Die
Geschichte
der
Kirche
in
Seyda.
7. Der Umsturz
und die Wende (1945-2.000)
Furchtbar
schlug die Gewalt, die in deutschem Namen über so viele Völker gekommen war,
zurück. Im April 1945 marschierte die Rote Armee in Seyda ein. Sie kam über Jüterbog
und Dahme. Zahlreiche Flüchtlingstrecks seit Herbst 1944 hatten sie angekündigt
und schreckliche Grausamkeiten berichtet, die nun auch in Seyda Wirklichkeit
wurden.
Viele
waren schon vor der Besetzung Seydas geflohen, in die Wälder oder noch weiter
weg. Doch wohin? Auf der anderen Seite der Elbe standen schon die Amerikaner.
Etliche hatten
Selbstmord begangen. Ihre Hoffnungen waren zerstört, sie sahen keinen Ausweg
mehr.
Zuvor
waren die letzten Reserven der deutschen Wehrmacht mobilisiert worden. Auch 16jährige
und Alte wurden in Schnellkursen ausgebildet oder mußten mit Hand anlegen, um
Barrikaden zu bauen.
So marschierten
die Männer des Reichsarbeitsdienstlagers Gräfenhainichen nach Lindwerder und
wurden dort nach einer Ausbildung von einigen Tagen in die Wehrmacht
eingegliedert. In der Nacht vom 21. auf den 22. April bekamen sie den Befehl zum
Abmarsch aus Lindwerder, sie zogen durch Seyda in der Nacht und lieferten sich
in den Morgenstunden in Kropstädt schwere Kämpfe mit den Russen.
Am Ortsausgang
von Seyda, gegenüber des Schützenhauses, war eine Kanone aufgebaut worden.
Jedoch gingen drei mutige Männer, Bürgermeister Kaatz, Christoph Kunze und
Karl Käßner, den einmarschierenden russischen Truppen mit einer weißen Fahne
entgegen. Sie mußten alle drei ihre Stiefel abgeben.
In Seyda selbst
fanden keine Kämpfe statt. Es fielen auch keine Bomben, in der Försterei aber
gab es einen Luftschutzkeller. Jedoch waren Tiefflieger schon seit vielen Tagen
über Seyda und setzten die Bevölkerung in Angst und Schrecken.
Ganz junge
Soldaten wurden noch in den Tod geschickt. Sie stiegen mit leichten Flugzeugen
auf und hatten praktisch keine Chance. In Schadewalde stürzte ein Flugzeug ab,
ein Mann wurde getötet. Auch im Wald bei Morxdorf liegt ein Soldat in seinem
Flugzeug begraben.
Die Russen
marschierten am 22. April ein. Als der Pastor Lent früh um 6 Uhr vom Milchholen
bei einem Bauern wiederkam, sagte er seiner Frau: „Die
Russen sind da.“ Auf
dem Kirchplatz lagen an diesem Tag Unmengen von Kleidungsstücken: meist
deutsche Uniformteile, die keiner mehr im Haus haben wollte.
Als
die Russen ihre Gefangenen aus Gentha holen wollten, wurden sie von Hitlerjugend
aus Wittenberg angegriffen, die sich in Lüttchenseyda verschanzt hatten. Sie
erschossen einen russischen Offizier an der Straßenkreuzung. Daraufhin wurde
auch einer von den „Hitlerjungen“ erschossen. Die Russen verließen Lüttchenseyda,
da drehte sich noch einmal einer um und sah einen Jungen, daraufhin wurde Lüttchenseyda
beschossen. Besonders das erste Gehöft, die Gaststätte Letz, wurde stark
getroffen.
Um so
erstaunlicher, dass Leute, die es damals erlebt haben, sagten: Die Deutschen hätten
in Rußland bei einer ähnlichen Situation das ganze Dorf niedergebrannt und
alle erschossen! „Allein in Weißrußland
wurden von 9.200 Dörfern 4.885 während des Krieges verbrannt, 627 von ihnen
mitsamt der Bevölkerung, welche man vorher in einer Scheune, einer Kirche o. ä.
zusammengetrieben hatte.“ (Nolte,
Hans-Heinrich: Kleine Geschichte Rußlands, S. 256).
Viele der durch
jahrelange Propaganda fanatisierten Jungen fanden den Tod. Andere wurden nach Rußland
in Gefangenenlager geschleppt.
Wochenlang
herrschte in Seyda Anarchie. Die Besatzer plünderten und mißhandelten. Es war
„Gesetz“, dass die russischen Frontsoldaten in den ersten vierzehn Tagen
vergewaltigen und mitnehmen konnten, was sie wollten.
Diese Zeit
nannte man die „Russenzeit“. Sogar
die Uhren wurden zwei Stunden vorgestellt, auf die russische Zeit eben.
Zu
der nackten Gewalt und dem Mangel an Nahrungsmitteln kam in fast allen Häusern
die Trauer um liebe Menschen. 77 Männer waren gefallen - eine geschätzte Zahl,
den offiziell waren sie viele Jahre „Kriegsverbrecher“,
ihrer durfte nicht öffentlich gedacht werden. Bei vielen war das Schicksal auch
ungewiß: Waren sie noch am Leben? In Gefangenschaft? Manches Schicksal klärte
sich erst nach über 50 Jahren auf! Wer wiederkam - einer erst nach 10 Jahren,
1955! - mußte über das schweigen, was er erlebt hatte. Erst nach der Wende
wurde frei darüber erzählt. Ein ergreifendes Buch über seine Erlebnisse in
der Gefangenschaft hat Erhard Schlüter aus Naundorf geschrieben. Mit 17 Jahren
mußte er noch in den Krieg ziehen und kam 1949 aus Rußland zurück.
Nicht
nur die Soldaten, sondern auch alle, die eng mit der alten Macht verbunden
waren, dafür gehalten worden oder gar verleumdet und gegriffen wurden, kamen in
Lager. Ein berüchtigtes in unserer Gegend war Mühlberg. Auch das ehemalige KZ
Buchenwald wurde bis 1948 als Internierungslager weitergeführt. Die meisten
kamen nicht zurück. Auch der oft erwähnte, verdienstvolle Heimatforscher und
Lehrer Oskar Brachwitz ist am 25. März 1946 in Buchenwald gestorben!
Die
Familie Gresse in der Wittenberger Straße wurde erschossen, weil sich ein
deutscher Soldat bei ihnen versteckt hatte.
Etliche Häuser
wurden besetzt, manche ganz zerstört. Die sowjetische Kommandantur zog in das
Haus der Stadtverwaltung ein, über der Tür wurde ein roter Stern angebracht. (Heimatkurier
März 1995, 9, Bärbel Schiepel).
Die Mühle Huth
wurde beschossen, das Wohnhaus zerstört.
Durch
die vielen Flüchtlinge herrschte eine große räumliche Enge. Die Bevölkerungszahl
Seydas war von 1.600 (1945) auf 1.704 (1946; am
29.10.: 737 männlich; Gemeindebuch Sachsen-Anhalt 1948) und 2.075 (1947) gestiegen, durch
die Aufnahme von Umsiedlern, die noch bis 1948 kamen. (Heimatbuch
52).
74 Flüchtlingskinder
besuchten die Seydaer Schule. Die Flüchtlinge hatten oft alles verloren.
Etliche Flüchtlinge
kamen aus Gebieten, die katholisch geprägt waren, zum Beispiel in Schlesien
oder im Sudetenland. Sie bildeten in Seyda eine katholische Gemeinde. Regelmäßig
wurde in unserer Kirche Messe gehalten, auch die Firmung gefeiert. Ein eigener
Altar wurde dazu aufgestellt, mit einem Marienbild. Viele Katholiken, die hier
ja keine Heimat hatten, zogen weiter, mancher heiratete in Seyda.
Eine besondere
Tragik war, dass deutsche Flüchtlinge aus Rußland wieder zurück „in ihre
Heimat“, das hieß aber in Arbeitslager in Sibirien, mußten. Das betraf zum
Beispiel eine junge Lehrerin, die schon an der Schule in Seyda tätig war. Sie
traf ein besonders hartes Schicksal. Nur wenige von ihnen konnten nach der Wende
nach Deutschland zurückkommen.
In
den letzten Kriegstagen gingen Züge von KZ-Häftlingen an Seyda vorbei und
durch Seyda. Wer nicht mehr konnte, wurde am Wegesrand erschossen. Einer konnte
fliehen. Er stellte sich tot und klopfte dann in Schadewalde an die Türen. Eine
Frau nahm ihn - unter Lebensgefahr! - auf und versteckte ihn, bis der Krieg
zuende war. Der Mann war Jude, ein Arzt. Sein Name: Dr. Weidauer. Später
praktizierte er in Seyda, bis er 1960 aus politischen Gründen inhaftiert wurde:
in Bautzen, 6 ½ Jahre.
Wie
stand es um die Kirchengemeinde? Der Pfarrer war selbst noch unter Hitler
eingesperrt worden, sein Schicksal ungewiß. Das Pfarrhaus war auch mit Flüchtlingen
bewohnt. Pastor Lent (auch Flüchtling), nahm im Pfarrhaus Quartier mit seiner
Frau und drei Kindern, das 4. wurde im Juni geboren (da waren sie dann bei der
Familie Deutsch untergebracht). Dieser Pastor begleitete die Gemeinde in den
schwersten Tagen, die Seyda in diesem Jahrhundert gesehen hat. Er beerdigte
viele, die sich aus Angst das Leben genommen hatten, versuchte Trost zu spenden
und Mut zu geben. Es wird berichtet, dass der Pastor immer die Kuhköpfe, die
die Russen vom Schlachten übrig ließen, auseinandernahm und
sie an Familien verteilte, die nichts zu essen hatten.
Er war auch
sonst besonders mutig! Einmal kam er zum Gottesdienst nach Zemnick und erfuhr
dort von einer großen Aufregung: Die Russen hatten das Vieh weggetrieben! In
Zemnick gab es bis 1945 eine bedeutende Herdbuch-Rinderzucht. Der Pastor fuhr
sofort zur Kommandantur nach Seyda. Die Rinder kamen umgehend zurück! Das haben
die Zemnicker nicht vergessen. Pastor
Lent zog im Oktober 1945 nach Bülzig. Der Pfarrer dort hatte sich und seine
Frau sowie seine drei Töchter und das Enkelkind vor Einmarsch der Russen
umgebracht. Familie Lent blieb dort bis 1948 und ging dann ins Brandenburgische.
Er war 1945 aus Landsberg an der Warthe in der Ostmark mit einem Lastkraftwagen
bis nach Jessen gekommen und ist auch Mitglied der Bekennenden Kirche gewesen.
1984 starb er. Just in den Tagen, als diese Zeilen geschrieben wurden, besuchte
uns seine Frau mit der Tochter, die hier im Juni 1945 geboren wurde, und bestätigte
die Nachrichten, die die Gemeinde über ihren Mann im Gedächtnis behalten hat.
Von
mancher Glaubenserfahrung wird aus diesen Tagen berichtet. Bibelverse, Lieder
haben Kraft gegeben. „Solls uns hart
ergehn / laß uns feste stehn /und auch in den schwersten Tagen /niemals über
Lasten klagen. Denn durch Trübsal hier / führt der Weg zu Dir.“
(aus dem bekannten
Lied: „Jesu, geh voran“, was üblicherweise zur Taufe, zur Konfirmation und
zur Hochzeit gesungen wurde, Evangelisches Gesangbuch Nr. 391).
Für viele taten
sich aber auch große Abgründe auf. Wie konnte Gott das zulassen?
Man hörte mit
Grauen und Entsetzen von den Gräueltaten, die Deutsche begangen hatten, in den
Konzentrationslagern, im Krieg. Manche konnten es kaum glauben, andere hatten
eine Ahnung gehabt.
Die Evangelische
Kirche in Deutschland verfaßte im Oktober 1945 ein „Schuldbekenntnis“, in
dem es heißt: „Mit großem Schmerz
sagen wir: Durch uns ist unendliches Leid über viele Völker und Länder
gebracht worden... wir klagen uns an, daß wir nicht mutiger bekannt, nicht
treuer gebetet, nicht fröhlicher geglaubt und nicht brennender geliebt
haben.“
(Stuttgarter
Schuldbekenntnis, In: KuThGiQ IV/2, S. 162f.).
In einem
„Darmstädter Wort“ (1947) heißt es noch deutlicher: „Wir
sind in die Irre gegangen, als wir begannen, den Traum einer besonderen
deutschen Sendung zu träumen, als ob am deutschen Wesen die Welt genesen könne.
Dadurch haben wir dem schrankenlosen Gebrauch der politischen Macht den Weg
bereitet und unsere Nation auf den Thron Gottes gesetzt. - Es war verhängnisvoll,
daß wir begannen, unseren Staat nach innen auf eine starke Regierung, nach außen
allein auf militärische Machtentfaltung zu begründen. Damit haben wir unsere
Berufung verleugnet, mit den uns Deutschen verliehenen Gaben mitzuarbeiten im
Dienst an den gemeinsamen Aufgaben der Völker...
Wir sind in die Irre gegangen, als wir begannen, eine
„christliche Front“ aufzurichten gegenüber notwendig gewordenen
Neuordnungen im gesellschaftlichen Leben der Menschen. Das Bündnis der Kirche
mit den das Alte und Herkömmliche konservierenden Mächten hat sich schwer an
uns gerächt. Wir haben die christliche Freiheit verraten, die uns erlaubt und
gebietet, Lebensformen abzuändern, wo das Zusammenleben der Menschen solche
Wandlung erfordert. Wir haben das Recht zur Revolution verneint, aber die
Entwicklung zur absoluten Diktatur geduldet und gutgeheißen...
Wir sind in die Irre gegangen, als wir meinten, eine
Front des Guten gegen die Bösen, des Lichtes gegen die Finsternis, der
Gerechten gegen die Ungerechten im politischen Leben und mit politischen Mitteln
bilden zu müssen. Damit haben wir das freie Angebot der Gnade Gottes an alle
durch eine politische, soziale und weltanschauliche Frontenbildung verfälscht
und die Welt ihrer Selbstrechtfertigung überlassen...
Wir sind in die Irre gegangen, als wir übersahen, daß
der ökonomische Materialismus der marxistischen Lehre die Kirche an den Auftrag
und die Verheißung der Gemeinde für das Leben und Zusammenleben der Menschen
im Diesseits hätte gemahnen müssen. Wir haben es unterlassen, die Sache der
Armen und Entrechteten gemäß dem Evangelium von Gottes kommendem Reich zur
Sache der Christenheit zu machen...
Indem wir das erkennen und bekennen, wissen wir uns
als Gemeinde Jesu Christi freigesprochen zu einem neuen, besseren Dienst zur
Ehre Gottes und zum ewigen und zeitlichen Heil der Menschen. Nicht die Parole:
Christentum und abendländische Kultur, sondern Umkehr zu Gott und Hinkehr zum Nächsten
in der Kraft des Todes und der Auferstehung Jesu Christi ist das, was unserem
Volk und inmitten unseres Volkes vor allem uns Christen selbst nottut...
Wir haben es bezeugt und bezeugen es heute aufs neue:
,Durch Jesus Christus widerfährt uns frohe Befreiung aus den gottlosen
Bindungen dieser Welt zu freiem, dankbarem Dienst an seinen Geschöpfen.´ (Barmer
Theologische Erklärung, vgl. Band 6 dieser Geschichte, S. 32f).
Darum bitten wir inständig: Laßt die Verzweiflung nicht über Euch Herr
werden, denn Christus ist der Herr. Gebt aller glaubenslosen Gleichgültigkeit
den Abschied, laßt Euch nicht verführen durch Träume von einer besseren
Vergangenheit oder durch Spekulationen um einen kommenden Krieg, sondern werdet
Euch in dieser Freiheit und in großer Nüchternheit der Verantwortung bewußt,
die alle und jeder einzelne von uns für den Aufbau eines besseren deutschen
Staatswesens tragen, das dem Recht, der Wohlfahrt und dem inneren Frieden und
der Versöhnung der Völker dient...“ (KuThGiQ
IV/2, 163f; „Wort des Bruderrates der Evangelischen Kirche in Deutschland zum
politischen Weg unseres Volkes“, aufgesetzt von Karl Barth, Martin Niemöller
und anderen.).
Aus
der „Arbeiterkolonie“ wird berichtet:
„1945 erlitt die Einrichtung große Verluste (Wert
von 88.000 Mark), die über viele Jahre einen Mangel an den notwendigsten Dingen
verursachten. Nur durch Spenden und Kollektengelder der Inneren Mission konnte
die Arbeit weitergeführt werden. Durch die veränderten Verhältnisse gab es
keine Arbeitslose mehr, wohl aber viele Alte und Umsiedler ohne Angehörige, die
hier eine Unterkunft und Beschäftigung fanden. Das Altersheim, als
Behelfsaltersheim geschaffen, wurde 1948 zum Hauptaufgabengebiet. Außerdem
wurden Straffällige aufgenommen, um ihnen wieder festen Halt zu geben und
Menschen mit geistigen und körperlichen Schwächen, die allein nicht mehr
fertig wurden. Umbauten zu kleineren Zimmern wurden vorgenommen. Die damaligen
Pflegesätze und sonstigen Einnahmen deckten nur notdürftig die laufenden
Ausgaben, so daß für Anschaffungen nichts blieb. Da die Altersheimbewohner im
Laufe der Jahre pflegebedürftig wurden und der Bedarf in der Betreuung von
Menschen mit geistiger Behinderung wuchs, änderte sich der
Charakter der Einrichtung.“ (Michael
Lange, Leiter der Einrichtung 1984-2000, im Heimatbuch, 54).
In
der Schule wurde die „Entnazifizierung“
durchgeführt: Die Lehrer müssen alle alten Schulbücher einsammeln, in einem
Raum im Amtshaus verschließen und den Schlüssel zur Kommandantur nach Herzberg
schicken.
Am 22. April
1945, als die Russen in Seyda einrückten, wurden 381 Schulkinder gezählt. 1946
werden bei 358 Schulkindern 5 „Neulehrer“
eingestellt, nach einem 8monatigen Lehrgang im Schuldienst.
„Mit Zuschriften vom 27.9.47, 8.10.47, 22.10.47 und
Dez. 47 wurden der hiesigen Schule für bedürftige Kinder vom Landrat
zugeteilt: 4 Paar Holzsandalen, 11 Paar Igelittschuhe, 80 Paar Kinderstrümpfe,
20 Paar Mädchenhemden und 10 Paar Igelittschuhe.“
Im Oktober 1947
darf Englisch unterrichtet werden (die Sprache der anderen Besatzungsmächte!).
Es besteht reges Interesse, im Dezember aber wird die Erlaubnis wieder entzogen.
Ab Januar 1948 gibt es Russischunterricht, verpflichtend für alle - bis 1990.
Zum 1. April
1948 werden täglich 275 Weizenbrötchen an die Kinder der „Nichtselbstversorger“ ausgegeben, berichtet die Schulchronik.
Das Schild über
der Tür „Mk 10,14“ (Jesus: „Laßt die Kinder zu mir kommen!“) war schon zu Hitlers Zeiten
zugehängt worden. Nun aber hingen dort neue Losungen, und an den Wänden im
Klassenraum fanden sich Bilder von Stalin, Mao, später von Lenin, Ulbricht,
Honecker.
Deutschland
war in vier Besatzungszonen geteilt. 1949 verabschiedete der „Bundestag“ das
Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland, was für die drei Westzonen Gültigkeit
hatte; aus der Sowjetischen Besatzungszone wurde am 7. Oktober die DDR: „Deutsche
Demokratische Republik“.
Über den
Charakter des neuen Staates gibt auch die Schulchronik Auskunft:
„Am 15. und 16. Mai 1949 fand die Wahl der
Delegierten zum 3. Volkskongreß in Seyda und der Ostzone statt. Die Wahl wurde
in der Schule eingehend behandelt. Die Schüler der oberen Klassen verfaßten
Aufsätze und Niederschriften, die von den Lehrern korrigiert und den Eltern zur
Unterschrift vorgelegt wurden. (Auftrag)
In Seyda hatte die Wahl folgendes Ergebnis:
Sonntag, den 15. Mai 1949
Seyda: zur Wahl erschienen:
Erwachsene: 1070 von 1070 Wahlberechtigten.
Jugendliche 56 von 61 Wahlberechtigten
Ja-Stimmen: Erwachsene 596, Jugendliche 34
Nein-Stimmen: Erwachsene 376, Jugendliche 12.
Ungültige Stimmen: Erwachsene: 108, Jugendliche: 10.
Nach angeordneter Revidierung der Stimmen nach
Wahlschluß am 16.5.49 ergab sich folgendes Ergebnis:
Ja-Stimmen: 692
Nein-Stimmen: 434
Ungültig:
40.
...
Am 21.12.49 fand eine Feier anläßlich des 70.
Geburtstages J.W.Stalin statt.
...
Am 8. Mai 1950 wurde zum 1. Male der Tag der Befreiung
vom Hitlerfaschismus festlich begangen. Alle Lehrer und die Schüler der 5. bis
8. Klasse versammelten sich um 10 Uhr bei Pätz (Gaststätte auf dem Markt) zu einer Feierstunde. Der Raum war würdig ausgeschmückt.
Eingeladen waren: FDJ, Freunde der neuen Schule, Ausschuß der Nationalen Front.
Niemand der Eingeladenen war erschienen.
Am 15.10.1950 Wahl. Wahlbeteiligung 99,14%. 100% davon
gaben ihre Stimme den Kandidaten der Nationalen Front.
...
Am 9.3.1953 fand im Saal von Braddatsch (Wucke) eine
Trauerfeier für den am 5.3. gestorbenen J.W. Stalin statt.
...
17.10.1954 Volkswahlen. Die Wahlen waren ein großer
Erfolg.“
Wieder
gab es keine Freiheit, keine Demokratie!
Die neuen
Machthaber sahen in der Kirche keinen Verbündeten, sondern ein Bollwerk des
Alten, Überkommenen. 1948 wurde der Pfarrer aus der Schule verwiesen,
Religionsunterricht (obwohl nach der Verfassung bis 1967 erlaubt), durfte nicht
mehr in der Schule stattfinden.
Mit
Unterstützung der russischen Besatzungsmacht kamen in der „Ostzone“
Kommunisten an die Macht. Sie wollten eine ganz neue Gesellschaft aufbauen, in
der kein Krieg mehr sein würde und die „Ausbeutung
des Menschen durch den Menschen“ beseitigt sein sollte. Jedoch waren die
Mittel, zu diesen Zielen zu kommen, oft auch sehr brutal. Personenkult,
Arbeitslager und Repression, Einschränkungen der persönlichen Freiheit gehörten
dazu. Diese „marxistisch-leninistische
Ideologie“ sah in der Kirche meist die Verbündeten der alten Macht und
versuchte ihren Einfluß mit allen Mitteln zurückzudrängen. Man ging von einem
„Absterben der Religion“ aus und
meinte, die Sache hätte sich in wenigen Jahren, wenn es den Menschen im
Sozialismus besser gehe, von allein erledigt.
Die
Nationalhymne der DDR, verfaßt von Johannes R. Becher, drückt die Hoffnungen
aus, die mit dieser Ideologie verbunden waren:
„Auferstanden aus Ruinen und der Zukunft zugewandt:
Laß uns Dir zum Guten dienen, Deutschland einig
Vaterland!
Alte Not gilt es zu zwingen, und wir zwingen sie
vereint:
Daß nie eine Mutter mehr ihren Sohn beweint, ihren
Sohn beweint...
Daß die Sonne schön wie nie über Deutschland
scheint, über Deutschland scheint!“
Besonders
für die, die fast nichts mehr hatten, war der sozialistische Aufbau mit diesen
großen Hoffnungen verbunden. Zur Bodenreform 1946 bekamen die Neubauern tatsächlich
jeder Grund und Boden. In der Nähe entstand ein ganz neues Dorf da, wo früher
nur ein Gut stand: Mark Zwuschen.
Pfarrer
Hagendorf war schon seit 1936 in Seyda gewesen, damals noch als Vikar und Prädikant
(= jemand, der predigt). Ganz am Anfang soll er auch mit den Nazis sympathisiert
haben - wie fast alle -, jedoch zu seiner Hochzeit, heißt es, habe er gemerkt,
„wo es hingeht“, und habe sich davon distanziert.
Seine erste Frau
starb: es war Winter, der Schneepflug mit vier Pferden kam nicht durch; der
Pastor fuhr auf Schiern zum Krankenhaus nach Wittenberg. Seine 1. Frau war sehr
kinderlieb und sammelte dazu die Kinder der Gemeinde. Außerdem hat sie ihm wohl
noch die Heirat mit der 2. Frau empfohlen, die dann ihn und die Kinder
versorgte. Was in der Gemeinde so überliefert wird...
Pfarrer
Hagendorf wurde auch zur Wehrmacht eingezogen. Jemand
erzählt, Pfarrer Hagendorf hätte als Soldat den Eisenbahnwagen, in dem die
Waffenstillstandsverhandlungen mit Frankreich stattfanden, bewacht.
Am Ende des
Krieges war er noch wegen kritischer Äußerungen gegen Hitler inhaftiert. Im
Sommer 1945 kehrte er zurück nach Seyda, völlig entkräftet.
Pfarrer
Hagendorf war eine Autorität, und mit derselben versuchte er, seine Gemeinde
durch diese schwere Zeit zu führen. Er lebte mit den Menschen hier, hatte
selbst eine große Landwirtschaft, auf dem Pfarrhof standen noch zwei
Pfarrscheunen. Es heißt, er habe die besten Rinder im Stall gehabt, TBC-frei,
und der Milchprüfer der damals 102 Kuhbauern von Seyda bestätigte noch 1998,
dass bei ihm eine der höchsten Milchquoten vorlag. Er hatte auch mit Hilfe
moderner Methoden hohen Mais - all´ das brachte ihm Respekt ein. Die Arbeit in
der Landwirtschaft tat er, um die Not in seiner eigenen Familie (6 Kinder hatte
er) zu lindern. Nun heißt es zwar, er habe auch (beinahe!) einmal eine Hochzeit
verpaßt, aber man muß wohl auch dazuerzählen, dass er sehr viele Hochzeiten
hatte, manchmal drei oder gar fünf an einem Tag; dazu 70 Konfirmanden (1950).
Was für eine
Respektsperson er war, davon erzählen nicht nur die Konfirmanden, die
beispielsweise „Lobe den Herrn“
50mal abschreiben mußten, sondern davon berichtet auch eine kleine Anekdote:
Einmal mußte er in Halle vorsprechen, hatte aber in Wittenberg den Zug verpaßt.
Durch sein bestimmtes Auftreten wurde der Zug in Pratau angehalten, er fuhr mit
einem Personenzug hinterher, konnte zusteigen und kam pünktlich in Halle an.
Pfarrer
Hagendorf, der einen Vollbart trug (zwischenzeitlich auch einen
„Kaiserbart“, wie ein Foto zeigt), besuchte auch die Vergnügungen der
Stadt, zum Beispiel die „Männerfastnachten“.
„Spitzbart, Bauch und Brille - sind nicht des Volkes
Wille“ -
dieser Ruf schallte bald durchs Land, der Widerstand gegen die neuen Machthaber
formierte sich. Gemeint war hier Walter Ulbricht, der mit anderen sofort nach
Kriegsende von Moskau aus eingeflogen wurde und eine neue Regierung aufbaute.
Der Protest
richtete sich in unserem Gebiet besonders gegen die Repressionen, die die Bauern
erfuhren: Das Abgabesoll war oft unerträglich hoch, und mit Zwang wurde
versucht, die Kollektivierung durchzusetzen. Dazu kam die harte Beschränkung
der persönlichen Freiheit: viele saßen in den Gefängnissen.
Die Arbeiter an
der Stalinallee in Berlin hatten begonnen, sie protestierten gegen die Normerhöhungen,
Arbeiter in den Industriezentren Mitteldeutschlands schlossen sich an; und
unsere Gegend ist die, in dem der Aufstand vom 17. Juni 1953 auch die
Bauernschaft und das Land erfaßte:
„Am 17. Juni 1953 erhoben sich 1.500 Bauern der
Elbaue und zogen nach Jessen... In den ersten Junitagen des Jahres 1953 spitzte
sich die Situation zu: Als am 11. Juni ein Beschluss der Volkskammer als Gesetz
zum Tragen kam, dass noch 20 bis 30 Prozent mehr an Abgaben zu leisten waren,
brachte dies das Fass zum Überlaufen. Immer öfter informierten Radiosender (aus
Westberlin) auch
über Unruhen in der Arbeiterschaft, die sich ebenfalls gegen die unverschämten
Forderungen und die schlechten Lebensbedingungen stellten... ,Auch wir Bauern dürfen
uns das nicht mehr bieten lassen´, lautete der Tenor. Täglich hörte man von
Leuten, die ihre Abgaben nicht mehr entrichten konnten und nach Mecklenburg
zwangsausgesiedelt oder gar wegen „Aufmüpfigkeit“ verhaftet wurden. Am 16.
Juni spitzte sich die Situation zu: ,In Rade diskutierte das halbe Dorf auf der
Straße, doch niemand wagte einen Entschluss´... Die ganze Nacht über waren
die Rädelsführer unterwegs. Hoffend, dass keiner Verrat üben würde. Bange
erwarteten sie die Morgenstunden - und konnten dann kaum fassen: Bauern kamen
von überall her auf den Jessener Markt geströmt. An die 500 zogen zum
„Kreml“, wie das Jessener Schloss als Sitz der Kreisleitung genannt wurde.
Etwa tausend Bauern und Sympathisanten blieben auf dem Markt... Es gelang! Die
Partei
(SED) traute sich nicht, mit Gewalt dagegen vorzugehen. Die
Forderungen der Bauern nach Rücknahme der Abgaben wurden erfüllt und gipfelten
in der Entlassung der Inhaftierten noch am selben Tag.“ (Gabi
Zahn: Der Tag, als der Mut siegte. Elbe-Elster-Rundschau 6.11.99, S. 18).
Auch Seydaer
waren dabei; ebenso in Halle, wo die Akten der Kreisleitung dort aus dem Fenster
geworfen wurden, sowie in Berlin. Streikende aus Berlin fuhren durch Seyda.
„Wittenberg war
kein Zentrum der Demonstrationen.“ „Am Marktplatz und in der Juristenstraße
standen russische Panzer.“ (Herrmann,
Gottfried: Über 45 Jahre Einheiten der Sowjetarmee in der Lutherstadt
Wittenberg. In: Heimatkalender 2.000, 25-42; 32).
Russische
Panzer rollten, über den Kreis Jessen wurde das Kriegsrecht verhängt. Kaum
einer wußte natürlich, dass sich im Seydaer Pfarrhaus nach der Niederschlagung
des Aufstandes die Streikleitung von Bitterfeld und Wolfen versteckt hielt. Später
kam die Staatssicherheit aber dahinter, und Pfarrer Hagendorf wurde wieder
eingesperrt: am 17. September 1953, ein Jahr lang. Es war nicht das erste Mal,
dass er auch von den neuen Machthabern eingesperrt wurde, sicher ist, dass er
ebenso am 24. März 1951 in Haft saß. Diesmal nun kam am 7. Oktober 1954 die „Begnadigung“
(zum 5. Jahrestag der DDR), jedoch wurde er mit einem Redeverbot belegt. Was
macht ein Pfarrer, wenn er nicht öffentlich reden darf?
Der Tod seines
Onkels in Westdeutschland, der über ein Telegramm mitgeteilt wurde, ermöglichte
ihm die (besuchsweise) „Ausreise“ in den anderen Teil Deutschlands. Er ist
dort geblieben, holte seine Familie nach und wurde später Superintendent in
Westfalen.
Seyda
hatte nun keinen Pfarrer - und sollte wohl auch keinen mehr bekommen. Daraufhin
machten sich die Kirchenräte Tischlereimeister Willy Hirsch und Müllerbesitzer
Paul Huth auf den Weg nach Magdeburg zum Bischof, um um eine Wiederbesetzung der
Pfarrstelle nachzusuchen. So ist es im Protokollbuch der Kirchengemeinde
vermerkt.
Der Besuch hatte
auch Erfolg: zu Weihnachten 1954 begann Vikar Rufried Mauer seinen Dienst in
Seyda. (Ein Vikar ist
ein Pfarrer, der noch in der Ausbildung ist.)
Welcher Pfarrer
es war, der seine Ankunftspredigt in Seyda so gehalten hat, ist nicht klar: „Ich
bin nicht gekommen, Eure Scheunen abzubrennen. Ich will ein Feuer in Euren
Herzen entzünden!“ Aber Pastor Mauer, der dann zu Michaelis (29.9.) 1956
in sein Amt eingeführt wurde, war es wohl nicht. Er hatte mit vielen
Schwierigkeiten zu kämpfen. In seine Zeit fiel die Auseinandersetzung um die
Jugendweihe. Ein Zeitzeuge, selbst Pfarrer, berichtet:
„Als in den fünfziger Jahren die Jugendweihe mit
Drohung und Erpressung durchgesetzt wurde, reiste der Wittenberger Propst
Wolfgang Staemmler durch seinen Kurkreis und hielt den Vortrag „Der Terror der
Jugendweihe“. Im Kreis Jessen erhielt er Redeverbot. Daraufhin sprach er nur
noch im Kreis Jessen. Unter Hitler war er im Konzentrationslager gewesen. So
wagte man nicht, seine Person anzutasten. Das Beispiel Propst Staemmler aber
verdeutlicht, wie es damals zuging.“
(Dr.
Fritz Neugebauer: Protestanten am Scheideweg: Grundsätzliches und Persönliches
aus der DDR-Zeit, Evangelische Kommentare 9/92,515).
Die Jugendweihe
wurde bewußt deshalb eingeführt, um die Jugend von der Kirche zu entfernen. In
keinem anderen Land gab es diese Tradition. Im Russischunterricht mußte für
die Freunde in der Sowjetunion notdürftig übersetzt werden: „graschdanskaja
konfirmazija“, „bürgerliche Konfirmation“.
Die Reaktion der
Kirche war scharf, die Jugendweihe wurde als Abfall von Christus gesehen. Auf
der anderen Seite wurden Jugendliche und Eltern von Schule und Partei, auch im
Betrieb, unter Druck gesetzt. Pfarrer Mauer schreibt für die Turmkugel von
Gadegast:
„Wohl
zu keiner Zeit hatten es unsere Kinder so schwer wie heute! ... Die Konfirmation
wird nicht mehr gefeiert. Man kann in unserer Zeit es keinen 14jährigen Kindern
zumuten, daß sie für ihr Leben ein bindendes Gelübde für Christus und die
Kirche ablegen, das sie nicht halten; denn viele Konfirmanden kommen nach der
Konfirmation nicht mehr zum Gottesdienst oder selten. Gott läßt sich aber
nicht spotten! Wer sich treu zur Kirche hält, auch in der Christenlehre sich
recht geführt hat, hat das Recht, zum Heiligen Abendmahl zugelassen zu werden.
Zur Jugendweihe Gezwungene und solche, die die Teilnahme an der Jugendweihe
bereuen, bekommen nach einer Probezeit von etwa einem Jahr ihre kirchlichen
Rechte, auch beim ersten Abendmahlsgang. Auch diesen Neuerungen gegenüber ist
die Gemeinde skeptisch; aber wir können als Kirche nur bestehen, wenn wir
unseren Herrn ganz ernst nehmen, ehrlich Sein Wort verkündigen, ganz nach Ihm
fragen und nicht auf Erfolg aus sind, der nur trügt und uns in die Irre führt...“
Die
Zahlen sprechen eine deutliche Sprache: 1950 waren es 70 Konfirmanden, 1960 nur
noch drei.
In der Kirche
kam man dann auf die Lösung, dass ein Jahr nach der Jugendweihe die
Konfirmation möglich war, also mit zeitlichem Abstand und dann mit drei statt
bisher zwei Unterrichtsjahren. So ist es bis zum Ende der DDR geblieben, das heißt:
am Ende der DDR-Zeit gab es in Seyda über Jahre keine Konfirmation mehr.
Die Machthaber
wollten nicht nur das Land und den Besitz, sie wollten auch die Seele. Der
christliche Glaube wurde in Schulen und Zeitungen massiv diffamiert, Kinder und
Eltern, die sich zur Kirche hielten, wurden zurückgesetzt und benachteiligt.
Für
die 50iger Jahre ist noch zu berichten, dass ein neues Evangelisches Gesangbuch
eingeführt wurde, das über 40 Jahre seinen Dienst tat. Eines der jüngsten
Lieder darin war von Martin Jentzsch, der 1879 in Seyda geboren wurde, „Brich
dem Hungrigen Dein Brot...“. (Evangelisches
Gesangbuch Nr. 418). Es wurde 1951 gedichtet. Das
andere Lied, was Walter Heinecke aus Seyda geschrieben hat, ist ein Lied zur
Hochzeit:
„Du hast uns, Herr, in Dir verbunden!
Nun gib uns gnädig das Geleit.
Dein sind des Tages helle Stunden,
Dein ist die Freude und das Leid.
Du segnest unser täglich Brot!
Du bist uns nah in aller Not.
Laß unsre Liebe ohne Wanken,
die Treue laß beständig sein!
Halt uns in Worten und Gedanken
von Zorn, Betrug und Lüge rein.
Laß uns doch füreinander stehn!
Gib Augen, andrer Last zu sehn.
Lehr uns, einander zu vergeben,
wie Du in Christus uns getan.
Herr, gib uns Teil an Deinem Leben,
dass nichts von Dir uns scheiden kann!
Mach uns zu Deinem Lob bereit,
heut, morgen und in Ewigkeit.
(Evangelisches
Gesangbuch Nr. 240)
Der Dichter,
Walter Heinecke, war der Cousin von Frau Dr. Nekwasil, die am Markt in Seyda
wohnte und bis in die 80iger Jahre hinein als Zahnärztin praktizierte. Mancher
wird sich noch an ihren Tretbohrer erinnern können!
Das Haus am
Markt 11 gehörte zunächst dem Bürgermeister Ganzert und seiner Familie und
war um die Jahrhundertwende auch
Rathaus. Später wurde es von dem Landarzt Dr. Julius Hermann Nekwasil erworben,
dessen Töchter dann die Zahnarztpraxis hatten und nach dem Tod von Frau Dr.
Nekwasil 1984 das Haus der „Arbeiterkolonie“ vererbten. Frau Dr. Nekwasil
und ihre Schwester, Frau Walze, hat viel zum Gemeindeleben in Seyda beigetragen.
Im Diest-Hof hängt noch eine Glocke, die sie gestiftet haben, und auf dem
Friedhof erinnert ein großes Grab an die Familie Nekwasil, mit den Sätzen:
Gott spricht: „Ich bin der Herr, Dein
Arzt!“ (2 Mose 15,26) und Jesus Christus spricht: „Ich
lebe, und Ihr sollt auch leben!“ (Joh 14,19).
Walter
Heinecke verließ Seyda als kleiner Junge mit seinem Vater, dem berühmten
Pastor, 1913, kam aber noch oft in den Ferien hierher. Er wurde später selbst
Pastor in Tornow bei Landsberg an der Warthe, in Bierbergen bei Hameln und in
Hannover und verstarb in Hildesheim 1992.
1956
kam wieder eine zweite Glocke auf den Turm, aus Stahl, nachdem auch im Zweiten
Weltkrieg eine Glocke (die von 1933) abgegeben werden mußte. Der ganze
Kirchplatz stand damals voller Glocken, auch von den umliegenden Orten: bereit
zum Abtransport. Auf der neuen Glocke von 1956 steht das Wort von Paulus: „Lasst
Euch versöhnen mit Gott!“, (2
Kor 5,20).
Pfarrer
Maurer feierte in der Kirche auch Kindergottesdienste! Sie fanden nach dem
Hauptgottesdienst am Sonntag statt. Er fuhr viel mit dem Fahrrad, bis nach Mark
Zwuschen und Zemnick.
Jedes
Jahr wurde zum Heimatfest vom Schützenhaus zum Markt ausmarschiert, die Kinder
mit Laternen, die Honoratioren mit Zylindern vorneweg. In den Fenstern standen
Kerzen (meist vier Stück); auf dem Markt wurde mit den Laternen gesungen: „Ich
bete an die Macht der Liebe, die sich in Jesus offenbart“ und zum Abschluß
„Nun danket alle Gott“. Als das
1956 nicht mehr gesungen werden durfte, stimmte Kantor Schmalz „Im
schönsten Wiesengrunde“ an.
1955
wurden die Schriften in der Kirche noch einmal nachgeschrieben; der Kronleuchter
und der Taufstein verschwanden - sehr zur Überraschung des Pfarrers und der
Kirchenältesten - aus der Kirche. Zum Glück hatte man den alten, von
Musikdirektor Schulze geretteten Taufstein noch.
Pfarrer
Mauer schreibt rückblickend in der Gadegaster Turmkugel 1960 (das Papier wurde
heimlich eingeschweißt, es hätte dem Pfarrer Lagerhaft eingebracht):
„Im Frühjahr 1960 wurden unter Führung der
marxistischen Sozialistischen Einheitspartei Deutschlands (S.E.D.) wochenlang täglich
sich wiederholende lange Besuche vieler im politischen Leben stehender Personen,
unterstützt durch lang anhaltende laute Musik aus einem Lautsprecherwagen, die
letzten selbständigen Bauern dazu gebracht, daß sie in die LPG eintreten.
Besonders die alten Bauern können das noch immer nicht verstehen, hatten sie
doch von ihren Vätern die Wirtschaften geerbt und auf ihnen ein Leben lang für
ihre Kinder gearbeitet, und auch den jüngeren Leuten wird es noch immer schwer,
sich in die ganz anderen Verhältnisse zu finden...
Für die Aktion „Brot für die Welt“ wurden im
vergangenen Jahr 1959 in der Gesamtparochie Seyda/Gadegast von etwa 150
Gemeindegliedern 3.000 Mark gesammelt (manche nicht sehr reiche gaben 300
Mark)...
Nur eine atheistische Namensweihe war bisher in
Gadegast, sonst lassen noch alle Eltern ihre Kinder taufen. In Zukunft kann das
aber ganz anders werden.“
Viele
verließen das Land, auf dem ihre Familie seit Generationen zuhause war. „Können
wir noch bleiben?“ so fragte sich wohl fast jede Familie.
Daneben
gab es bescheidene Aufrufe der Kirche:
„Bleibt in der DDR, weil auch Christus in der DDR
bei seiner Gemeinde bleibt!“ so wurde es im Auftrag der
Kirchenleitung auch von der Seydaer Kanzel verlesen und in der Turmkugel in
Gadegast festgehalten.
Nur wenige, die
einmal weggegangen waren, kehrten zurück.
Doch auch der Möglichkeit
der Flucht ist bald ein Riegel vorgeschoben worden: am 13. August 1961 wurde die
„Mauer“ gebaut, es war fast unmöglich, ohne Erlaubnis „in den Westen“
zu kommen, und die erhielt man nur schwer. Die Menschen waren wie gelähmt:
Damit hatte keiner gerechnet. Über den Mauerbau schreibt ein Zeitzeuge:
„Für die Menschen der DDR bedeutete sie ein
politisches Kidnapping von 17 Millionen Menschen. ,Wie fühlst Du Dich?´ wurde
damals jemand in einem Witz gefragt. Die Antwort: ,Besser als in Einzelhaft!´.
Der Ausdruck ,Sozialistisches Lager´ konnte wörtlich genommen werden. Die
Menschen waren Lagerinsassen, brauchten eine Genehmigung für den Hafturlaub und
mußten Besuchsgenehmigungen beantragen.“ (Neugebauer,
aaO 516).
Die
Kirchensteuern mußten jetzt selbständig, ohne staatliche Hilfe, erhoben
werden. Kirchenälteste taten diesen notwendigen und schweren Dienst. Der
Verdienst der kirchlichen Mitarbeiter reichte gerade zum Leben aus.
Die Chronik des
Pfarrer Mauer aus Seyda endet mit den Worten:
„Denjenigen, die das lesen, wünschen wir ruhigere
Zeiten. Haben sie solche, sollen sie nicht vergessen, daß Gott es auch schnell
ändern kann. Haben sie solche Zeiten nicht, sollen sie nicht vergessen, daß
auch bei ihnen der Herr ist und daß es in diesem Leben zuerst darauf ankommt,
zu diesem Herrn zu finden.“
In
der Kirche wurde darüber diskutiert, wie man sich nun gegenüber solcher „Obrigkeit“
verhalten soll, die doch Gott ganz offen ablehnt. „Jedermann
sei untertan der Obrigkeit, die Gewalt gegen sie hat.“ so steht es bei
Paulus im Römerbrief, Kapitel 13. Das galt damals für den nicht christlichen,
manchmal auch antichristlichen römischen Staat, sollte es nicht auch heute
gelten? „Suchet der Stadt Bestes!“
rief der Prophet Jeremia im Auftrag Gottes dem Gottesvolk in der babylonischen
Gefangenschaft zu. (Jer
29,7).
Auf der anderen
Seite wird bei Paulus gesagt, dass der Staat die Aufgabe hat, die Guten zu
belohnen und zu fördern und die Bösen zu bestrafen. Wenn er das nun
offensichtlich nicht tut, sondern ein Unrechtsstaat ist (der vielleicht gerade
die „Guten“ bestraft und die Skrupellosen bevorteilt): muß man dann nicht
gegen ihn vorgehen; sind dann seine Gesetze nicht wirkungslos? „Man
muß Gott mehr gehorchen als den Menschen.“ heißt es in der
Apostelgeschichte. (Apg
5,29).
Zwischen diesen
beiden Polen bewegte sich das politische Engagement der Kirche in der DDR-Zeit,
auch in Seyda.
Viele
haben sich in den schwierigen Zeiten gemüht, in Seyda das kirchliche Leben
aufrecht zu erhalten und treu zu Christus und seiner Gemeinde zu stehen. Das
waren Menschen aus Seyda, Frauen und Männer, aber auch Pfarrer, Katecheten, ein
Diakon und andere kirchliche Mitarbeiter.
Erinnert
sei zum Beispiel an Katechetin Ostara Richter, die aus Seyda stammt. Um eine
Klasse herauszugreifen: 1957 unterrichtete sie 28 Kinder in der Christenlehre
der 6. Klasse. Dort gab es auch Noten: in Betragen, Fleiß, für die Kenntnisse;
im Monat hatten die Kinder 50 Pfennige Beitrag mitzubringen. Auf den Dörfern um
Seyda feierte sie in den fünfziger Jahren Kindergottesdienst.
Diakon
Solbrig wohnte mit seiner Frau seit Beginn der 60iger Jahre im ehemaligen
Pfarrhaus am Kirchplatz 2. Er hielt in Seyda und in vielen umliegenden Dörfern,
auch in Mark Zwuschen und in Zemnick, die Christenlehre. Bei Wind und Wetter war
er mit seinem Motorrad unterwegs, unermüdlich; zu Gottesdiensten und
Gemeindeveranstaltungen. Er starb 1990. Ein großes Kreuz erinnert auf dem
Friedhof in Seyda an ihn. Der von ihm gefertigte Linolschnitt findet oft
Verwendung, er schmückt auch diese „Geschichte der Kirche in Seyda“ auf den
Deckblättern. Die Tür zur Kirche ist offen, bis hinein kann man schauen: Das
Ausrichten dieser Einladung, zu Jesus Christus zu kommen und dort das Heil zu
finden, das war seine Lebensaufgabe.
1963
starb Kantor Schmalz. Von 1909 bis 1954 war er Kantor und Lehrer in Seyda.
Generationen von Schulkindern hat er geprägt, noch heute wird mit Hochachtung
von ihm gesprochen. In seiner Zeit war es üblich, dass der Schulchor zu vielen
Gelegenheiten sang, und zwar Choräle. Vor dem Bau der Leichenhalle auf dem
Friedhof begann der Zug zur Beerdigung am Trauerhaus. Das Kreuz wurde durch
einen Schüler vor dem Sarg her getragen. Gesungen wurde zum Beispiel: „Jesu,
geh voran auf der Lebensbahn“ und „So
nimm denn meine Hände“. Dass das fast jeder Seyd´sche konnte, ist
Herrn Kantor Schmalz zu verdanken.
Die
ersten Urnenbeisetzungen in Seyda fanden während des Krieges statt: ein Kind,
was in Leipzig verstorben war, aber hier beerdigt werden sollte; und eine Frau
aus Berlin, die Verwandtschaft in Seyda hatte. Am Anfang stellten sich die
Pfarrer und Kirchenvertretungen gegen die Feuerbestattung, sie sahen darin etwas
Heidnisches (- was es auch war: vgl. G I, 18.23). Mittlerweile hat diese Form
der Beerdigung größere Verbreitung gefunden, wohl insbesondere aus Kostengründen
oder wegen der leichteren Grabpflege, aber vielleicht auch aus dem Grund, die
Trauer damit ein wenig zu verschieben: Findet doch die Urnenbeisetzung meist in
größerem zeitlichen Abstand zum Tod statt. Es ist gut für den Trauernden,
wenn er richtig Abschied nehmen kann: am Sarg, der dann in die Erde gesenkt
wird. „Traurigkeit bringt Geduld, Geduld bringt Bewährung, Bewährung aber
bringt Hoffnung“ (Röm 5,4): Abschied zu nehmen und zum Frieden zu kommen,
dazu scheint mir die Erdbestattung der bessere Weg zu sein. Ob aber jemand „in
den Himmel“ kommt, ist völlig unabhängig davon, ob er erd- oder
feuerbestattet wird.
„Kirchendienerin“
war in den Jahren 1945 bis 1949 Frau Luise Schulze, die im Haus Kirchplatz 2
seit 1935 mit ihrer Familie wohnte. Damit
war die Kirche in guten Händen: das Glockeläuten und der Blumenschmuck sowie
alle anderen großen und kleinen Küsterdienste. Danach übernahm diese Arbeit
Familie Quillfeldt, die in die Wohnung einzog. 1961 wurde das Amt Frau Martha
Schütze übertragen.
1963
kam Pfarrer Günther Schlauraff nach Seyda in seine erste Pfarrstelle. Er blieb
bis 1975. Vielen ist er als Jugendpfarrer bekannt! In Zusammenarbeit mit den
jungen Pfarrern aus Elster und Klöden „hatte
er die Jugend“: es kamen mehr Jugendliche zur Kirche als zu
FDJ-Veranstaltungen, wenn natürlich auch alle in der FDJ organisiert waren.
Die FDJ
(„Freie Deutsche Jugend“) war eine kommunistische Massenorganisation, in die
fast alle Jugendlichen in der 7. Klasse eintreten „mußten“. Wer das nicht
tat, stellte sich abseits und hatte es in der Schule und bei der Berufsfindung
schwer, auch die Eltern im Betrieb hatten mit Nachteilen zu rechnen. Für die
Kinder gab es in der ersten Klasse die „Jungen Pioniere“ mit blauem
Halstuch, die dann in der 4. Klasse zu „Thälmannpionieren“ wurden, mit
rotem Halstuch. In der Schule wurden zu Festlichkeiten „Fahnenappelle“
gehalten, in der alle in der entsprechenden Uniform erscheinen mußten. Das
Leben im Klassenverband wurde über diese Organisationsformen gestaltet. So kam
es in Seyda zum Beispiel vor, dass ein Pfarrerskind unbedingt Pionier werden
wollte, um einfach „dabei“ zu sein. Der Vater erlaubte es auch, machte aber
zur Bedingung, dass sie dann auch immer die Uniform tragen müsse.
Diese aktive
Jugendarbeit, die einen Freiraum bot, über Dinge zu diskutieren oder etwas zu hören,
was nicht in die ideologische Linie paßte, hatte in diesen Jahren einen großen
Zulauf. Da die Fülle des Geistes- und Kulturlebens tatsächlich viel breiter
ist, war das ein weites Betätigungsfeld und eine große Chance für die Kirche,
„evangelische Freiheit“ zu leben. Da wurde über Sexualität frei
gesprochen, auch über George Orwells „Farm der Tiere“, über moderne
Musikrichtungen oder über Selbstmord - also auch Sachverhalte, die nicht in die
Vermittlung einer „heilen Welt“ im Sozialismus in der Schule paßten. Es gab
über viele Jahre ein Rüstzeitheim auf dem Gelände der Arbeiterkolonie, was
intensiv genutzt wurde. Viele Fahrradfahrten wurden veranstaltet.
Der Staat
versuchte, diese Aktivitäten einzugrenzen. Der Kirche waren nur kircheneigene
Themen erlaubt. Reine Sportveranstaltungen durften nicht durchgeführt werden.
Deshalb hieß es immer „Bibelrüstzeit“, bei dem dann natürlich das ganze
Jugendleben ausgeschöpft wurde.
Mein
Vater, auch Pfarrer, mußte einmal 5 Mark Ordnungsstrafe zahlen, weil er bei
einem Kinderfest „Laurentia“ getanzt hatte: Das war keine „kirchliche Betätigung“.
In
der Gesellschaft vollzog sich seit den 60iger Jahren ein Paradigmenwechsel. Die
alten Werte „Ordnung, Fleiß, Disziplin, Pünktlichkeit“ wurden in Frage
gestellt in der Auseinandersetzung mit der Elterngeneration, die in der
Pervertierung dieser Werte Hitler gefolgt war. Im Westen Deutschland wurde diese
Auseinandersetzung offen geführt, die „68er“ wollten alte Strukturen
zerschlagen, ihre Spitze war die terroristische „Baader-Meinhof-Gruppe“.
Neue Musikgruppen mit oft sehr lauten, gesellschaftskritischen Tönen
entstanden. Die „sexuelle Revolution“ brachte eine große Freizügigkeit im
Führen von Beziehungen und im Umgang mit der Sexualität. Diese Veränderungen
drangen langsam auch in die DDR-Gesellschaft ein, schon über Funk- und
Fernsehenwellen, die nicht an der Grenze aufgehalten werden konnten (wenn es
auch Zeiten gab, wo die FDJ die Antennen absägte). Während die neue Musik nach
und nach „bei uns“ erlaubt wurde, es auch „FKK-Strände“ gab, so hatte
doch jeder, der die Staatsmacht infragestellen wollte, mit härtesten Strafen zu
rechnen.
Der
äußere Druck auf die Kirche führte auch zu einem Zusammenrücken der
Konfessionen: Zu dem Kreis der jungen Pfarrer in Klöden, Elster und Seyda gehörte
auch der katholische Pfarrer von Elster, Neumann. Ökumenische Gottesdienste
wurden gefeiert. Heute
ist er im „Amt für Gemeindeaufbau“ unserer Landeskirche beschäftigt und
war auch an meiner Ausbildung beteiligt.
Pastor
Schlauraff, der sein Arbeitszimmer zuerst noch im heutigen hinteren Gemeinderaum
hatte und noch mit „Flüchtlingen“ im Haus lebte, hatte auch große Probleme
mit der Staatsmacht. Seine Frau, Physiotherapeutin, hatte „Berufsverbot“. Es
hieß: „aus kaderpolitischen Gründen
ist keine Besetzung möglich“. Bibelstunden mußten, wie auch schon zu
Zeiten von Pfarrer Mauer, bei der Polizei angemeldet werden. Oft bekam er auch
„Besuch“ von den Staatsorganen. („Dürfen wir mitschreiben?“ - „Ich weiß doch, dass Sie ein
Tonbandgerät in der Aktentasche haben.“).
Man kann aus
heutiger Sicht die Pfarrer und ihre Familie nur bewundern, wie sie in diesen
Zeiten standgehalten und mit Freude Gemeindearbeit getan haben - ebenso natürlich
auch alle Gemeindeglieder, die treu zu ihrer Kirche gehalten haben.
Zur
Zeit des Pastor Schlauraff gab es auch noch einen „Männerkreis“, der sich
aus vielen Handwerksmeistern der Stadt und anderen Männern zusammensetzte. Da
wurde im Pfarrhaus Karten gespielt, aber auch vielfältige Themen besprochen.
Der gesellschaftliche Druck nahm aber immer mehr zu, so dass sich dieser Kreis
auflöste.
Die ganze Zeit
hindurch traf sich die „Frauenhilfe“, der „Altenkreis“ - oder wie wir
heute sagen „Gemeindenachmittag“ - also eine Versammlung von Frauen. Sie
kommen bis heute ganz regelmäßig zusammen und sind ein Nachfolger jenes
„Frauenvereins“, der so fruchtbare Arbeit in Seyda geleistet hat. Viele
Dinge wurden von diesem Kreis unterstützt; er ist auch ein Hüter der
Tradition, viel Gutes wurde bewahrt und ist auch in diese Chronik eingeflossen.
Bis
zum Ende der sechziger Jahre war es in Seyda noch üblich, dass die Hebamme die
Kinder zur Taufe in die Kirche trug und dort am Taufstein der Mutter überreichte.
Jedoch nahm die Zahl der Taufen ab, es gehörte einiger Mut dazu, sich öffentlich
zur Kirche zu halten. So wuchs bald eine Generation heran, die keine Verbindung
zur Kirche mehr kannte, ja, wo selbst in der Familie keine Vermittlung von
Glaubensgut vorkam. Aufgabe der Kirche wurde es nun, neben der Stärkung der
Gemeindemitglieder und dem „Zurückrufen“ derer, die sich entfernt hatten,
ganz neu Menschen anzusprechen. Das erforderte einige Umstellung: bisher war die
Kirche seit Jahrhunderten darauf spezialisiert, Kindern im Tauf- und
Konfirmandenunterricht den Glauben nahe zu bringen; jetzt aber wurde es nötig,
über das „Erwachsenenkatechumenat“ nachzudenken.
Gleichzeitig
ergab sich durch den großen äußeren Druck die Gefahr innerhalb der Kirche,
sich auch selbst zurückzuziehen, seinen kleinen Kreis zu pflegen bzw. einfach
durchzuhalten und dabei den Blick dafür zu verlieren, dass Gott wirklich jeden
Menschen liebt und die Botschaft des Evangeliums lebenswichtig ist und bleibt für
jedermann. Auch mußte und muß die Verkündigung zeitgemäß erfolgen, ohne
wichtige Inhalte aufzugeben, was Pfarrer Schlauraff und seinen Mitarbeitern
offensichtlich gelungen ist.
Am
12. April 1961 war der erste Mensch im Weltall, der Russe Juri Gagarin, ein Bürger
der Sowjetunion. Die platte Propaganda: „Wo ist denn Gott? Gagarin hat ihn nicht gesehen!“ nahm zum Teil
unverschämte, manchmal auch groteske Formen an. Der Himmel, wo Gott wohnt, ist
da, wo es ganz schön ist („Ich tanze
mit Dir in den Himmel hinein...“ war ein Schlager, den fast jeder kannte);
der blaue Himmel ist davon unterschieden: solche recht einfachen Dinge mußten
immer wieder erklärt werden.
Die neue Schule
in Seyda trägt (seit 1981) den Namen
„Juri Gagarin“, auf dem Schulhof steht ein Gedenkstein, in der Schule
ist ein Zitat von ihm zu lesen. Galt sein Erfolg doch als Beweis, dass das
kommunistische System allen anderen Gesellschaftsformen überlegen sei, und dass
der Mensch alles schaffen könne.
Amerikaner waren
dann die ersten, denen die Landung auf dem Mond gelang. Am 21. Juli 1969 haben
auch viele in Seyda dieses Ereignis die ganze Nacht hindurch vor dem Fernseher
verfolgt. Neil Armstrong („Ein kleiner
Schritt für mich, ein großer Schritt für die Menschheit.“) sprach auf
dem Mond ein Gebet und dankte Gott, dem Schöpfer des Kosmos. Gleichzeitig führten
die USA einen blutigen Krieg in Vietnam, der auch in Europa viele erschreckte
und empörte...
1968
marschierten die letzten Soldaten durch Seyda zum Kampfeinsatz. Es waren Russen,
sie kamen mit ihren Panje-Wagen, und es war die gleiche Kompanie, die Seyda
damals 1945 eingenommen hatte. Sie schauten zum Teil in die Häuser, in die sie
damals hineingegangen waren, und zogen dann in die Tschechoslowakei, um den
Aufstand dort niederzuschlagen - wie damals, mit ihren Panje-Wagen.
Seit
1955 waren in der „Arbeiterkolonie“ Diakon Meurer mit seiner Frau und
„Schwester Hertha“ tätig. Sie bemühten sich redlich, in diesen schweren
Zeiten den Bewohnern des „Pflegeheimes“ ein gutes Leben zu ermöglichen.
Noch heute sind sie auf dem „Diest-Hof“ von den Behinderten nicht vergessen.
Aus dem
„Altersheim“ war ein „Pflegeheim“ geworden, weil die alten Bewohner
pflegebedürftiger wurden. Auch wuchs der Bedarf der Betreuung von Menschen mit
geistiger Behinderung. Der Staat hatte 1953 einmal versucht, diese Arbeit zu übernehmen,
war aber nach wenigen Tagen kläglich gescheitert: die alten Mitarbeiter wurden
zurückgerufen.
Über viele
Jahre blieb das „Pflegeheim“ ein Hort christlicher Nächstenliebe in Seyda,
in dem und durch das auch das Wort Gottes und sein Lob reichlich verkündet
wurde.
1978 mußte der
Verein aufgelöst werden, und das Diakonische Werk der Evangelischen Kirche der
Kirchenprovinz Sachsen übernahm auch rechtlich Eigentum und Geschäftsführung.
Die Mitarbeiter dort taten ihren notwendigen und schweren Dienst für eine ganz
geringe Bezahlung.
Die
Bewohner des Pflegeheims halfen auch der Kirchengemeinde: Die Dächer der
Pfarrställe beispielsweise wurden abgenommen und durch ein Pappdach ersetzt, in
Eigenleistung von Kirchenältesten und Heimbewohnern.
Nach
dem Weggang von Pfarrer Schlauraff 1975 gab es eine längere Vakanzzeit. Wieder
fahren zwei Kirchenälteste, Herr Drogist Hans-Georg Schulze und Herr Otto
Neumann, zum Bischof nach Magdeburg und bitten um eine Wiederbesetzung der
Stelle. Mit Erfolg!
Vikar und später
Pfarrer Schaeper kommt nach Seyda. Die Gebäude sind nun in den Jahrzehnten
stark reparaturbedürftig geworden. Die Buntglasfenster in der Kirche wurden in
den 70iger Jahren eingeworfen und mußten herausgenommen werden. Der Putz bröckelte
vom Kirchturm. Pfarrer Schaeper hat an vielen Stellen selbst Hand an gelegt. Er
stand auf dem Kirchendach in Mellnitz, er riß einen Anbau am Pfarrhaus ab und
erneuerte die Sanitäranlagen, er deckte das Scheunendach auf dem Pfarrhof. Bei
letzterer Aktion kam es zu einem Unglücksfall: er schnitt sich einen Finger ab.
Von der Versicherungssumme ließ er einen Swimming-Pool im Pfarrgarten bauen.
Heißes Wasser wurde durch eine Leitung über das Asbestdach der Scheune
produziert. Der Swimming-Pool wurde ein beliebter Treffpunkt, auch für einen
Kreis junger Frauen, den Frau Schaeper initiierte.
Das
Kirchenschiff wurde geputzt, unter Hilfe von Herrn Max Busse, Herrn Gerhard
Bernhardt, Herrn Ulrich Dümichen. Der Anbau an der Südseite der Kirche,
ehemals Aufgang für die Männer, wurde abgerissen.
Pfarrer Schaeper
begann, regelmäßige Gemeindeabende, auch auf den kleinen Dörfern, durchzuführen.
Polizeiliche Anmeldungen waren nun nicht mehr nötig: Die Kirchengemeinde war in
ihrer öffentlichen Bedeutung klein geworden. Dennoch hatte er
Auseinandersetzungen mit der Staatsmacht. So wurde er nach einem Martinsfest,
bei dem die Kinder mit Laternen durch den Torbogen zogen, auf den „Rat des
Kreises“ bestellt und wegen „unerlaubter
Zusammenrottung“ zur Rede gestellt.
Mutig schrieb er
eine Eingabe zum Fluglärm, der durch das russische Militär, was seit
Kriegsende die Heide besetzte, hervorgerufen wurde. Er bekam die Antwort, seine
Nöte seien verständlich, er solle doch aber bitte die Nummern der Flugzeuge
aufschreiben, damit der Sache nachgegangen werden könne...
Die
Diplomarbeit, die Pfarrer Schaeper schrieb, trägt den Titel: „Den
Gottesdienst als Feier zurückgewinnen“. Das war ihm wichtig, wenn auch
die Zahl der Gottesdienstbesucher zurückging doch die Freude an Gottes Wort und
seiner Gegenwart deutlich werden zu lassen.
Das Pfarrerbild
hat in dieser Zeit noch einmal eine Wandlung erlebt. Aus dem „Oberpfarrer“
war ein Mitmensch geworden, der im Arbeitsanzug mit auf dem Gerüst stand und
selbst die Kelle schwang. Das geschah aus der Not heraus, aber auch mit der
Absicht, nahe bei den Menschen zu sein. Pfarrer Schaeper lehnte es zum Beispiel
ab, auf die Kanzel zu steigen. Er wollte bei der Auslegung der Schar der
Gottesdienstbesucher lieber direkt ins Gesicht sehen können und mit ihnen auf
gleicher Ebene sein.
Höhepunkte des
Gemeindelebens damals waren die Goldenen Konfirmationen sowie Gemeindeausflüge,
zum Beispiel in den Spreewald, wo alle miteinander im Kahn saßen. Durchgehalten
über alle Jahre hin wurde die Christenlehre, die in den 80iger Jahren Frau
Mikowski hielt. Dort kamen auch immer ungetaufte Kinder durch ihre Freunde mit,
deren Elternhäuser keinen Kontakt mehr zur Kirche hatten.
Ende
der 80iger Jahre, als Pfarrer Schaeper und seine Familie Seyda wieder verlassen
hatte, gab es über Jahre keine Konfirmation mehr in Seyda. 1990 fand die Feier
in Zemnick statt, wo ein Konfirmand aus Seyda teilnahm. Die Kirche war zurückgedrängt
in eine Nische und spielte keine Rolle mehr im öffentlichen Leben der Stadt.
Ein
Hort christlichen Lebens blieb das „Pflegeheim“, die ehemalige
Arbeiterkolonie. 1984 kam Familie Lange nach Seyda, Herr Lange war Heimleiter
bis zum Beginn des Jahres 2.000. Seit 1985 fanden zahlreiche Um- und Ausbauten
statt. Aus den großen Schlafsälen mit den Gitterbetten wurden kleine,
wohnlichere Zimmer geschaffen. Es gab nun Wohngruppen, Einzel- oder
Doppelzimmer; neue Sanitär- und Heizungsanlagen. Ein Förderbereich wurde
ausgebaut.
Nach
längerer Vakanzzeit kam 1988 Pfarrer Dietrich Podstawa mit seiner Familie nach
Seyda. Durch seine Initiative wurde die Partnerschaft mit den Gemeinden in
Hessen, Oberseemen und Volkartshain, neu belebt. In den 50iger Jahren war jeder
Gemeinde in Ostdeutschland eine aus dem Westen Deutschlands zugeordnet worden,
um die Verbindung auch über Mauer und Stacheldraht hinweg aufrecht zu erhalten.
Das Dekanat
Schotten schenkte dem Kirchenkreis Jessen eine „Schnellbaurüstung“, Pfarrer
Podstawa brachte sie her und hatte sie fortan unter seiner Verwaltung. Er
verstand es geschickt, damit umzugehen. Unzählige Kirchtürme, Fassaden und
Kircheninnenräume wurden mit seiner Hilfe nun eingerüstet. Das war oft allerhöchste
Zeit, nachdem die Gebäude über Jahrzehnte verfallen waren. Jedoch fehlten
meist die Mittel und die „Baugenehmigungen“ des sozialistischen Staates.
Im Frühjahr des
Jahres 1989 rüstete er zusammen mit den Männern des Dorfes den Kirchturm in
Zemnick ein. Als sie oben auf der Spitze standen, sagte er die Worte, die sich
später als prophetisch erweisen sollten: „In
diesem Herbst sehen wir etwas anderes!“
Damit hatte hier
keiner gerechnet: Dass die DDR ein Ende haben könnte, dass das ganze
Staatssystem mit dem Sicherheitsdienst und der Kontrolle des ganzen Lebens plötzlich
wie ein Kartenhaus zusammenfallen würde; dass die gar bestraft würden, die
Unrecht taten - und dass es wieder ein einiges Deutschland geben sollte. Das
konnte sich keiner vorstellen, und wer davon doch redete, wurde als Träumer belächelt.
Niemand ahnte, dass die Wirtschaftskraft dieses Staates derart am Boden lag. Bis
zum Schluß standen ja nur Erfolgsmeldungen in der Zeitung, wenn die
„Ernteschlacht“ tobte oder der Plan in den Betrieben wieder übererfüllt
wurde.
Die direkte
Anschauung einer anderen, der „westlichen“ Welt, hatten nur wenige: Die
Rentner oder die, die für Reisen privilegiert waren; ab und zu auch jemand, der
ein enges Verwandtschaftsverhältnis nachweisen konnte und auch sonst „zuverlässig“
war. Sonst war man natürlich über das „Westfernsehen“ informiert, was wohl
in fast alle Seydaer Wohnzimmer Abend für Abend kam. Aber den Zusammenbruch der
DDR, den erwartete man nicht: Hatte man sich doch auch eingerichtet mit seinem
Lebensplan, der so schön vorgegeben war: Geburt, Kinderkrippe, Kindergarten,
sozialistische Einheitsschule, garantierte Lehre, ein Arbeitsplatz in der näheren
Umgebung oder in Seyda, Rente. Wenn man nicht gegen die Spielregeln verstieß,
also zu offen Kritik gegen die Staatsmacht äußerte, (sich auch nicht zu offen
für die Kirche engagierte), konnte man sich gut einrichten, sein Haus bauen;
Beziehungen knüpfen, um manche Engpässe zu überwinden. Es wäre wohl kaum
jemand auf den Gedanken gekommen, gegen das System als Ganzes zu opponieren: zunächst
aus Furcht, dann aber auch, weil es einem doch gut ging.
So kam die
„Wende“ für viele - wenn nicht für alle - überraschend.
Ich
weiß noch, wie mir die Knie gezittert haben, als ich damals, am 9. Oktober
1989, in Leipzig zur „Demo“ ging.
Schon Tage vorher hatten massive Einschüchterungen stattgefunden. In der
Zeitung konnte man es lesen: „Wenn Ihr
noch einmal auf die Straße geht, dann werden wir mit der Waffe in der Hand
gegen Euch vorgehen.“ So hatte es ein „Kampfgruppenkommandant“ (jeder
Betrieb hatte so eine militärische Einheit) geschrieben. Die Stadt war voller
Polizei und Militär. Auf der Wiese hinter meinem Internat konnte ich die Reihen
der Wasserwerfer und Militärautos sehen.
An den Tagen
vorher hatte es schlimme Auseinandersetzungen in Dresden gegeben. Demonstranten
waren geprügelt worden - wie auch schon in Leipzig. Aus Protest gegen die Vorgänge
beschlossen wir, am Montag zu „streiken“, also keine Vorlesungen und
Seminare zu besuchen.
Ein jeder fuhr
noch einmal am Wochenende nach Hause, weil wir wußten: was passieren würde,
wenn wir wieder demonstrieren, war sehr ungewiß. Die Kirchen an den
„Montagsgebeten“ um 17 Uhr waren überfüllt, mehr, als am Heiligen Abend.
Vier Kirchen in der Innenstadt waren geöffnet. Es herrschte eine gespannte
Ruhe. Der sächsische Landesbischof Hempel reiste von Kirche zu Kirche, um überall
eine kurze Predigt zu halten. Sie hatte einen Hauptpunkt: „Das
menschliche Leben ist ein sehr hohes Gut. Deshalb: Keine Gewalt!“ Das war
die Botschaft, die alle verstehen konnten, Christen und Nichtchristen, die die
Kirchen füllten. Wir sangen:
„Sonne der Gerechtigkeit, gehe auf zu uns´rer Zeit.
Brich in Deiner Kirche an, dass die Welt es sehen
kann!
Erbarm Dich, Herr.
Tu der Völker Türen auf, Deines Himmelreiches Lauf
hemme keine List noch Macht, schaffe Licht in dunkler
Nacht:
Erbarm Dich, Herr.“
(Evangelisches
Gesangbuch Nr. 262).
Noch wußten wir
nicht, dass dies fast wörtliche Erfüllung finden sollte („Tu der Völker Türen auf...“).
Wir gingen
hinaus auf die Straße, formierten uns auf dem „Karl-Marx-Platz“ zu einem
Demonstrationszug. Sprechchöre riefen: „Schließt
Euch an!“ Das konnte ich nicht mitrufen: Mußte doch jeder selber sehen,
ob er das Risiko eingehen wollte. Monatelang wurden uns die Bilder aus China
vorgespielt, in der die Demonstration auf dem Platz des Himmlischen Friedens
blutig niedergeschlagen wurde. Egon Krenz, ein hoher Funktionär der DDR, war
dort gewesen und hatte die chinesischen Genossen dazu beglückwünscht.
Der Zug setzte
sich langsam in Bewegung. ,Hinter der nächsten Straßenecke stehen sie und
schießen uns zusammen...´ Aber wir mußten gehen. Es ging um Gerechtigkeit,
Freiheit, Demokratie: zunächst für die, die in den Gefängnissen saßen, dann
aber für das ganze Land. Es mußte sich etwas ändern!
Sprechchöre gab
es weiter. Die Polizeiketten und militärischen Fahrzeuge tauchten auf. „Wir
sind das Volk!“ haben wir gerufen - den „Volksarmisten“ und der
„Volkspolizei“ des „Arbeiter-und-Bauern-Staates“ ins Gesicht. Und, immer
wieder „Keine Gewalt!“.
Es ging am
Hauptbahnhof vorbei. Sie hatten noch nicht zugeschlagen. Es ging immer weiter!
Aber plötzlich, an der „Runden Ecke“,
dem Gebäude der Staatssicherheit, das wie eine Festung ausgebaut war, blieb der
Zug stehen. Vor mir war noch ein Stück grüne Wiese, ungefähr 10 Meter, und
dahinter standen schwerbewaffnete Polizisten mit Helmen, Schilden, Schlagstöcken,
Hunden. Ganz vorn schrie es: „Durchlassen!“
„Durchlassen!“. Das also sollte das Ende sein.
Eine Schnitte
hatte ich noch in der Tasche, von Muttern, die habe ich gegessen, in Erwartung
der Dinge, die da kommen würden...
Aber dann ging
es weiter. Einfach weiter. Ein Krankenwagen kam uns entgegen: Das war der Grund
des Haltens gewesen. Es ging einfach weiter. Die Schritte wurden leichter. Es
war nicht zu fassen: Sie taten uns nichts. Einmal herum sind wir gelaufen, um
Leipzig. Wieder bis zum Karl-Marx-Platz.
Am nächsten
Montag wieder. Da waren dann schon mehr dabei. Schließlich, am 18. Oktober, die
Meldung im Radio: Erich Honecker, Vorsitzender des Staatsrates und Generalsekretär
der Sozialistischen Einheitspartei Deutschlands, ist zurückgetreten. Ich kam zu
spät zur Vorlesung und schickte einen Zettel durch die Reihen. Ein Aufatmen
ging durch den Saal. Schließlich kam er beim Podium an. Die Vorlesung wurde
unterbrochen.
Und am 9.
November fiel die Mauer. Ich war zur Gründung des „Demokratischen
Aufbruchs“ gewesen, und berichtete meinem Vater um 22 Uhr von einer
Telefonzelle aus. Er sagte es mir: „Und
weißt Du was, die Mauer ist offen!“ Ich habe es nicht verstanden. So
wenig hatte ich damit gerechnet, dass ich das gar nicht als Wirklichkeit
begriffen habe! Die Mauer - sie war immer da. Da konnte man nicht rüber, zu Großmutter,
Tante, Onkel. Das war unmöglich!
Dass sie
wirklich auf war, habe ich erst am nächsten Tag richtig gemerkt, als lange
Schlangen vor den Volkspolizeistationen standen, um einen Stempel für den Paß
zu bekommen. Zum ersten Mal durften wir in den Westen fahren, nach Westberlin,
nach Westdeutschland...
Auch
aus Seyda fuhren nach dem 9. Oktober einige nach Leipzig, um dabei zu sein. In
Wittenberg gab es Demonstrationen, in Jessen wurde die „Staatssicherheit“
gestürmt.
Die Kirche war
plötzlich wieder da. Der Ort, in dem man frei reden konnte. Der Ort, an dem man
seine Unruhe, seine Ratlosigkeit, seinen Protest artikulieren konnte. Die
Menschen kamen in Scharen.
Und dann fuhren
sie in Scharen nach dem Westen. Die Schule am Sonnabend fiel aus, weil kaum noch
einer da war. Schließlich wurde der Schulunterricht am Sonnabend ganz
eingestellt.
Mit Jubel wurden
die neue Freiheit begrüßt. Wildfremde Menschen lagen sich in den Armen. Dass
die Freiheit eine Veränderung der ganzen Gesellschaft mit sich bringen würde,
war wenigen bewußt.
Am 18. März
1990 gab es freie und geheime Wahlen. Sie waren ein deutliches Votum für eine
Wiedervereinigung, wohl vor allem auch deshalb, weil man sich damit einen größeren
Wohlstand erhoffte. Das Gefälle zwischen Ost und West war doch recht drastisch.
Viele Dinge konnte man hier nicht kaufen. In der DDR galten künstliche Preise:
Grundnahrungsmittel waren sehr billig, „Luxusartikel“ wie Fernseher oder
eine elektronische Uhr dafür sehr teuer.
Ein Sachverhalt,
der übrigens auch der Kirche später sehr zu schaffen machte: Durch die
Subventionierung der wichtigsten Dinge, die man zum Leben braucht (Essen,
Wohnen, Strom) war es möglich gewesen, dass die kirchlichen Mitarbeiter in der
DDR mit sehr wenig Geld auskamen. Obwohl der Anteil der Gemeindeglieder ganz
drastisch zurückgegangen war (von 96% auf 20%), konnte die Pfarrstellenzahl in
etwa bei dem Stand von 1950 gehalten werden: es war also eine
„Versorgung“ da, als ob alle Einwohner zur Kirche gehörten.
Die Einführung realer Preise stellte das in Frage.
Mit
dem Tag der Deutschen Einheit am 3. Oktober 1990 galt auch bei uns das
„Grundgesetz“, was den Kirchen große Freiheiten und einen anerkannten Platz
in der Gesellschaft einräumt. In der Schule, in den Medien, im
Gesundheitswesen, selbst bei Polizei und Militär sollte die Kirche präsent
sein.
Wie sollte das möglich
sein - in der Situation, in der sich die Kirche im Osten befand: zumeist zurückgedrängt,
oft gar nicht mehr wahrgenommen - bis zur Wende.
Zunächst
einmal wurden umfangreiche Baumaßnahmen in die Wege geleitet. Manche Kirche war
am Einfallen, nun aber flossen Millionen der Denkmalpflege. Pfarrer Podstawa war
da der richtige Mann am richtigen Ort. Er rüstete Kirche um Kirche ein, im
ganzen Kirchenkreis - das waren die erforderlichen Eigenmittel, die die Gemeinde
bringen mußte. Für viele Kirchen war es eine Rettung in letzter Minute.
Auch der
Kirchturm in Seyda wurde eingerüstet. Mitgearbeitet haben: Pfarrer Podstawa und
Frau Gertraude Lenz, eine Kirchenälteste - und Herr Otto Lehmann, der die
Stangen hoch reichte. So wurde der ganze große Kirchturm mit einem Gerüst
versehen.
1992 kam eine
neue goldene Kugel auf den Turm, und Pfarrer Podstawa schrieb rückblickend:
„An vielen Kirchen wurde in dieser Zeit gebaut.
Warum eigentlich erst jetzt? Was war geschehen?
Am 30. Januar 1933 wird Adolf Hitler zum Reichskanzler
Deutschlands gewählt. Seine Nationalsozialistische Deutsche Arbeiterpartei
(NSDAP, „Nazis“) wurde einzigste Partei in Deutschland - das „3. Reich“
war entstanden. Deutschland sollte in der Welt etwas Einzigartiges darstellen.
Viele glaubten daran, hegten neue Hoffnungen nach Inflation und Niedergang. Aber
die Nazis hatten ein Programm: Ausrottung des Judentums, jeglicher Opposition
und anderer Rassen - Mißbrauch des Christentums. Um diese Ziele durchzusetzen,
begann man 1939 einen Krieg, der sich zum 2. Weltkrieg entwickelte und 52
Millionen Menschen das Leben kostete. 6 Millionen Juden wurden in
Konzentrationslagern ermordet und viele andere mit ihnen. Fazit: Die ganze Welt
stellte sich gegen Deutschland - 1945 wurde es besiegt. Unter den Siegermächten
USA, England, Frankreich und der Sowjetunion wurde Deutschland in 2 Gebiete
aufgeteilt: Ost und West. Der Osten wurde von Rußland und seiner
Kommunistischen Partei beherrscht, der Westen besonders von Amerika beeinflußt.
Es entstanden zwei wirtschaftspolitische und militärische Zonen: Die
Bundesrepublik Deutschland mit der „Nato“ und die Deutsche Demokratische
Republik (DDR) mit dem Warschauer Pakt. Es waren „2 Welten“ entstanden - die
Zeit des Kalten Krieges. Die Menschen in Europa - und besonders in Deutschland -
litten darunter. Mitten durch Deutschland ging eine Grenze. Diese Grenze wurde
1961 durch eine Mauer und Stacheldrahtzäune befestigt und somit auch unüberwindbar.
Auf flüchtende Menschen wurde geschossen. Einwohner hüben und drüben konnten
sich kaum oder gar nicht begegnen. Sie lebten sich auseinander. Auch mit den
Kirchen war es ähnlich. Man versuchte, die Einheit zu wahren, aber es gelang
auf Dauer nicht. So gab es einen Bund der Evangelischen Kirchen in der DDR und
die Evangelische Kirche in Deutschland (West). Fast niemand glaubte, daß sich
daran noch einmal etwas ändern könnte. Doch Gottes Gedanken und Wege sind
nicht unsere Wege. Da tauchte im großen Rußland ein Mann auf - namens Michael
Gorbatschow. Er übte nicht nur harte Kritik an der Art des Kommunismus in
seinem Land, sondern er veränderte auch. So entstand eine Bewegung,
durch die das Weltreich des Kommunismus, „die große Sowjetunion“
auseinanderbrach.
Im November 1989 wurde die DDR - unter Beeinflussung
dieser Vorgänge - durch eine friedliche Revolution nach 40 Jahren verändert.
Am 3. Oktober 1990 hörte sie auf zu existieren. Es gab eine einheitliche Währung,
die D-Mark, und Deutschland erlangte wieder seine Einheit und Souveränität.
Vieles hat sich verändert: zum Guten wie zum weniger Guten - Menschen sind
erleichtert, aber auch verängstigt und unsicher. Viele Menschen haben keine
Arbeit, soziale Nöte greifen um sich.
Im Rahmen eines großen Bau- und Erneuerungsprogramms
in den 5 neuen Bundesländern konnten auch die Kirchen in Seyda und Morxdorf
teilweise renoviert werden.
An der friedlichen Revolution hatten die Kirchen großen
Anteil - heute ist die Kirche weithin nicht gefragt.
Wir hoffen aber, daß wir nicht „Museen“ ausbauen,
sondern Kirchen, in denen sich die Gemeinde trifft und nach dem Evangelium lebt.
Seyda, im Juli 1992
Wo der Herr nicht das Haus baut,
so arbeiten umsonst, die daran bauen! Psalm
127,1
Podstawa, Pfarrer.“
Pfarrer
Podstawa spricht die großen Veränderungen an: die Läden waren jetzt voll,
keine Mangelwirtschaft mehr; aber die Arbeitsstellen wurden knapp: Die „LPG“,
„Landwirtschaftliche Produktionsgenossenschaft“, bei der bisher
die meisten Menschen im ländlichen Raum beschäftigt waren, wurde in Seyda zu
einer „Agrargenossenschaft Seydaland“,
die nur noch einen Teil der Beschäftigten behielt. Viele mußten sich Arbeit in
Westdeutschland suchen, pendelten hin und her oder zogen weg. Die Bevölkerung
nimmt rapide ab. Für Jugendliche oder junge Familie gibt es kaum Perspektiven.
Für viele wurde der „Lebensplan“ durchkreuzt, in dem sie die Arbeit
verloren. Das Leben in einer Gesellschaft, in der man selbst verantwortlich ist
und nicht mehr vom Staat „betreut“ wird, mußte schwer gelernt werden.
Die
Stadtverordneten sammelten persönlich in den Häusern für die Turmuhr, die ein
neues Ziffernblatt mit goldenen Zahlen und Zeigern erhielt sowie computer- und
funkgesteuert arbeitet. Ein solches Zusammengehen von Stadt und Kirche war neu
und ungewohnt, möglich aber, weil etliche Gemeindeglieder nun auch im Stadtrat
saßen und man allgemein „der Kirche etwas Gutes tun“ wollte, schließlich
steht sie mitten in der Stadt.
Die
neue Freiheit, ohne Zensur zu schreiben und auch Zeitungen herauszugeben, wurde
in Seyda genutzt, in dem der „Seydaer
Stadt- und Landbote“ wieder erschien. Nach und nach aber stellten sich
dann auch die Regionalzeitungen um und berichten regelmäßig aus Seyda, so dass
es nur wenige Ausgaben dieser Seydaer Zeitung gab.
(5
Ausgaben erschienen, vom März bis zum Oktober 1990).
Am
18. Oktober 1991 wurde der „Gustav-von-Diest“
Verein neu gegründet und übernahm die Verantwortung für den „Diest-Hof“,
wie sich die ehemalige Arbeiterkolonie nun nannte. In der Satzung des Vereins
heißt es: „Der
Gustav-von-Diest-Verein ist eine diakonische Einrichtung und gehört durch seine
Mitgliedschaft im Diakonischen Werk in der Kirchenprovinz Sachsen e.V. dem
Diakonischen Werk der Evangelischen Kirche in Deutschland an.
Der Verein sieht seine Aufgabe darin, in Wahrnehmung
der durch Jesus Christus erwiesenen Liebe und der von ihm gebotenen
Verantwortung insbesondere behinderte Menschen zu fördern und zu begleiten.“
Der Diest-Hof
ist also auch weiterhin ein Ort christlichen Lebens. Er hat über viele Jahre
dazu beigetragen, dass Menschen mit geistiger Behinderung auch in unserer Stadt
und im Umkreis akzeptiert sind und der Umgang mit ihnen selbstverständlich ist.
Die Bewohner des Diest-Hofes haben, soweit es ihre Behinderung zuläßt, große
Freiheiten. Man trifft sie häufig auf Spaziergängen.
Das „Sommerfest“ des Diest-Hofes entwickelte sich zum größten und
buntesten Fest der Stadt, in dem mit viel Kreativität Gemeinschaft und
Lebensfreude Ausdruck finden.
Mit der Wende
gab es auch für die Behindertenarbeit neue Möglichkeiten. 1997 konnten auf dem
Diest-Hof zwei ganz neue Wohnhäuser eingeweiht werden. Dazu waren viele
Menschen gekommen, ein Bischof aus Tansania sprach den Segen.
Leider
kam es zwischen der Kirchengemeinde und dem Diest-Hof über einige Jahre auch zu
größeren Spannungen. Sie entwickelten sich wohl daraus, dass der
Gottesdienstbesuch in Seyda auf eine sehr kleine Zahl zusammengeschrumpft war.
Man stelle sich vor: Die Kirchtür geht auf, und herein kommt eine große Gruppe
geistig Behinderter, umringt und umarmt das kleine Häuflein und feiert den
Gottesdienst auf seine Weise mit. - Solche Erfahrungen führten zu einem Ruf
nach Trennung von Gemeinde- und Pflegeheimgottesdiensten, entsprechender
Reaktion („Ausgrenzung!“) und
vielfältigen Auseinandersetzungen.
Glücklicherweise
aber konnten diese Spannungen durch gegenseitiges Aufeinanderzugehen überwunden
werden, und die Bewohner und die Mitarbeiter des Diest-Hofes tragen heute sehr
zur Bereicherung des Gemeindelebens in Seyda bei. Dieses Aufeinanderzugehen wird
immer neu nötig sein.
Pfarrer
Podstawa mußte Seyda bald wieder verlassen, weil seine Frau schwer krank wurde.
Er blieb der Gemeinde aber bis zu seinem plötzlichen Tod 1998 verbunden, auch
mit Vertretungsgottesdiensten, Gerüstbau und der Organisation von
Gemeindefahrten mit und zur Partnergemeinde.
Die
Konfirmandenzahlen hatten nach der Wende zugenommen, die „Jugendweihe“,
die ein Bekenntnis zum sozialistischen Staat gewesen war („Ja, das geloben wir!“) schien nicht mehr recht zeitgemäß.
Das änderte sich bald wieder, sowohl, weil die Organisatoren der Jugendweihe
sich umstellten, ein wenig vielleicht auch, weil die Kirche nicht die Kraft
hatte, alle Jugendlichen aufzunehmen. Schließlich gehört zur Konfirmation ein
ordentlicher Unterricht und ein Bekenntnis; die Jugendweihe ist heute ohne all
das für 50 Mark zu haben.
Der
Gottesdienstbesuch nahm in der Vakanzzeit noch weiter ab und erreichte seinen
Tiefstand im Sommer 1993, als einmal nur drei Leute zum Gottesdienst erschienen
waren.
Das
Pfarrhaus wurde 1993 renoviert, mit dem Gemeinderäumen, Gemeindeküche und
-toiletten, einer Heizungsanlage.
Am
22. August 1993 wurde ich, Thomas Meinhof, in der Seydaer Kirche zum Pfarrer
ordiniert. Besonders wichtig ist mir, wie anderen Pfarrern vor mir, die Feier
des Gottesdienstes. An jedem 2. Sonntag im Monat und an den Feiertagen feiern
wir miteinander das Abendmahl. Mit Hilfe von fleißigen Helfern findet seit 1993
an jedem Sonntag Kindergottesdienst statt. Beim ersten Gemeindeabend kam der
Vorschlag, ein Gemeindecafé einzuführen, was wir seitdem nun auch nach jedem
Gottesdienst (außer am Karfreitag) haben.
1994 bis 1995
konnte die Kirche auch innen renoviert werden. Begonnen hat es mit einer
Sicherung von Dachbalken, die sehr angegriffen waren, und dem Schließen des
Daches. Eine Läuteanlage wurde installiert, so dass seit Mai 1994 wieder ein
Abendläuten um 18 Uhr stattfindet.
Die Renovierung
geschah in verschiedenen Etappen, wobei man immer nicht wußte, wie weit es
gehen würde, da das Geld knapp war. Jedoch haben wir immer das gehabt, was wir
brauchten, Gott sei Dank!
Den Anfang bei
der Innenrenovierung machten Jugendliche aus Seyda, die mit Hilfe von Freunden
aus Mainz im August 1994 den Vorraum der Kirche und die Treppenaufgänge weißten.
Das Lied aus unserem Liedheft ist passenderweise aus Mainz:
„Ich will einziehn in sein Tor mit dem Herzen voller
Dank, ich will treten in den Vorhof mit Preis! Denn ich weiß, dies ist der Tag,
den der Herr gemacht! Ich will mich freu´n, er hat mich froh gemacht!“
(Liedheft Nr. 39).
Bei einem
Geburtstagsbesuch sagte mir der Jubilant, sein Arbeitsleben sei nun zuende, aber
eigentlich wäre er gern Kirchenmaler geworden. Ich meinte, dafür sei es noch
nicht zu spät, und so kam es, dass Herr Harald Freiwald uns den Spruch und die
Verzierungen im Vorraum wieder fachmännisch anbrachte.
Schließlich
stand eines Tages auch ein großes Gerüst (von einem Baubetrieb für 17.000 DM
gestellt) in der Kirche. Aber kein Baubetrieb fand sich, der die Kirchendecke
sichern wollte. Der Kirchenbaurat stellte fest: „Dann
müssen sie das Gerüst eben wieder abbauen!“ (!!)
Doch es gab noch
einen Weg. 1993 war Herr Christian Biber nach Seyda und in unsere Gemeinde
gekommen, ein Rußlanddeutscher. Er wurde 1929 in Glückstal in Moldawien
geboren und hatte eine lange, schwere Odyssee über Polen, Sibirien und
Kirgisien hinter sich. Herr Biber half mit großem handwerklichen Geschick
entscheidend beim Sichern der Decke durch das Eindrehen von Messingschrauben,
dem Anbringen kleiner Netze und von Putz. So konnte die Kirche wieder hell
erstrahlen! (Bei
Vorarbeiten wurden frühere Anstriche gefunden: ochsenblutrot, hellblau, hellgrün.)
Das Geld war wie
gesagt knapp. Oftmals kam die Gemeindekasse in die roten Zahlen. Aber es fand
sich immer ein Weg! Die Denkmalpflegeschule in Potsdam machte ein Seminar über
den Holzwurm und restaurierte dabei unsere Altarfiguren. Wir hatten das
Holzwurmmittel zu bezahlen: 167,50 DM.
1995 fand eine
Orgelsanierung unter großer Beteiligung der Gemeinde statt. Der Jessener Kantor
Genterczewsky, für Seyda mit zuständig, stellte fest: „In fünf Jahren ist sie nur noch Sägemehl“. Fördergelder gab
es dafür nicht, doch dieser Satz motivierte viele, etwas zu geben, und so wurde
bei einer Sammlung in unserer Stadt der Betrag von 20.000 DM innerhalb weniger
Wochen zusammengebracht. Der Orgelbauer lud auch ein, durch Pfeifenputzen und
-streichen auf andere Weise zur Sanierung zu helfen. So standen dann Tische auf
dem Kirchplatz, es war ein fröhliches Bild.
1993 hatte ich
noch die Scherben der alten Buntglasfenster gefunden und auf dem Fußboden vor
dem Altar zusammengepuzzelt. „Der Gute Hirte“, das war nicht schwer zu
finden. Das andere Bild wußten die Frauen des „Gemeindenachmittags“ noch zu
ergänzen. 1996 konnten diese Fenster wieder eingebaut werden; der Abschluß der
Kirchenrenovierung, für uns ein Zeichen, dass etwas, was kaputt war, wieder
heil werden kann.
Bei den
Kinderkirchenferientagen im Winter wurden 1998 zwei Kirchenfenster bemalt: Petri
Fischzug ist dort dargestellt: „Fahre hinaus, wo es tief ist.“ - „Auf Dein
Wort, Herr, will ich die Netze auswerfen!“. Das Fenster auf der anderen Seite
ist vom Deutsch-Polnischen Jugendaustausch: Die Arche Noah: Wir sitzen alle in
einem Boot. (Eine
besondere Freude für die Polen ist immer das polnisch-sächsische Allianzwappen
auf der Empore, vgl. Band 3, S. 6).
Viele
ließen sich wieder zur Kirche einladen, entdeckten ihre Wurzeln und ihre Heimat
neu. Seit 1997 gehört wieder über die Hälfte der Bevölkerung unserer Stadt
zur Kirchengemeinde. Die erste Frau, die wieder in die Kirche eintrat, rief auf
dem Amt noch einige Aufregung hervor: Bisher war man nur gewohnt,
Austrittsbescheinigungen auszustellen!
Von 1993 bis
1999 fanden jeden Donnerstag Gemeindeabende statt: eine Möglichkeit, sich über
den Glauben und das Leben auszutauschen. Ganz verschiedene Themen wurden
bedacht: aus der Bibel, über Erziehungsfragen, aus der Kirchengeschichte, mit
verschiedenen Filmen.
Einige Dinge
wurden neu- oder wieder eingeführt: Passionsandachten und Jugendkreuzweg,
Weltgebetstag, Oster- und Johannesfeuer auf dem Diest-Hof, Maifeuer mit anderen
Vereinen; Martinstag, Friedensdekade, Nikolaus, Gemeindevollversammlung;
Jugendtage (Ende
November, die Themen: 1993: „Jesus,
light my fire“; 1994: „Mit Liebe
leben“; 1995: „Mit Hoffnung
leben“; 1996: „Come follow
Jesus“; 1997 „Stark sein“;
1998 „Ich liebe
Dich!“; 1999: „WWJD - Was würde
Jesus tun?“; 2.000: „Hinterm
Horizont geht´s weiter“.).
Weiterhin gab es
die Christenlehre, die Frau Katechetin Gasde aus Jessen über viele Jahre, bis
1999, gehalten hat, und die es auch jetzt noch gibt. Daran hielt die Gemeinde
fest, auch, als der Religionsunterricht in der Schule in Seyda wieder eingeführt
wurde (1994-2000).
Diese
„Öffnung zur Gesellschaft“, durch die Wende möglich, war eine der großen
Aufgaben in den 90iger Jahren.
Bei meiner
Ordination kam die Zeitung und fragte mich viele Dinge; schließlich fragte ich
zurück, warum hier in der Zeitung so wenig über die Kirche berichtet würde,
und warum es kein „Wort zum Sonntag“ gebe. Erstaunt wurde zurückgefragt,
was das sei - aber ich konnte auf diese Einrichtung im Fernsehen und in anderen
Zeitungen des Landes verweisen. Schließlich wurde mit dem „Wort zum
Sonntag“ begonnen; selbstverständlich steht es heute in unseren Zeitungen,
und über die Kirche wird wie über andere gesellschaftliche Gruppen berichtet.
Skepsis regte
sich dabei weniger „von außen“, als innerhalb der Kirche: Man war es nicht
gewohnt, solch eine „öffentliche Rolle“ zu spielen. Bisweilen fehlte das
Selbstbewußtsein, der „größte und älteste Verein“ zu sein; manchmal war
es auch die begründete Vorsicht, sich nicht zu überheben. Ähnlich wie bei den
Medien war es auch bei den Überlegungen, den Kindergarten zu übernehmen, was
1994 möglich gewesen wäre.
Eine
gute Zusammenarbeit entwickelte sich mit der Stadt. Gleich zu Beginn meiner
Dienstzeit in Seyda wurde ich in den Stadtrat eingeladen und konnte die
gemeinsamen Anliegen von Stadt und Kirche vorbringen, auch auf die christlichen
Wurzeln verweisen, die unser Gemeinwesen hat.
Mit Unterstützung
der Stadt konnte der Kirchplatz hergerichtet werden. ABM, „Arbeitsbeschaffungs-maßnahmen“ unter Regie der Stadt und später
der „Öko-Tour-Sanierungsgesellschaft“
wurden und werden eingesetzt, um Verschönerungsarbeiten durchzuführen.
Die
Kirchengemeinde versucht, über ihren spezifischen Auftrag hinaus das kulturelle
Leben in Seyda zu bereichern. Jedes Jahr findet ein „Musiksommer
in Seyda“ statt, in diesem Jahr trafen sich einige Interessierte auch zu
einer Orgeltagung anläßlich des 175. Geburtstages des Orgelbauers Conrad
Geissler. Das Lindenfest fand im Jahr 2.000 auch auf dem Kirchplatz statt, und
die Kirchengemeinde brachte sich inhaltlich ein. Zu jedem Weihnachtsmarkt
spielte der Schweinitzer Posaunenchor und die Kirchengemeinde lud zum Mitsingen
der bekannten Weisen ein.
Besonders
verdient um unsere Stadt hat sich Herr Bürgermeister Benesch gemacht. Unter
seiner Verantwortung wurden große Teile der Stadt saniert, viele Gebäude und
fast alle Straßen. Er hat dazu beigetragen, Fördermittel in Höhe von über
sieben Millionen Mark seit 1993 in unser Städtchen zu holen: der Amtshof, die
Bergstraße, die Brauhausgasse, der Markt, die Neue Straße, die Triftstraße:
vieles ist neu geworden; dazu 122 Privathäuser in Seyda sowie die Erschließung
mit Strom, Wasser und Abwasser.
Herr Benesch war
früher Direktor der Seydaer Schule und hat auch den Schulneubau 1981 maßgeblich
mitgestaltet.
Nicht nur für
die Stadt und die Vereine, sondern auch für manchen ganz persönlich suchte er
Wege, gut in die neue Zeit hineinzukommen und ihre Schwierigkeiten zu meistern.
Seine letzte öffentliche
Rede hat er zum Volkstrauertag des Jahres 1999 gehalten anläßlich des
Gedenkens der Opfer von Krieg und Gewalt. 1997 wurde ein Gedenkstein auf dem
Friedhof gesetzt.
„Liebe Mitbürgerinnen und Bürger von Seyda!
Wir gehen mit großen Schritten dem Ende eines
Jahrhunderts, ja eines Jahrtausends entgegen. Es war dies ein Jahrhundert für
unser deutsches Volk und für Europa mit viel Leid.
Vor 81 Jahren ging der 1. Weltkrieg mit über 8
Millionen Opfern zu Ende. Jedoch hat diese Tatsache nicht dazu geführt, den
Zweiten Weltkrieg zu verhindern. Dieser furchtbarste aller Kriege forderte 55
Millionen Tote, darunter 8,5 Millionen Deutsche. In jeder Minute dieses Krieges
verloren 17 Menschen ihr Leben.
In seinen Erinnerungen beschreibt uns Herr Schlüter
aus Naundorf, wie schrecklich diese Zeit war. Für dieses Zeitzeugnis danken wir
ihm.
Wir kommen gerade deshalb heute zusammen, weil wir die
nicht vergessen wollen, die in fremder Erde begraben sind oder die dieses Leid
durchlitten haben. Schritt für Schritt haben und wollen wir uns in Seyda
Erinnerungen schaffen. Mit Unterstützung von Bürgern der Stadt haben wir uns
den Gedenkstein gestaltet. Dafür danken wir nochmals Frau Hähner. Die
Gedenkstelle mit den Soldatengräbern wird liebevoll gepflegt, und es ist
wohltuend zu sehen, daß immer frische Blumen hier stehen. Dafür ebenfalls
herzlichen Dank. Dank auch dem Heimatverein, der im Heimatmuseum die Erinnerung
an diese Zeit in Ausstellungen wach hält...
Ehrung in der so von mir bis jetzt aufgezeigten Weise
kann nicht alles sein und würde der Zukunft nicht gerecht werden. Auf der
Schleifeninschrift der Stadt steht auch „Versöhnung den Lebenden“.
Leider gehört auch heute noch Krieg und Gewalt zum
Alltag. Wir blicken fassungslos auf das Morden im ehemaligen Jugoslawien in den
letzten Jahren, erleben, wie die Zivilbevölkerung in Tschetschenien unter den
russischen Bombardements leiden muß. Niemand weiß, wo als nächstes geschossen
wird.
Wir wollen froh sein, daß man im Zentrum Europas
heute den Problemen mit Verständnis und mehr Toleranz begegnet. Die sich
vollziehende Europäische Einigung zeigt, daß aus Toleranz Kompromißfähigkeit
wächst, welche die Grundlage bildet, daß Probleme mit friedlichen Mitteln lösbar
sind.
Ich wünsche mir, daß diese Einsicht auch unser tägliches
Miteinander noch stärker bestimmen sollte. Ignoranz mit Rechthaberei bestimmen
noch zu sehr den täglichen Umgang.
Wo wollen wir hier in Seyda unseren Beitrag zur Versöhnung
leisten; wollen wir Brücken mitbauen? Ich denke, wir haben dazu gute Ansätze
und auch Regelmäßigkeiten aufgebaut:
- die Partnerschaft zu unserer Partnerschaft Lunden
ist ein Beispiel, wie wir unterschiedliche Probleme zwischen Ost und West sehen
und bewältigen. Gut ist, daß diese Partnerschaft an Breite gewonnen hat.
- die evangelische Kirche unter Federführung von
Herrn Pfarrer Meinhof betreibt einen intensiven Jugendaustausch nach Polen und
auch nach Frankreich. Es ist wichtig, daß gerade die Jugend hier ohne
Vorurteile aufwächst bzw. Vorurteile auf beiden Seiten abgebaut werden. Das ist
nur in mühevoller Kleinarbeit zu erreichen.
- der Moskauer Männerchor kommt regelmäßig zu uns
nach Seyda. Das schafft gute Möglichkeiten, kulturelle und menschliche Werte Rußlands
kennenzulernen. Der evangelischen Kirche danke ich hier für die vielen Aktivitäten.
Wenn wir hier im Kleinen mehr Verständnis und
Toleranz erreichen, dann meine ich, sind wir auf dem richtigen Weg und es erwächst
aus dem Gedenken an die Opfer der Kriege Hoffnung auf Frieden für die
Zukunft.“
In dieser Rede
wenige Tage vor seinem plötzlichen Tod hat der Bürgermeister einmal die
Ereignisse dieses Jahrhunderts zusammengefaßt und Wege aufgezeigt, auf denen
weiterzugehen es sich lohnt.
Tatsächlich
hat die Kirchengemeinde in den letzten Jahren die Gemeinschaft der weltweiten
Christenheit neu und hautnah erfahren können: seit 1993 singt der Moskauer Männerchor
Jahr für Jahr in der Kirche; seit 1994 gibt es den Deutsch-Polnischen
Jugendaustausch mit einer katholischen Gemeinde in Zary. (Eine Besonderheit
dieser Begegnung ist, dass etliche, die heute in Seyda wohnen, in dieser Stadt
oder umliegenden Dörfern geboren sind und als Flüchtlinge hierher kamen.
Gemeinsam konnten in der Kirche zweisprachige Andachten gehalten werden.).
Regelmäßig haben wir auch Kontakt und Besuch aus Lugala, einem Urwaldhospital
in Tansania; auch aus Neuseeland, vom Mururoa-Atoll, wo Frankreich Atomtests
durchführte, hatten wir schon einen Gast. Jugendfahrten führten uns auch nach
Tschechien und Frankreich.
Die
Freundschaft zu den hessischen Gemeinden in Oberseemen und Volkartshain wurde
bereits angesprochen: jedes Jahr findet ein Besuch statt, einmal dort und einmal
hier.
Die Kontakte
nach Mainz zur Auferstehungsgemeinde, von denen ebenfalls schon (bei der
Kirchenrenovierung) die Rede war, entstanden durch meine einmonatige
Vikariatszeit dort. Auch sie werden weiter gepflegt.
Natürlich
ist nicht immer Besuch da. Zum Alltag gehört der beleuchtete Kirchturm (seit
1994), viel Freude bei Taufen, Konfirmationen, Hochzeiten, Goldenen Hochzeiten -
aber auch manches Leid; Sorgen um die Arbeit, die Kinder, die Gesundheit, den
Beruf; schmerzliche Todesfälle.
Die
90iger Jahre unseres Jahrhunderts brachten ein hohes Verkehrsaufkommen mit sich.
Für die Arbeit und für das Einkaufen braucht fast jede Familie mindestens ein
Fahrzeug.
Dieser
Fortschritt führte zu eine großen Zahl tragischer Unfälle, wobei auch junge
Menschen unserer Gemeinde ums Leben kamen.
Zum
Alltag in der Kirchengemeinde gehört unser Gesangbuch, das am 1. Mai 1994 mit
einem Kirchentag in Jessen für den Kirchenkreis eingeführt wurde. In Seyda
haben wir auch ein Liedheft. Zum Gottesdienst waren heute, am 20. Sonntag nach
Trinitatis 2.000, 57 Besucher da. Jeden Morgen gibt es - werktags - eine Andacht
in der Kirche, um 7 Uhr.
Das
Kirchenarchiv konnte aufgearbeitet werden. Frau Irmgard Grützbach aus Ruhlsdorf
schrieb in fleißiger Arbeit in zwei Jahren alle Kirchenbücher ab, so dass wir
sie jetzt digitalisiert haben. Sie ordnete auch das Archiv neu, durch ihre Mühe
ist es möglich, diese Geschichte zu schreiben.
Am
11. April 1997 wurde ein „Christlicher
Verein Junger Menschen“ für Seyda gegründet. Mit ihm soll die kirchliche
Jugendarbeit in die Verantwortung vieler gestellt werden. Zum 1. Juli 1997 wurde
das „Häuschen“ am Kirchplatz 3
von der Stadt gepachtet und begonnen, es in Eigenleistung der Jugendlichen
wieder herzustellen. Doch schon bald meldete sich ein Immobilienhändler, der es
kaufen wollte. Deshalb mußten wir uns entscheiden, am Aschermittwoch 1998 wurde
das Haus mit dem Grundstück erworben. Es ist um 1740 erbaut, ein Armenhaus, und
hat die Jugendlichen in vielen Aufbaustunden beschäftigt.
Am 15. Oktober
1999 bekamen wir den 1. Preis eines deutschlandweiten Wettbewerbs „Einen
CVJM gründen“ überreicht, 5.000 DM, durch CVJM-Generalsekretär Parzany.
Im
Sommer 1999 wurde die Pfarrscheune ausgeräumt und mit Beton ausgegossen und
konnte seitdem für zahlreiche Veranstaltungen, insbesondere für Kinder und
Jugendliche, genutzt werden.
Im Kirchplatz 2
wohnten in den 90iger Jahren Mitarbeiter des Diest-Hofes, die viel in
Eigenleistung zum Erhalt des Hauses beitrugen. Jetzt steht das Haus seit einem
Jahr leer, wir hoffen, einen kirchlichen Mitarbeiter im Ruhestand zu finden, der
dort einzieht und die Gemeindearbeit unterstützen kann.
Der
Erwerb des Häuschens am Kirchplatz 3 war zum ersten Mal seit Jahrzehnten wieder
eine räumliche Erweiterung der kirchlichen Arbeit in Seyda - nachdem es über
so viele Jahre „Rückzug“ gegeben hatte.
Im Sommer des
Jahres 1998 wurde uns eine CD-ROM geschenkt, in der unsere Kirchengemeinde
vorgestellt wird und die Orgel zu hören ist; seit Beginn des Jahres 1999 ist
die Kirchengemeinde im Internet präsent. Zum Christfest 1999 bekamen wir drei
Computer geschenkt, die nun in der „Denkfabrik“
des CVJM-Hauses genutzt werden. Der CVJM kann im Auftrag der Stadt die Homepage
von Seyda gestalten: „www.seyda.de“.
Gute
Kontakte gibt es weiterhin zur katholischen Gemeinde. Insbesondere die jährlich
stattfindenden Kinderzeltlager, „Kinderkirchenferientage“,
nutzen das Material der „RKW“, was
uns die katholische Ordensschwester aus Elster mitbringt. Birken kommen zu
Fronleichnam aus Seyda, dafür ein Weihnachtsbaum aus Elster; die Sternsinger
treten zum Gemeindenachmittag im Pfarrhaus auf - so gibt es vielfältige
Begegnungen. Angefangen
hat es einmal mit der Kirchenreinigung 1993: „Der
gehört den Katholiken!“ rief es von der Empore herunter, als ich einen
Schrank öffnen wollte. Natürlich habe ich dennoch hineingeschaut - und fand
alte Gesangbücher, Liturgiezettel (noch lateinisch, vor dem Konzil),
Caritas-Sammlungskarten von 1955, die Pfeife und den Tabak vom Priester, alles
unberührt über viele Jahre, ein Zeichen dafür, dass hier in den 50iger Jahren
regelmäßig katholische Gottesdienste gefeiert worden sind. Das schaffte ich
zusammen mit einem großen Marienbild nach Elster zur Katholischen Kuratie. Der
Martinstag in Seyda 1993, der erste nach längerer Zeit, wurde von Firmlingen
und Konfirmanden gestaltet.
1994 kam eine ältere
katholische Frau: „Ihnen kann ich ihn
geben, Herr Pfarrer!“ - und überreichte einen Kirchenschlüssel unserer
Kirche. Es ist der einzige, den wir nun noch im Original haben, mit einem Stern
im Bart: alle anderen waren inzwischen verlorengegangen und wurden durch
Duplikate ersetzt.
Der
Pfarrbereich wurde 1999 einmal kurzzeitig um Linda und Neuerstadt erweitert,
seit dem 1. Juli 2.000 gehören Naundorf und Mark Friedersdorf dazu, gemeinsam
mit Lüttchenseyda und Schadewalde, Gadegast, Mellnitz, Morxdorf und Mark
Zwuschen, Zemnick und Wolfwinkel. Zwischen den Gemeinden gibt es vielfältige
Verbindungen.
1999 gab es neue
Stellenplanentwürfe, in denen die Pfarrstelle Seyda nicht mehr vorkam. Der
Gemeindekirchenrat reagierte darauf, und so konnten diese Pläne revidiert
werden, jedoch mit der Aussicht, dass sich der Bereich bald noch vergrößern
wird.
Ein Schatz der
Kirchengemeinde ist - nicht nur deshalb - die Schar der ehrenamtlichen
Mitarbeiter - im Kindergottesdienst, bei der Jugendarbeit, zur Vorbereitung des
Gottesdienstes, bei der Pflege der Räumlichkeiten, dem Treffen des
Gemeindenachmittages, der Hilfe bei der Beköstigung und Unterbringung der
Besucher, im Gemeindekirchenrat - und an vielen anderen Stellen.
Da gibt es
wichtige kleine, alltägliche Dienste, aber bisweilen auch Besonderes: So konnte
zum Beispiel die „Straßensammlung“ einmal anders durchgeführt werden -
unterstützt durch eine Benefizvorführung der Zirkusfamilie Hein. Beim
Regionalgottesdienst in Seyda am 8. Oktober 2.000 mit den Gemeinden der Region
Holzdorf-Schweinitz-Jessen-Seyda flogen bunte Luftballons in den Himmel, mit
einer Botschaft und dem Bibelwort: „Gott,
der Herr, denkt an uns und segnet uns.“ (Psalm
115,12).
Nachwort
Innerhalb
von wenigen Tagen, meistens in den „Randstunden“, habe ich nun diese
Geschichte fertigstellen können. Das mag manche Flüchtigkeit entschuldigen -
schließlich gibt es andere, dringendere Aufgaben für mich, als eine Chronik zu
schreiben. Dennoch bin ich für jede Kritik dankbar und werde versuchen, sie in
einer späteren Auflage zu berücksichtigen.
Ich bin kein
Historiker - deshalb war ich frei davon, alle historischen Details zu bringen. Für
mich ist dies eine „Glaubensgeschichte“:
„Himmel und Erde werden vergehen“, sagt Jesus,
„aber meine Worte vergehen nicht.“ (Mt
24,35). Es fasziniert mich, dies ein wenig
nachverfolgen und entdecken zu können, in diesen tausend Jahren. Gleichzeitig möchte
ich gern aufzeigen: Das sind unsere Wurzeln, da kommen wir her. So haben unsere
Väter und Mütter geglaubt und gelebt.
Die Betrachtung
der Geschichte kann uns vor mancherlei Hochmut bewahren, wenn wir das städtische
und kirchliche Leben vergangener Jahrhunderte sehen. Vier Glocken läuteten
einmal von unserem Kirchturm!
Sie möchte uns
vor allem aber Mut machen! Wenn wir meinen, wir hätten etwa schlimme Zeiten
heutzutage, so können wir darauf schauen, wie unsere Vorfahren große und größte
Lasten im Vertrauen auf Gott tragen konnten. Wir werden einmal nicht mehr hier
sein, die Zeiten ändern sich: aber die Gemeinde Gottes wird da sein, „die Pforten der Hölle werden sie nicht überwinden“. (Mt
16,18).
Vielen ist Dank
zu sagen, die zu dieser Geschichte beigetragen haben. Der
„Gemeindenachmittag“ wurde schon oft erwähnt, auch Frau Grützbach ist
schon genannt worden. Herr Max Herbert Rietdorf besorgte mir die „Heimatgrüße“
und viel Material, Frau Bärbel Schiepel hat reichlich zur Erforschung der
Stadtgeschichte beigetragen, ihr Buch „Seyda
- Ein Spaziergang durch die Vergangenheit“ ist sehr zu empfehlen.
„Die Güte des Herrn ist´s, das wir nicht gar aus
sind
- seine Barmherzigkeit hat noch kein Ende.“
(Klgl
3,22).
Gott segne
Seyda!
Liste der
Superintendenten, Diakone und Pfarrer, die in Seyda wohnten
Die
Diakone waren gleichzeitig Pastoren für Mellnitz und Morxdorf.
1527
bis 1540 Bartholomäus Rieseberg
1541
bis 1544 Diakon Casparus Rot
1553
bis 1592 Oberpfarrer und Superintendent Casparus Rot
1562
bis 1572 Diakon Andreas Örtel
1635/36
Superintendent Mühlig
bis
1719 Superintendent Andreas Gormann
1709
bis 1715 Diakon Peter Paul Koch
1723
Diakon Augusti Gibbert
1719
Paul Gottlieb Hoffmann (?)
(vgl.
dazu das Seydaer Kirchenarchiv, Findbuch 165, 3: Schreiben vom 1. November 1719
aus Wittenberg vom „Consistorii alda
Verordnete
an
Paul Gottlieb Hoffmannen, Pfarrer und Superintendenten in Seyda“)
1720?
bis 1725 Superintendent Arnold (?: 1725 Dorothea Maria Arnold heiratet, der
Stiefvater ist Superintendent in Seyda)
1725/26
bis 1770 Superintendent Johannes Zacharias Hilliger
1729
stirbt Johann Christoph Scheere, Diakon (auch „Kaplan“), in Morxdorf beerdigt
1732
stirbt Johann Jacobi, Diakon in Seyda
1734
Sup. Hilligers 36 Monate alte Tochter wird in der Kirche beigesetzt
1736
Diakon Heinrich Henniger
1739
Diakon Johann Gottlob Medim wird in Mellnitz beerdigt
1740
Diakon Johann Gottlieb Horweig heiratet in Seyda
1743
bis 1746 Diakon Christoph Gotthelf Schneider (Schmieder)
1750-52
Diakon Gottlob Samuel Gliege, „Schneider
und Substitut in Seyda“
1759
Diakon Augustin Peter, 17 Jahre
(?), in der Kirche in Morxdorf beigesetzt
1762
bis 1769 Diakon Christoph Arnold
1770
Superintendent Johannes Zacharias Hilliger gestorben (Bild in der Kirche), mit
77 Jahren, 45 Jahre Pastor in Seyda
1771
Superintendent Medicke
1771
Frau des Sup. Medicke in Kirchengruft begraben
1781
(Diakon) Carl Gottlob Burckhard, „Caplan
in Seyda“, in Mellnitzer Kirche begraben
1784
bis 1789 Superintendent Christian Gottfried Kuttner,
1786
Diakon Gotthelf Bernhard Jabin heiratet. Er war dann von 1788 bis 1811 Pfarrer
in Stolzenhain, dort ist sein selbstgeschriebener Lebenslauf noch vorhanden; „ein
großer Blumenfreund, der den Kirchgängern aus seinem lumengarten schöne
„Husche“ reichte und mit jedermann freundlich war“ (Vgl. Die
Geschichte der Kirche in Linda, Seyda 2.000).
1790
bis 1795 Diakon Gottfried Heinrich Oertel
1796
bis 1801 Diakon Traugott Lebrecht Richter
1798
Kantor und Lehrer Gotthelf Benjamin Ludwig heiratet, er stirbt 1832 als Pfarrer
in Mügeln
1803
Diakon Johann Gottlob Horst heiratet und stirbt
1804
Diakon Andreas Gustav Patau
1807
Superintendent Johann Wilhelm Hilliger stirbt im Alter von 71 Jahren (Grabmal
neben der Kirche)
1810
Diakon Joseph Ehregott Jacobi heiratet, 1816 wieder erwähnt („Pastor
für Mellnitz und Morxdorf“)
1819
Diakon Carl Adolph Lindemann heiratet, bis 1822 erwähnt
1830
bis 1833 Diakon Ambrosius Ziegler
1833
bis 1841 Diakon Carl Gottlieb Moritz Stich, heiratet eine „Ruperti“
1837
Superintendent Carl Wilhelm Theophilus Camenz stirbt im Alter von 67 Jahren
1843
bis 1848 Diakon Oscar Wilhelm Lebrecht Nietzsche (auch „Pfarrer für Mellnitz und Morxdorf“)
1848
bis 1851 Superintendent Parreidt
1858
bis 1864 Diakon Ernst Ehregott Ferdinand Müller
1852
bis 1871 Superintendent Friedrich Christoph Jacobi
(seit
1852 besorgt der Sup. auch die Liturgie beim Gottesdienst, bis dahin machte das
der Diakonus).
1871
bis 1876 Diakon Dr. Benoni Max Georg Mornburg
1877
Superintendentur aufgelöst, Superintendenten werden „Oberpfarrer“
1878
bis 1883 Diakon Georg Gotthold Jentzsch
1878
Oberpfarrer Johann Friedrich August Rietz
1880
Oberpfarrer Johann Friedrich August Rietz heiratet in Seyda, 1884 noch erwähnt
1887
bis 1902 Diakon Friedrich August Cremer (stiftete Altarbibel für Morxdorf)
1899
(Superintendent) Carl Friedrich Albert Glaser erwähnt
1904
bis 1913 Diakon Otto Carl Heinecke, heiratet die Tochter des Diakonenvorgängers
Cremer, großer Heimatfreund, geht dann nach Berlin
1913
bis 1922 Oberpfarrer Dörge
1915
Pastor Ludwig Wittkopp (später in Elster)
1926
bis 1931 Dr. phil Theodor Graf, seine Tochter ist 1901 in Rumänien geboren
1931
bis 1932 Vakanzvertretungen
1932
Pfarrer Walther Mücksch
(Hochzeit
August 1932 in Seyda; als Oberkonsistorialrat i.R. 1993 verstorben, Mitglied der
Bekennenden Kirche)
1935
Hermann Heinrich Ostermann, im Krieg gefallen (Feldprediger in Rumänien)
1936
unbesetzt, Verwaltung durch Prädikant Hagendorf
1953
inhaftiert, 1954 Redeverbot, Flucht nach Westdeutschland, verstorben 1998
1945
(wenige Monate) Pastor Lent, Flüchtling, geht im Oktober 45 nach Bülzig,
verstorben 1984
1955
Helmut Leopold Meurer Diakon und Anstaltsleiter in der Arbeiterkolonie
1954
bis 1962 Vikar, später Pfarrer Rufried Eberhard Mauer, jetzt im Ruhestand in
Magdeburg
1963
bis 1975 Pfarrer Günther Schlauraff, nach Kühndorf in Thüringen verzogen
1978
bis 1987 Vikar und Pfarrer Roland Wolfram Schaeper, ging nach Röbel an der Müritz,
später Religionslehrer in Neubrandenburg
1989
bis 1992 Pfarrer Dieter Podstawa, mußte wegen Pflegefall der Frau Seyda
verlassen (Versetzung in den Wartestand), in Wittenberg, verstorben im Dezember
1998.
1993 bis 2000 Pfarrer Thomas Meinhof (Hochzeit August 1997 in Seyda)
Quellen- und
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Zeitschrift
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Anhalt, 35. Jahrgang, 1939.
Vater Unser im Himmel!
Geheiligt werde Dein Name!
Dein Reich komme!
Dein Wille geschehe,
wie im Himmel, so auf Erden!
Unser tägliches Brot gib uns heute!
und vergib uns unsere Schuld,
die auch wir vergeben unseren Schuldigern!
Und führe uns nicht in Versuchung
sondern erlöse uns von dem Bösen!
Denn Dein ist das Reich
und die Kraft
und die Herrlichkeit
in Ewigkeit!
Amen.