glaube, Hoffnung, Liebe, diese drei: aber die Liebe ist die größte unter
ihnen.´ (1 Kor 13,13). Ich habe mich immer bemüht, den Konfirmanden das
doppelte Liebesgebot Jesu: Gottesliebe und Nächstenliebe und vor allem mit der
Bibel, dem Gesangbuch und dem Katechismus zu aktualisieren. Und wenn es
geschenkt wurde, daß dieses Gebot konkretisiert wurde, war das Ziel erreicht.
Vergessen Sie bitte nicht, bei der Feierstunde des
vortrefflichen Kantors und Organisten Karl Schmalz zu gedenken. Sie, die
Goldenen Konfirmanden und die ganze Gemeinde einschließlich der Dörfer grüßen
wir sehr herzlich und wünschen eine recht schöne Feier mit vielen guten
Erinnerungen. Ihr Hagendorf.“ (Fredeburg,
am 8.9.1993).
Im
November 1936 wurde die Eiserne Hochzeit des Tischlermeisters Freiwald gefeiert,
natürlich in der Kirche: Ein damals - und auch heute noch - sehr seltenes Fest!
(vgl. HG 11/1936).
1937
wurde das Pfarrhaus umfassend saniert: mit Wasserleitung, Tischler-,
Installations-, Elektro-, Maler- und Maurerarbeiten; auch ein Fliesenleger und
ein „Töpfer“ waren da (Töpfer wurden in Seyda die Ofensetzer genannt)
sowie die Telefontechniker.
1938
ist ein gebrauchtes Klavier für den (bis dahin einzigen vorderen) Gemeinderaum
angeschafft worden, dort fand auch der Konfirmandenunterricht statt.
Am
7. Juli 1939 wurde der Vertrag in der „Küster-Schul-Auseinandersetzung“
unterzeichnet: Eine Folge der Trennung von Staat und Kirche nach 1918. Die
Schulangelegenheiten, für die bisher beide zuständig waren, waren nun ganz
Sache des Staates; das Vermögen wurde aufgeteilt.
Am
1. April 1940 wurde die Uhren erstmals auf „Sommerzeit“ eine Stunde
vorgestellt, um das Tageslicht besser auszunutzen.
Ein
Brief des berühmten Musikdirektors Schulze, der Generationen von Seydaer Bläsern
ausgebildet hat, und dem die „Seydaer
Blasmusikanten“ in ihrem Kern auch heute noch ihr Können verdanken, sei
hier abgedruckt, hat doch dieser Musikdirektor unseren Taufstein in der Kirche
„gerettet“, wie man lesen kann:
„Seyda, den 11. März 1941
An den wohllöblich Gemeinde Kirchenrat der Stadt
Seyda, Betr. die Zuschrift vom 12ten Februar...
...Hiermit gestatte ich mir noch mitzuteilen: Der
jetzige Taufstein in hiesiger Kirche, war über 20 Jahre mein Eigentum, diesen
hatte ich bei einer Auktion, wo Abrauch von alten Brettern und andere alten
Gegenstände von der Kirche aus verkauft wurden, wurde der alte Taufstein
mitverkauft, da in der Kirche schon ein Neuer gesetzt war, der alte Taufstein
wurde von mir erworben, der Stein wurde in meinen kleinen Hausgarten
aufgestellt, wurde gehegt und mit Blumen umrahmt; nach diesen vorerwähnten
Jahren wurde ich vom Kirchenrat resp. („respektum
ago“ = „eingehend betrachtet“, „genauer gesagt“) Pfarramt ersucht, doch den Taufstein an hiesige
Kirche zurückgeben zu wollen, da doch dieser altertümliche Taufstein einen
hohen Wert für die Kirche hatte, für mich hatte aber dieser auch einen hohen
Wert, da doch meine Vorahnen seit 300 Jahren, bis zu meines Vaters Familie daran
getauft worden sind, habe aber dennoch den Stein der Kirche zurück gegeben und
geschenkt, am Fuße dieses Steines steht mein Name, daß dieser von mir
geschenkt worden ist. Da ich gegen die Kirche so human war und den Taufstein
schenkend zurück gab, möchte ich bitten, die Gebühr von 30,00 RM für die
vorn erwähnte Grabstelle mir zu erlassen...“
Die
kleine Waldbahn Seyda-Linda, von deren Bau bereits berichtet wurde, verschwindet
wegen der Anlage des Fliegerübungsplatzes Glücksburg. Nun konnte man fast täglich
Militärflugzeuge über der Heide sehen, die das Bombenwerfen übten. Über
Jahrzehnte war die Heide in weiten Teilen unzugänglich und einer großen Zerstörung
durch Kriegsgerät ausgesetzt. Die Militarisierung der Gesellschaft nahm immer
mehr zu (schon im
Ersten Weltkrieg führte der Lehrer Wehrertüchtigung mit den Schülern durch,
vgl. die Schulchronik). Deutsche Truppen marschierten in
Österreich ein, dann in die Tschechei. Der allgemeine Jubel war groß.
Der
„Reichsarbeitsdienst“ („RAD“)
wurde am 26. Juni 1935 deutschlandweit ins Leben gerufen. Im Frühling 1939
baute er den Militärflugplatz in Mark Zwuschen. Zuerst wurde freilich erklärt,
er diene zivilen Zwecken; genauso, wie Mädchen aus Österreich und der Slowakei
in unsere Gegend angeworben worden sind, um in einer „Schokoladenfabrik“
zu arbeiten: sie fuhren dann aber zur Munitionsherstellung nach Treuenbrietzen.
Einige sind in Seyda geblieben, bis heute.
Das Jahr 1939
brachte eine Rekordernte. Über Nacht aber wurde der „RAD“
abgezogen und in Güterwagen „nach Osten“
gefahren, ohne Bekanntgabe eines konkreten Zieles. Das war am
27. August 1939.
Am 1. September
begann der Zweite Weltkrieg mit dem Überfall Deutschlands auf Polen. Durch die
Radiolautsprecher auch in Seyda klang das freilich ganz anders: „Seit
5.45 Uhr wird jetzt zurückgeschossen...“
Der Krieg hatte
begonnen, der unermessliches Leid über die Völker und auch über unser Volk
gebracht hat. Wieder mußten Väter, Männer, Söhne in den Krieg ziehen. Doch
das war erst der Anfang des Schreckens.
Pfarrer
Hagendorf wurde plötzlich, zu Palmarum 1940, eingezogen. Die übliche
Konfirmandenprüfung in der Kirche, die eine Woche vorher wie immer stattfinden
sollte, wurde gestrichen, und dafür gleich Konfirmation gefeiert. Der Pfarrer
schrieb noch vorher in das Poesiealbum einer Schülerin:
„,Jesus
Christus gestern, heute und derselbe auch in Ewigkeit.´
(Heb 13,8).
Palmarum 1940
Hagendorf, Pfr.“
Lehrer Brandis
schrieb zur gleichen Zeit ein Zitat vom alten Fritz ein: „Es ist nicht notwendig, dass ich lebe, sondern dass ich meine Pflicht
tue.“
Im
Klassenzimmer 1940 hing groß das Bild vom Alten Fritz (auf einem Stuhl
sitzend); darunter waren im Kleinformat in einem Rahmen zusammen Göring, Hitler
und Goebbels zu sehen (das alles an der Rückwand); links daneben ein Bild von
der Seeschlacht im Skagerrak im 1. Weltkrieg („1916
zwischen Deutschen und Engländern die größte Seeschlacht der
Weltgeschichte... Der Erfolg lag auf deutscher Seite.“ Brockhaus 1927.); rechts daneben
ein Bild von den Befreiungskriegen in unserer Gegend. An der Nordwand des
Klassenzimmers hing eine Weltkarte wo man sehen konnte, wo überall Deutsche
wohnen (die es zu befreien galt); über allen schwebte das Modell eines
Zeppelins als Symbol für den technischen Fortschritt.
Im
Jahre 1944 macht der Pfarrer (auf Heimaturlaub?) eine kritische politische
Bemerkung über den Gartenzaun: Deshalb (oder wegen einer anderen Sache?) wird
er inhaftiert (in Halle), ist bei Kriegsende deshalb nicht in Seyda, sondern
wird von den Amerikanern befreit. Weil er nicht gleich zurück in die
„russische Zone“ konnte, kam er erst 1946 nach Hause.
Am
20. Juli 1944 schlug ein Attentat auf Hitler fehl, viele Menschen, die im
Widerstand gegen Hitler waren, wurden (wie auch viele vor ihnen) umgebracht. Dr.
Goerdeler, früherer Oberbürgermeister von Leipzig, sollte nach der Beseitigung
Hitlers Reichskanzler werden. Er konnte sich nach dem Attentat am 20. Juli 1944
für einige Tage im Gutshaus Gerbisbach verstecken, wurde dann aber für die
ausgesetzte Belohnung von einer Million Reichsmark verraten und im Februar 1945
hingerichtet. (Däumichen,
K.: Dr. Goerdeler verbarg sich im Dorf Gerbisbach bei Jessen. In: Heimatkalender
2.000, 114-117).
Im
Herbst 1944 künden große Flüchtlingsströme auch durch Seyda das Ende des
Krieges und den Zusammenbruch an. Ein Flüchtlingslager wurde am Schützenhaus
eingerichtet. Tiefflieger beschießen die Bevölkerung. Immer mehr Bombenflüchtlinge
aus Berlin kommen nach Seyda. Am Tage und in der Nacht kann man die Fliegerverbände
sehen, die Dresden und Berlin anfliegen und die Städte in Schutt und Asche
legen. Und viele, viele Männer sind gefallen: Eltern und Frauen bleiben allein,
Kinder wachsen ohne Vater auf.
„Seyda meldet einen guten Stand des
Getreides, die Kartoffeln zeichnen sich durch Größe und reichen Ansatz aus,
die Pflaumenbäume hängen zum Brechen voll.“ so meldet es das
„Schweinitzer Kreisblatt“ im Sommer 1944.
Das
Quellen- und Literaturverzeichnis befindet sich am Ende des letzten Bandes.