Die

Geschichte

der

Kirche

in

Seyda.

 

 

 

 

 

7. Der Umsturz und die Wende (1945-2.000)

 

 

 

 

 

Furchtbar schlug die Gewalt, die in deutschem Namen über so viele Völker gekommen war, zurück. Im April 1945 marschierte die Rote Armee in Seyda ein. Sie kam über Jüterbog und Dahme. Zahlreiche Flüchtlingstrecks seit Herbst 1944 hatten sie angekündigt und schreckliche Grausamkeiten berichtet, die nun auch in Seyda Wirklichkeit wurden.

 

Viele waren schon vor der Besetzung Seydas geflohen, in die Wälder oder noch weiter weg. Doch wohin? Auf der anderen Seite der Elbe standen schon die Amerikaner.

Etliche hatten Selbstmord begangen. Ihre Hoffnungen waren zerstört, sie sahen keinen Ausweg mehr.

 

Zuvor waren die letzten Reserven der deutschen Wehrmacht mobilisiert worden. Auch 16jährige und Alte wurden in Schnellkursen ausgebildet oder mußten mit Hand anlegen, um Barrikaden zu bauen.

So marschierten die Männer des Reichsarbeitsdienstlagers Gräfenhainichen nach Lindwerder und wurden dort nach einer Ausbildung von einigen Tagen in die Wehrmacht eingegliedert. In der Nacht vom 21. auf den 22. April bekamen sie den Befehl zum Abmarsch aus Lindwerder, sie zogen durch Seyda in der Nacht und lieferten sich in den Morgenstunden in Kropstädt schwere Kämpfe mit den Russen.

Am Ortsausgang von Seyda, gegenüber des Schützenhauses, war eine Kanone aufgebaut worden. Jedoch gingen drei mutige Männer, Bürgermeister Kaatz, Christoph Kunze und Karl Käßner, den einmarschierenden russischen Truppen mit einer weißen Fahne entgegen. Sie mußten alle drei ihre Stiefel abgeben.

In Seyda selbst fanden keine Kämpfe statt. Es fielen auch keine Bomben, in der Försterei aber gab es einen Luftschutzkeller. Jedoch waren Tiefflieger schon seit vielen Tagen über Seyda und setzten die Bevölkerung in Angst und Schrecken.

Ganz junge Soldaten wurden noch in den Tod geschickt. Sie stiegen mit leichten Flugzeugen auf und hatten praktisch keine Chance. In Schadewalde stürzte ein Flugzeug ab, ein Mann wurde getötet. Auch im Wald bei Morxdorf liegt ein Soldat in seinem Flugzeug begraben.

Die Russen marschierten am 22. April ein. Als der Pastor Lent früh um 6 Uhr vom Milchholen bei einem Bauern wiederkam, sagte er seiner Frau: „Die Russen sind da.“ Auf dem Kirchplatz lagen an diesem Tag Unmengen von Kleidungsstücken: meist deutsche Uniformteile, die keiner mehr im Haus haben wollte.

 

Als die Russen ihre Gefangenen aus Gentha holen wollten, wurden sie von Hitlerjugend aus Wittenberg angegriffen, die sich in Lüttchenseyda verschanzt hatten. Sie erschossen einen russischen Offizier an der Straßenkreuzung. Daraufhin wurde auch einer von den „Hitlerjungen“ erschossen. Die Russen verließen Lüttchenseyda, da drehte sich noch einmal einer um und sah einen Jungen, daraufhin wurde Lüttchenseyda beschossen. Besonders das erste Gehöft, die Gaststätte Letz, wurde stark getroffen.

Um so erstaunlicher, dass Leute, die es damals erlebt haben, sagten: Die Deutschen hätten in Rußland bei einer ähnlichen Situation das ganze Dorf niedergebrannt und alle erschossen! „Allein in Weißrußland wurden von 9.200 Dörfern 4.885 während des Krieges verbrannt, 627 von ihnen mitsamt der Bevölkerung, welche man vorher in einer Scheune, einer Kirche o. ä. zusammengetrieben hatte.“ (Nolte, Hans-Heinrich: Kleine Geschichte Rußlands, S. 256).

Viele der durch jahrelange Propaganda fanatisierten Jungen fanden den Tod. Andere wurden nach Rußland in Gefangenenlager geschleppt.

 

Wochenlang herrschte in Seyda Anarchie. Die Besatzer plünderten und mißhandelten. Es war „Gesetz“, dass die russischen Frontsoldaten in den ersten vierzehn Tagen vergewaltigen und mitnehmen konnten, was sie wollten.

Diese Zeit nannte man die „Russenzeit“. Sogar die Uhren wurden zwei Stunden vorgestellt, auf die russische Zeit eben.

 

Zu der nackten Gewalt und dem Mangel an Nahrungsmitteln kam in fast allen Häusern die Trauer um liebe Menschen. 77 Männer waren gefallen - eine geschätzte Zahl, den offiziell waren sie viele Jahre „Kriegsverbrecher“, ihrer durfte nicht öffentlich gedacht werden. Bei vielen war das Schicksal auch ungewiß: Waren sie noch am Leben? In Gefangenschaft? Manches Schicksal klärte sich erst nach über 50 Jahren auf! Wer wiederkam - einer erst nach 10 Jahren, 1955! - mußte über das schweigen, was er erlebt hatte. Erst nach der Wende wurde frei darüber erzählt. Ein ergreifendes Buch über seine Erlebnisse in der Gefangenschaft hat Erhard Schlüter aus Naundorf geschrieben. Mit 17 Jahren mußte er noch in den Krieg ziehen und kam 1949 aus Rußland zurück.

 

Nicht nur die Soldaten, sondern auch alle, die eng mit der alten Macht verbunden waren, dafür gehalten worden oder gar verleumdet und gegriffen wurden, kamen in Lager. Ein berüchtigtes in unserer Gegend war Mühlberg. Auch das ehemalige KZ Buchenwald wurde bis 1948 als Internierungslager weitergeführt. Die meisten kamen nicht zurück. Auch der oft erwähnte, verdienstvolle Heimatforscher und Lehrer Oskar Brachwitz ist am 25. März 1946 in Buchenwald gestorben!

 

Die Familie Gresse in der Wittenberger Straße wurde erschossen, weil sich ein deutscher Soldat bei ihnen versteckt hatte.

Etliche Häuser wurden besetzt, manche ganz zerstört. Die sowjetische Kommandantur zog in das Haus der Stadtverwaltung ein, über der Tür wurde ein roter Stern angebracht. (Heimatkurier März 1995, 9, Bärbel Schiepel).

Die Mühle Huth wurde beschossen, das Wohnhaus zerstört.

 

Durch die vielen Flüchtlinge herrschte eine große räumliche Enge. Die Bevölkerungszahl Seydas war von 1.600 (1945) auf 1.704 (1946; am 29.10.: 737 männlich; Gemeindebuch Sachsen-Anhalt 1948) und 2.075 (1947) gestiegen, durch die Aufnahme von Umsiedlern, die noch bis 1948 kamen. (Heimatbuch 52).

74 Flüchtlingskinder besuchten die Seydaer Schule. Die Flüchtlinge hatten oft alles verloren.

Etliche Flüchtlinge kamen aus Gebieten, die katholisch geprägt waren, zum Beispiel in Schlesien oder im Sudetenland. Sie bildeten in Seyda eine katholische Gemeinde. Regelmäßig wurde in unserer Kirche Messe gehalten, auch die Firmung gefeiert. Ein eigener Altar wurde dazu aufgestellt, mit einem Marienbild. Viele Katholiken, die hier ja keine Heimat hatten, zogen weiter, mancher heiratete in Seyda.

Eine besondere Tragik war, dass deutsche Flüchtlinge aus Rußland wieder zurück „in ihre Heimat“, das hieß aber in Arbeitslager in Sibirien, mußten. Das betraf zum Beispiel eine junge Lehrerin, die schon an der Schule in Seyda tätig war. Sie traf ein besonders hartes Schicksal. Nur wenige von ihnen konnten nach der Wende nach Deutschland zurückkommen.

 

In den letzten Kriegstagen gingen Züge von KZ-Häftlingen an Seyda vorbei und durch Seyda. Wer nicht mehr konnte, wurde am Wegesrand erschossen. Einer konnte fliehen. Er stellte sich tot und klopfte dann in Schadewalde an die Türen. Eine Frau nahm ihn - unter Lebensgefahr! - auf und versteckte ihn, bis der Krieg zuende war. Der Mann war Jude, ein Arzt. Sein Name: Dr. Weidauer. Später praktizierte er in Seyda, bis er 1960 aus politischen Gründen inhaftiert wurde: in Bautzen, 6 ½ Jahre.

 

Wie stand es um die Kirchengemeinde? Der Pfarrer war selbst noch unter Hitler eingesperrt worden, sein Schicksal ungewiß. Das Pfarrhaus war auch mit Flüchtlingen bewohnt. Pastor Lent (auch Flüchtling), nahm im Pfarrhaus Quartier mit seiner Frau und drei Kindern, das 4. wurde im Juni geboren (da waren sie dann bei der Familie Deutsch untergebracht). Dieser Pastor begleitete die Gemeinde in den schwersten Tagen, die Seyda in diesem Jahrhundert gesehen hat. Er beerdigte viele, die sich aus Angst das Leben genommen hatten, versuchte Trost zu spenden und Mut zu geben. Es wird berichtet, dass der Pastor immer die Kuhköpfe, die die Russen vom Schlachten übrig ließen, auseinandernahm und  sie an Familien verteilte, die nichts zu essen hatten.

Er war auch sonst besonders mutig! Einmal kam er zum Gottesdienst nach Zemnick und erfuhr dort von einer großen Aufregung: Die Russen hatten das Vieh weggetrieben! In Zemnick gab es bis 1945 eine bedeutende Herdbuch-Rinderzucht. Der Pastor fuhr sofort zur Kommandantur nach Seyda. Die Rinder kamen umgehend zurück! Das haben die Zemnicker nicht vergessen. Pastor Lent zog im Oktober 1945 nach Bülzig. Der Pfarrer dort hatte sich und seine Frau sowie seine drei Töchter und das Enkelkind vor Einmarsch der Russen umgebracht. Familie Lent blieb dort bis 1948 und ging dann ins Brandenburgische. Er war 1945 aus Landsberg an der Warthe in der Ostmark mit einem Lastkraftwagen bis nach Jessen gekommen und ist auch Mitglied der Bekennenden Kirche gewesen. 1984 starb er. Just in den Tagen, als diese Zeilen geschrieben wurden, besuchte uns seine Frau mit der Tochter, die hier im Juni 1945 geboren wurde, und bestätigte die Nachrichten, die die Gemeinde über ihren Mann im Gedächtnis behalten hat.

 

Von mancher Glaubenserfahrung wird aus diesen Tagen berichtet. Bibelverse, Lieder haben Kraft gegeben. „Solls uns hart ergehn / laß uns feste stehn /und auch in den schwersten Tagen /niemals über Lasten klagen. Denn durch Trübsal hier / führt der Weg zu Dir.“ (aus dem bekannten Lied: „Jesu, geh voran“, was üblicherweise zur Taufe, zur Konfirmation und zur Hochzeit gesungen wurde, Evangelisches Gesangbuch Nr. 391).

Für viele taten sich aber auch große Abgründe auf. Wie konnte Gott das zulassen?

Man hörte mit Grauen und Entsetzen von den Gräueltaten, die Deutsche begangen hatten, in den Konzentrationslagern, im Krieg. Manche konnten es kaum glauben, andere hatten eine Ahnung gehabt.

Die Evangelische Kirche in Deutschland verfaßte im Oktober 1945 ein „Schuldbekenntnis“, in dem es heißt: „Mit großem Schmerz sagen wir: Durch uns ist unendliches Leid über viele Völker und Länder gebracht worden... wir klagen uns an, daß wir nicht mutiger bekannt, nicht treuer gebetet, nicht fröhlicher geglaubt und nicht brennender geliebt haben.“

(Stuttgarter Schuldbekenntnis, In: KuThGiQ IV/2, S. 162f.).

In einem „Darmstädter Wort“ (1947) heißt es noch deutlicher: „Wir sind in die Irre gegangen, als wir begannen, den Traum einer besonderen deutschen Sendung zu träumen, als ob am deutschen Wesen die Welt genesen könne. Dadurch haben wir dem schrankenlosen Gebrauch der politischen Macht den Weg bereitet und unsere Nation auf den Thron Gottes gesetzt. - Es war verhängnisvoll, daß wir begannen, unseren Staat nach innen auf eine starke Regierung, nach außen allein auf militärische Machtentfaltung zu begründen. Damit haben wir unsere Berufung verleugnet, mit den uns Deutschen verliehenen Gaben mitzuarbeiten im Dienst an den gemeinsamen Aufgaben der Völker...

Wir sind in die Irre gegangen, als wir begannen, eine „christliche Front“ aufzurichten gegenüber notwendig gewordenen Neuordnungen im gesellschaftlichen Leben der Menschen. Das Bündnis der Kirche mit den das Alte und Herkömmliche konservierenden Mächten hat sich schwer an uns gerächt. Wir haben die christliche Freiheit verraten, die uns erlaubt und gebietet, Lebensformen abzuändern, wo das Zusammenleben der Menschen solche Wandlung erfordert. Wir haben das Recht zur Revolution verneint, aber die Entwicklung zur absoluten Diktatur geduldet und gutgeheißen...

Wir sind in die Irre gegangen, als wir meinten, eine Front des Guten gegen die Bösen, des Lichtes gegen die Finsternis, der Gerechten gegen die Ungerechten im politischen Leben und mit politischen Mitteln bilden zu müssen. Damit haben wir das freie Angebot der Gnade Gottes an alle durch eine politische, soziale und weltanschauliche Frontenbildung verfälscht und die Welt ihrer Selbstrechtfertigung überlassen...

Wir sind in die Irre gegangen, als wir übersahen, daß der ökonomische Materialismus der marxistischen Lehre die Kirche an den Auftrag und die Verheißung der Gemeinde für das Leben und Zusammenleben der Menschen im Diesseits hätte gemahnen müssen. Wir haben es unterlassen, die Sache der Armen und Entrechteten gemäß dem Evangelium von Gottes kommendem Reich zur Sache der Christenheit zu machen...

Indem wir das erkennen und bekennen, wissen wir uns als Gemeinde Jesu Christi freigesprochen zu einem neuen, besseren Dienst zur Ehre Gottes und zum ewigen und zeitlichen Heil der Menschen. Nicht die Parole: Christentum und abendländische Kultur, sondern Umkehr zu Gott und Hinkehr zum Nächsten in der Kraft des Todes und der Auferstehung Jesu Christi ist das, was unserem Volk und inmitten unseres Volkes vor allem uns Christen selbst nottut...

Wir haben es bezeugt und bezeugen es heute aufs neue: ,Durch Jesus Christus widerfährt uns frohe Befreiung aus den gottlosen Bindungen dieser Welt zu freiem, dankbarem Dienst an seinen Geschöpfen.´ (Barmer Theologische Erklärung, vgl. Band 6 dieser Geschichte, S. 32f). Darum bitten wir inständig: Laßt die Verzweiflung nicht über Euch Herr werden, denn Christus ist der Herr. Gebt aller glaubenslosen Gleichgültigkeit den Abschied, laßt Euch nicht verführen durch Träume von einer besseren Vergangenheit oder durch Spekulationen um einen kommenden Krieg, sondern werdet Euch in dieser Freiheit und in großer Nüchternheit der Verantwortung bewußt, die alle und jeder einzelne von uns für den Aufbau eines besseren deutschen Staatswesens tragen, das dem Recht, der Wohlfahrt und dem inneren Frieden und der Versöhnung der Völker dient...“ (KuThGiQ IV/2, 163f; „Wort des Bruderrates der Evangelischen Kirche in Deutschland zum politischen Weg unseres Volkes“, aufgesetzt von Karl Barth, Martin Niemöller und anderen.).

 

Aus der „Arbeiterkolonie“ wird berichtet:

„1945 erlitt die Einrichtung große Verluste (Wert von 88.000 Mark), die über viele Jahre einen Mangel an den notwendigsten Dingen verursachten. Nur durch Spenden und Kollektengelder der Inneren Mission konnte die Arbeit weitergeführt werden. Durch die veränderten Verhältnisse gab es keine Arbeitslose mehr, wohl aber viele Alte und Umsiedler ohne Angehörige, die hier eine Unterkunft und Beschäftigung fanden. Das Altersheim, als Behelfsaltersheim geschaffen, wurde 1948 zum Hauptaufgabengebiet. Außerdem wurden Straffällige aufgenommen, um ihnen wieder festen Halt zu geben und Menschen mit geistigen und körperlichen Schwächen, die allein nicht mehr fertig wurden. Umbauten zu kleineren Zimmern wurden vorgenommen. Die damaligen Pflegesätze und sonstigen Einnahmen deckten nur notdürftig die laufenden Ausgaben, so daß für Anschaffungen nichts blieb. Da die Altersheimbewohner im Laufe der Jahre pflegebedürftig wurden und der Bedarf in der Betreuung von Menschen mit geistiger Behinderung wuchs, änderte sich der Charakter der Einrichtung.“ (Michael Lange, Leiter der Einrichtung 1984-2000, im Heimatbuch, 54).

 

In der Schule wurde die „Entnazifizierung“ durchgeführt: Die Lehrer müssen alle alten Schulbücher einsammeln, in einem Raum im Amtshaus verschließen und den Schlüssel zur Kommandantur nach Herzberg schicken.

Am 22. April 1945, als die Russen in Seyda einrückten, wurden 381 Schulkinder gezählt. 1946 werden bei 358 Schulkindern 5 „Neulehrer“ eingestellt, nach einem 8monatigen Lehrgang im Schuldienst.

„Mit Zuschriften vom 27.9.47, 8.10.47, 22.10.47 und Dez. 47 wurden der hiesigen Schule für bedürftige Kinder vom Landrat zugeteilt: 4 Paar Holzsandalen, 11 Paar Igelittschuhe, 80 Paar Kinderstrümpfe, 20 Paar Mädchenhemden und 10 Paar Igelittschuhe.“

Im Oktober 1947 darf Englisch unterrichtet werden (die Sprache der anderen Besatzungsmächte!). Es besteht reges Interesse, im Dezember aber wird die Erlaubnis wieder entzogen. Ab Januar 1948 gibt es Russischunterricht, verpflichtend für alle - bis 1990.

Zum 1. April 1948 werden täglich 275 Weizenbrötchen an die Kinder der „Nichtselbstversorger“ ausgegeben, berichtet die Schulchronik.

Das Schild über der Tür „Mk 10,14“ (Jesus: „Laßt die Kinder zu mir kommen!“) war schon zu Hitlers Zeiten zugehängt worden. Nun aber hingen dort neue Losungen, und an den Wänden im Klassenraum fanden sich Bilder von Stalin, Mao, später von Lenin, Ulbricht, Honecker.

 

Deutschland war in vier Besatzungszonen geteilt. 1949 verabschiedete der „Bundestag“ das Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland, was für die drei Westzonen Gültigkeit hatte; aus der Sowjetischen Besatzungszone wurde am 7. Oktober die DDR: „Deutsche Demokratische Republik“.

Über den Charakter des neuen Staates gibt auch die Schulchronik Auskunft:

„Am 15. und 16. Mai 1949 fand die Wahl der Delegierten zum 3. Volkskongreß in Seyda und der Ostzone statt. Die Wahl wurde in der Schule eingehend behandelt. Die Schüler der oberen Klassen verfaßten Aufsätze und Niederschriften, die von den Lehrern korrigiert und den Eltern zur Unterschrift vorgelegt wurden. (Auftrag)

In Seyda hatte die Wahl folgendes Ergebnis:

Sonntag, den 15. Mai 1949

Seyda: zur Wahl erschienen:

Erwachsene: 1070 von 1070 Wahlberechtigten.

Jugendliche 56 von 61 Wahlberechtigten

Ja-Stimmen: Erwachsene 596, Jugendliche 34

Nein-Stimmen: Erwachsene 376, Jugendliche 12.

Ungültige Stimmen: Erwachsene: 108, Jugendliche: 10.

Nach angeordneter Revidierung der Stimmen nach Wahlschluß am 16.5.49 ergab sich folgendes Ergebnis:

Ja-Stimmen: 692      Nein-Stimmen: 434                  Ungültig: 40.

...

Am 21.12.49 fand eine Feier anläßlich des 70. Geburtstages J.W.Stalin statt.

...

Am 8. Mai 1950 wurde zum 1. Male der Tag der Befreiung vom Hitlerfaschismus festlich begangen. Alle Lehrer und die Schüler der 5. bis 8. Klasse versammelten sich um 10 Uhr bei Pätz (Gaststätte auf dem Markt) zu einer Feierstunde. Der Raum war würdig ausgeschmückt. Eingeladen waren: FDJ, Freunde der neuen Schule, Ausschuß der Nationalen Front. Niemand der Eingeladenen war erschienen.

Am 15.10.1950 Wahl. Wahlbeteiligung 99,14%. 100% davon gaben ihre Stimme den Kandidaten der Nationalen Front.

...

Am 9.3.1953 fand im Saal von Braddatsch (Wucke) eine Trauerfeier für den am 5.3. gestorbenen J.W. Stalin statt.

...

17.10.1954 Volkswahlen. Die Wahlen waren ein großer Erfolg.“

 

Wieder gab es keine Freiheit, keine Demokratie!

Die neuen Machthaber sahen in der Kirche keinen Verbündeten, sondern ein Bollwerk des Alten, Überkommenen. 1948 wurde der Pfarrer aus der Schule verwiesen, Religionsunterricht (obwohl nach der Verfassung bis 1967 erlaubt), durfte nicht mehr in der Schule stattfinden.

 

Mit Unterstützung der russischen Besatzungsmacht kamen in der „Ostzone“ Kommunisten an die Macht. Sie wollten eine ganz neue Gesellschaft aufbauen, in der kein Krieg mehr sein würde und die „Ausbeutung des Menschen durch den Menschen“ beseitigt sein sollte. Jedoch waren die Mittel, zu diesen Zielen zu kommen, oft auch sehr brutal. Personenkult, Arbeitslager und Repression, Einschränkungen der persönlichen Freiheit gehörten dazu. Diese „marxistisch-leninistische Ideologie“ sah in der Kirche meist die Verbündeten der alten Macht und versuchte ihren Einfluß mit allen Mitteln zurückzudrängen. Man ging von einem „Absterben der Religion“ aus und meinte, die Sache hätte sich in wenigen Jahren, wenn es den Menschen im Sozialismus besser gehe, von allein erledigt.

Die Nationalhymne der DDR, verfaßt von Johannes R. Becher, drückt die Hoffnungen aus, die mit dieser Ideologie verbunden waren:

„Auferstanden aus Ruinen und der Zukunft zugewandt:

Laß uns Dir zum Guten dienen, Deutschland einig Vaterland!

Alte Not gilt es zu zwingen, und wir zwingen sie vereint:

Daß nie eine Mutter mehr ihren Sohn beweint, ihren Sohn beweint...

Daß die Sonne schön wie nie über Deutschland scheint, über Deutschland scheint!“

 

Besonders für die, die fast nichts mehr hatten, war der sozialistische Aufbau mit diesen großen Hoffnungen verbunden. Zur Bodenreform 1946 bekamen die Neubauern tatsächlich jeder Grund und Boden. In der Nähe entstand ein ganz neues Dorf da, wo früher nur ein Gut stand: Mark Zwuschen.

 

Pfarrer Hagendorf war schon seit 1936 in Seyda gewesen, damals noch als Vikar und Prädikant (= jemand, der predigt). Ganz am Anfang soll er auch mit den Nazis sympathisiert haben - wie fast alle -, jedoch zu seiner Hochzeit, heißt es, habe er gemerkt, „wo es hingeht“, und habe sich davon distanziert.

Seine erste Frau starb: es war Winter, der Schneepflug mit vier Pferden kam nicht durch; der Pastor fuhr auf Schiern zum Krankenhaus nach Wittenberg. Seine 1. Frau war sehr kinderlieb und sammelte dazu die Kinder der Gemeinde. Außerdem hat sie ihm wohl noch die Heirat mit der 2. Frau empfohlen, die dann ihn und die Kinder versorgte. Was in der Gemeinde so überliefert wird...

Pfarrer Hagendorf wurde auch zur Wehrmacht eingezogen. Jemand erzählt, Pfarrer Hagendorf hätte als Soldat den Eisenbahnwagen, in dem die Waffenstillstandsverhandlungen mit Frankreich stattfanden, bewacht.

Am Ende des Krieges war er noch wegen kritischer Äußerungen gegen Hitler inhaftiert. Im Sommer 1945 kehrte er zurück nach Seyda, völlig entkräftet.

 

Pfarrer Hagendorf war eine Autorität, und mit derselben versuchte er, seine Gemeinde durch diese schwere Zeit zu führen. Er lebte mit den Menschen hier, hatte selbst eine große Landwirtschaft, auf dem Pfarrhof standen noch zwei Pfarrscheunen. Es heißt, er habe die besten Rinder im Stall gehabt, TBC-frei, und der Milchprüfer der damals 102 Kuhbauern von Seyda bestätigte noch 1998, dass bei ihm eine der höchsten Milchquoten vorlag. Er hatte auch mit Hilfe moderner Methoden hohen Mais - all´ das brachte ihm Respekt ein. Die Arbeit in der Landwirtschaft tat er, um die Not in seiner eigenen Familie (6 Kinder hatte er) zu lindern. Nun heißt es zwar, er habe auch (beinahe!) einmal eine Hochzeit verpaßt, aber man muß wohl auch dazuerzählen, dass er sehr viele Hochzeiten hatte, manchmal drei oder gar fünf an einem Tag; dazu 70 Konfirmanden (1950).

Was für eine Respektsperson er war, davon erzählen nicht nur die Konfirmanden, die beispielsweise „Lobe den Herrn“ 50mal abschreiben mußten, sondern davon berichtet auch eine kleine Anekdote: Einmal mußte er in Halle vorsprechen, hatte aber in Wittenberg den Zug verpaßt. Durch sein bestimmtes Auftreten wurde der Zug in Pratau angehalten, er fuhr mit einem Personenzug hinterher, konnte zusteigen und kam pünktlich in Halle an.

Pfarrer Hagendorf, der einen Vollbart trug (zwischenzeitlich auch einen „Kaiserbart“, wie ein Foto zeigt), besuchte auch die Vergnügungen der Stadt, zum Beispiel die „Männerfastnachten“.

 

 „Spitzbart, Bauch und Brille - sind nicht des Volkes Wille“ - dieser Ruf schallte bald durchs Land, der Widerstand gegen die neuen Machthaber formierte sich. Gemeint war hier Walter Ulbricht, der mit anderen sofort nach Kriegsende von Moskau aus eingeflogen wurde und eine neue Regierung aufbaute.

Der Protest richtete sich in unserem Gebiet besonders gegen die Repressionen, die die Bauern erfuhren: Das Abgabesoll war oft unerträglich hoch, und mit Zwang wurde versucht, die Kollektivierung durchzusetzen. Dazu kam die harte Beschränkung der persönlichen Freiheit: viele saßen in den Gefängnissen.

Die Arbeiter an der Stalinallee in Berlin hatten begonnen, sie protestierten gegen die Normerhöhungen, Arbeiter in den Industriezentren Mitteldeutschlands schlossen sich an; und unsere Gegend ist die, in dem der Aufstand vom 17. Juni 1953 auch die Bauernschaft und das Land erfaßte:

„Am 17. Juni 1953 erhoben sich 1.500 Bauern der Elbaue und zogen nach Jessen... In den ersten Junitagen des Jahres 1953 spitzte sich die Situation zu: Als am 11. Juni ein Beschluss der Volkskammer als Gesetz zum Tragen kam, dass noch 20 bis 30 Prozent mehr an Abgaben zu leisten waren, brachte dies das Fass zum Überlaufen. Immer öfter informierten Radiosender (aus Westberlin) auch über Unruhen in der Arbeiterschaft, die sich ebenfalls gegen die unverschämten Forderungen und die schlechten Lebensbedingungen stellten... ,Auch wir Bauern dürfen uns das nicht mehr bieten lassen´, lautete der Tenor. Täglich hörte man von Leuten, die ihre Abgaben nicht mehr entrichten konnten und nach Mecklenburg zwangsausgesiedelt oder gar wegen „Aufmüpfigkeit“ verhaftet wurden. Am 16. Juni spitzte sich die Situation zu: ,In Rade diskutierte das halbe Dorf auf der Straße, doch niemand wagte einen Entschluss´... Die ganze Nacht über waren die Rädelsführer unterwegs. Hoffend, dass keiner Verrat üben würde. Bange erwarteten sie die Morgenstunden - und konnten dann kaum fassen: Bauern kamen von überall her auf den Jessener Markt geströmt. An die 500 zogen zum „Kreml“, wie das Jessener Schloss als Sitz der Kreisleitung genannt wurde. Etwa tausend Bauern und Sympathisanten blieben auf dem Markt... Es gelang! Die Partei (SED) traute sich nicht, mit Gewalt dagegen vorzugehen. Die Forderungen der Bauern nach Rücknahme der Abgaben wurden erfüllt und gipfelten in der Entlassung der Inhaftierten noch am selben Tag.“ (Gabi Zahn: Der Tag, als der Mut siegte. Elbe-Elster-Rundschau 6.11.99, S. 18).

Auch Seydaer waren dabei; ebenso in Halle, wo die Akten der Kreisleitung dort aus dem Fenster geworfen wurden, sowie in Berlin. Streikende aus Berlin fuhren durch Seyda.

„Wittenberg war kein Zentrum der Demonstrationen.“ „Am Marktplatz und in der Juristenstraße standen russische Panzer.“ (Herrmann, Gottfried: Über 45 Jahre Einheiten der Sowjetarmee in der Lutherstadt Wittenberg. In: Heimatkalender 2.000, 25-42; 32).

 

Russische Panzer rollten, über den Kreis Jessen wurde das Kriegsrecht verhängt. Kaum einer wußte natürlich, dass sich im Seydaer Pfarrhaus nach der Niederschlagung des Aufstandes die Streikleitung von Bitterfeld und Wolfen versteckt hielt. Später kam die Staatssicherheit aber dahinter, und Pfarrer Hagendorf wurde wieder eingesperrt: am 17. September 1953, ein Jahr lang. Es war nicht das erste Mal, dass er auch von den neuen Machthabern eingesperrt wurde, sicher ist, dass er ebenso am 24. März 1951 in Haft saß. Diesmal nun kam am 7. Oktober 1954 die „Begnadigung“ (zum 5. Jahrestag der DDR), jedoch wurde er mit einem Redeverbot belegt. Was macht ein Pfarrer, wenn er nicht öffentlich reden darf?

Der Tod seines Onkels in Westdeutschland, der über ein Telegramm mitgeteilt wurde, ermöglichte ihm die (besuchsweise) „Ausreise“ in den anderen Teil Deutschlands. Er ist dort geblieben, holte seine Familie nach und wurde später Superintendent in Westfalen.

 

Seyda hatte nun keinen Pfarrer - und sollte wohl auch keinen mehr bekommen. Daraufhin machten sich die Kirchenräte Tischlereimeister Willy Hirsch und Müllerbesitzer Paul Huth auf den Weg nach Magdeburg zum Bischof, um um eine Wiederbesetzung der Pfarrstelle nachzusuchen. So ist es im Protokollbuch der Kirchengemeinde vermerkt.

Der Besuch hatte auch Erfolg: zu Weihnachten 1954 begann Vikar Rufried Mauer seinen Dienst in Seyda. (Ein Vikar ist ein Pfarrer, der noch in der Ausbildung ist.)

Welcher Pfarrer es war, der seine Ankunftspredigt in Seyda so gehalten hat, ist nicht klar: „Ich bin nicht gekommen, Eure Scheunen abzubrennen. Ich will ein Feuer in Euren Herzen entzünden!“ Aber Pastor Mauer, der dann zu Michaelis (29.9.) 1956 in sein Amt eingeführt wurde, war es wohl nicht. Er hatte mit vielen Schwierigkeiten zu kämpfen. In seine Zeit fiel die Auseinandersetzung um die Jugendweihe. Ein Zeitzeuge, selbst Pfarrer, berichtet:

„Als in den fünfziger Jahren die Jugendweihe mit Drohung und Erpressung durchgesetzt wurde, reiste der Wittenberger Propst Wolfgang Staemmler durch seinen Kurkreis und hielt den Vortrag „Der Terror der Jugendweihe“. Im Kreis Jessen erhielt er Redeverbot. Daraufhin sprach er nur noch im Kreis Jessen. Unter Hitler war er im Konzentrationslager gewesen. So wagte man nicht, seine Person anzutasten. Das Beispiel Propst Staemmler aber verdeutlicht, wie es damals zuging.“

(Dr. Fritz Neugebauer: Protestanten am Scheideweg: Grundsätzliches und Persönliches aus der DDR-Zeit, Evangelische Kommentare 9/92,515).

Die Jugendweihe wurde bewußt deshalb eingeführt, um die Jugend von der Kirche zu entfernen. In keinem anderen Land gab es diese Tradition. Im Russischunterricht mußte für die Freunde in der Sowjetunion notdürftig übersetzt werden: „graschdanskaja konfirmazija“, „bürgerliche Konfirmation“.

Die Reaktion der Kirche war scharf, die Jugendweihe wurde als Abfall von Christus gesehen. Auf der anderen Seite wurden Jugendliche und Eltern von Schule und Partei, auch im Betrieb, unter Druck gesetzt. Pfarrer Mauer schreibt für die Turmkugel von Gadegast:

 „Wohl zu keiner Zeit hatten es unsere Kinder so schwer wie heute! ... Die Konfirmation wird nicht mehr gefeiert. Man kann in unserer Zeit es keinen 14jährigen Kindern zumuten, daß sie für ihr Leben ein bindendes Gelübde für Christus und die Kirche ablegen, das sie nicht halten; denn viele Konfirmanden kommen nach der Konfirmation nicht mehr zum Gottesdienst oder selten. Gott läßt sich aber nicht spotten! Wer sich treu zur Kirche hält, auch in der Christenlehre sich recht geführt hat, hat das Recht, zum Heiligen Abendmahl zugelassen zu werden. Zur Jugendweihe Gezwungene und solche, die die Teilnahme an der Jugendweihe bereuen, bekommen nach einer Probezeit von etwa einem Jahr ihre kirchlichen Rechte, auch beim ersten Abendmahlsgang. Auch diesen Neuerungen gegenüber ist die Gemeinde skeptisch; aber wir können als Kirche nur bestehen, wenn wir unseren Herrn ganz ernst nehmen, ehrlich Sein Wort verkündigen, ganz nach Ihm fragen und nicht auf Erfolg aus sind, der nur trügt und uns in die Irre führt...“

 

Die Zahlen sprechen eine deutliche Sprache: 1950 waren es 70 Konfirmanden, 1960 nur noch drei.

In der Kirche kam man dann auf die Lösung, dass ein Jahr nach der Jugendweihe die Konfirmation möglich war, also mit zeitlichem Abstand und dann mit drei statt bisher zwei Unterrichtsjahren. So ist es bis zum Ende der DDR geblieben, das heißt: am Ende der DDR-Zeit gab es in Seyda über Jahre keine Konfirmation mehr.

Die Machthaber wollten nicht nur das Land und den Besitz, sie wollten auch die Seele. Der christliche Glaube wurde in Schulen und Zeitungen massiv diffamiert, Kinder und Eltern, die sich zur Kirche hielten, wurden zurückgesetzt und benachteiligt.

 

Für die 50iger Jahre ist noch zu berichten, dass ein neues Evangelisches Gesangbuch eingeführt wurde, das über 40 Jahre seinen Dienst tat. Eines der jüngsten Lieder darin war von Martin Jentzsch, der 1879 in Seyda geboren wurde, „Brich dem Hungrigen Dein Brot...“. (Evangelisches Gesangbuch Nr. 418). Es wurde 1951 gedichtet. Das andere Lied, was Walter Heinecke aus Seyda geschrieben hat, ist ein Lied zur Hochzeit:

 

„Du hast uns, Herr, in Dir verbunden!

Nun gib uns gnädig das Geleit.

Dein sind des Tages helle Stunden,

Dein ist die Freude und das Leid.

Du segnest unser täglich Brot!

Du bist uns nah in aller Not.

 

Laß unsre Liebe ohne Wanken,

die Treue laß beständig sein!

Halt uns in Worten und Gedanken

von Zorn, Betrug und Lüge rein.

Laß uns doch füreinander stehn!

Gib Augen, andrer Last zu sehn.

 

Lehr uns, einander zu vergeben,

wie Du in Christus uns getan.

Herr, gib uns Teil an Deinem Leben,

dass nichts von Dir uns scheiden kann!

Mach uns zu Deinem Lob bereit,

heut, morgen und in Ewigkeit.


(Evangelisches Gesangbuch Nr. 240)

 

Der Dichter, Walter Heinecke, war der Cousin von Frau Dr. Nekwasil, die am Markt in Seyda wohnte und bis in die 80iger Jahre hinein als Zahnärztin praktizierte. Mancher wird sich noch an ihren Tretbohrer erinnern können!

Das Haus am Markt 11 gehörte zunächst dem Bürgermeister Ganzert und seiner Familie und war um die  Jahrhundertwende auch Rathaus. Später wurde es von dem Landarzt Dr. Julius Hermann Nekwasil erworben, dessen Töchter dann die Zahnarztpraxis hatten und nach dem Tod von Frau Dr. Nekwasil 1984 das Haus der „Arbeiterkolonie“ vererbten. Frau Dr. Nekwasil und ihre Schwester, Frau Walze, hat viel zum Gemeindeleben in Seyda beigetragen. Im Diest-Hof hängt noch eine Glocke, die sie gestiftet haben, und auf dem Friedhof erinnert ein großes Grab an die Familie Nekwasil, mit den Sätzen: Gott spricht: „Ich bin der Herr, Dein Arzt!“ (2 Mose 15,26) und Jesus Christus spricht: „Ich lebe, und Ihr sollt auch leben!“ (Joh 14,19).

Walter Heinecke verließ Seyda als kleiner Junge mit seinem Vater, dem berühmten Pastor, 1913, kam aber noch oft in den Ferien hierher. Er wurde später selbst Pastor in Tornow bei Landsberg an der Warthe, in Bierbergen bei Hameln und in Hannover und verstarb in Hildesheim 1992.

 

1956 kam wieder eine zweite Glocke auf den Turm, aus Stahl, nachdem auch im Zweiten Weltkrieg eine Glocke (die von 1933) abgegeben werden mußte. Der ganze Kirchplatz stand damals voller Glocken, auch von den umliegenden Orten: bereit zum Abtransport. Auf der neuen Glocke von 1956 steht das Wort von Paulus: „Lasst Euch versöhnen mit Gott!“, (2 Kor 5,20).

 

Pfarrer Maurer feierte in der Kirche auch Kindergottesdienste! Sie fanden nach dem Hauptgottesdienst am Sonntag statt. Er fuhr viel mit dem Fahrrad, bis nach Mark Zwuschen und Zemnick.

 

Jedes Jahr wurde zum Heimatfest vom Schützenhaus zum Markt ausmarschiert, die Kinder mit Laternen, die Honoratioren mit Zylindern vorneweg. In den Fenstern standen Kerzen (meist vier Stück); auf dem Markt wurde mit den Laternen gesungen: „Ich bete an die Macht der Liebe, die sich in Jesus offenbart“ und zum Abschluß „Nun danket alle Gott“. Als das 1956 nicht mehr gesungen werden durfte, stimmte Kantor Schmalz „Im schönsten Wiesengrunde“ an.

 

1955 wurden die Schriften in der Kirche noch einmal nachgeschrieben; der Kronleuchter und der Taufstein verschwanden - sehr zur Überraschung des Pfarrers und der Kirchenältesten - aus der Kirche. Zum Glück hatte man den alten, von Musikdirektor Schulze geretteten Taufstein noch.

 

Pfarrer Mauer schreibt rückblickend in der Gadegaster Turmkugel 1960 (das Papier wurde heimlich eingeschweißt, es hätte dem Pfarrer Lagerhaft eingebracht):

„Im Frühjahr 1960 wurden unter Führung der marxistischen Sozialistischen Einheitspartei Deutschlands (S.E.D.) wochenlang täglich sich wiederholende lange Besuche vieler im politischen Leben stehender Personen, unterstützt durch lang anhaltende laute Musik aus einem Lautsprecherwagen, die letzten selbständigen Bauern dazu gebracht, daß sie in die LPG eintreten. Besonders die alten Bauern können das noch immer nicht verstehen, hatten sie doch von ihren Vätern die Wirtschaften geerbt und auf ihnen ein Leben lang für ihre Kinder gearbeitet, und auch den jüngeren Leuten wird es noch immer schwer, sich in die ganz anderen Verhältnisse zu finden...

Für die Aktion „Brot für die Welt“ wurden im vergangenen Jahr 1959 in der Gesamtparochie Seyda/Gadegast von etwa 150 Gemeindegliedern 3.000 Mark gesammelt (manche nicht sehr reiche gaben 300 Mark)...

Nur eine atheistische Namensweihe war bisher in Gadegast, sonst lassen noch alle Eltern ihre Kinder taufen. In Zukunft kann das aber ganz anders werden.“

 

Viele verließen das Land, auf dem ihre Familie seit Generationen zuhause war. „Können wir noch bleiben?“ so fragte sich wohl fast jede Familie.

 

Daneben gab es bescheidene Aufrufe der Kirche:

„Bleibt in der DDR, weil auch Christus in der DDR bei seiner Gemeinde bleibt!“ so wurde es im Auftrag der Kirchenleitung auch von der Seydaer Kanzel verlesen und in der Turmkugel in Gadegast festgehalten.

Nur wenige, die einmal weggegangen waren, kehrten zurück.

Doch auch der Möglichkeit der Flucht ist bald ein Riegel vorgeschoben worden: am 13. August 1961 wurde die „Mauer“ gebaut, es war fast unmöglich, ohne Erlaubnis „in den Westen“ zu kommen, und die erhielt man nur schwer. Die Menschen waren wie gelähmt: Damit hatte keiner gerechnet. Über den Mauerbau schreibt ein Zeitzeuge:

„Für die Menschen der DDR bedeutete sie ein politisches Kidnapping von 17 Millionen Menschen. ,Wie fühlst Du Dich?´ wurde damals jemand in einem Witz gefragt. Die Antwort: ,Besser als in Einzelhaft!´. Der Ausdruck ,Sozialistisches Lager´ konnte wörtlich genommen werden. Die Menschen waren Lagerinsassen, brauchten eine Genehmigung für den Hafturlaub und mußten Besuchsgenehmigungen beantragen.“ (Neugebauer, aaO 516).

 

Die Kirchensteuern mußten jetzt selbständig, ohne staatliche Hilfe, erhoben werden. Kirchenälteste taten diesen notwendigen und schweren Dienst. Der Verdienst der kirchlichen Mitarbeiter reichte gerade zum Leben aus.

Die Chronik des Pfarrer Mauer aus Seyda endet mit den Worten:

„Denjenigen, die das lesen, wünschen wir ruhigere Zeiten. Haben sie solche, sollen sie nicht vergessen, daß Gott es auch schnell ändern kann. Haben sie solche Zeiten nicht, sollen sie nicht vergessen, daß auch bei ihnen der Herr ist und daß es in diesem Leben zuerst darauf ankommt, zu diesem Herrn zu finden.“

 

In der Kirche wurde darüber diskutiert, wie man sich nun gegenüber solcher „Obrigkeit“ verhalten soll, die doch Gott ganz offen ablehnt. „Jedermann sei untertan der Obrigkeit, die Gewalt gegen sie hat.“ so steht es bei Paulus im Römerbrief, Kapitel 13. Das galt damals für den nicht christlichen, manchmal auch antichristlichen römischen Staat, sollte es nicht auch heute gelten? „Suchet der Stadt Bestes!“ rief der Prophet Jeremia im Auftrag Gottes dem Gottesvolk in der babylonischen Gefangenschaft zu. (Jer 29,7).

Auf der anderen Seite wird bei Paulus gesagt, dass der Staat die Aufgabe hat, die Guten zu belohnen und zu fördern und die Bösen zu bestrafen. Wenn er das nun offensichtlich nicht tut, sondern ein Unrechtsstaat ist (der vielleicht gerade die „Guten“ bestraft und die Skrupellosen bevorteilt): muß man dann nicht gegen ihn vorgehen; sind dann seine Gesetze nicht wirkungslos? „Man muß Gott mehr gehorchen als den Menschen.“ heißt es in der Apostelgeschichte. (Apg 5,29).

Zwischen diesen beiden Polen bewegte sich das politische Engagement der Kirche in der DDR-Zeit, auch in Seyda.

 

Viele haben sich in den schwierigen Zeiten gemüht, in Seyda das kirchliche Leben aufrecht zu erhalten und treu zu Christus und seiner Gemeinde zu stehen. Das waren Menschen aus Seyda, Frauen und Männer, aber auch Pfarrer, Katecheten, ein Diakon und andere kirchliche Mitarbeiter.

 

Erinnert sei zum Beispiel an Katechetin Ostara Richter, die aus Seyda stammt. Um eine Klasse herauszugreifen: 1957 unterrichtete sie 28 Kinder in der Christenlehre der 6. Klasse. Dort gab es auch Noten: in Betragen, Fleiß, für die Kenntnisse; im Monat hatten die Kinder 50 Pfennige Beitrag mitzubringen. Auf den Dörfern um Seyda feierte sie in den fünfziger Jahren Kindergottesdienst.

 

Diakon Solbrig wohnte mit seiner Frau seit Beginn der 60iger Jahre im ehemaligen Pfarrhaus am Kirchplatz 2. Er hielt in Seyda und in vielen umliegenden Dörfern, auch in Mark Zwuschen und in Zemnick, die Christenlehre. Bei Wind und Wetter war er mit seinem Motorrad unterwegs, unermüdlich; zu Gottesdiensten und Gemeindeveranstaltungen. Er starb 1990. Ein großes Kreuz erinnert auf dem Friedhof in Seyda an ihn. Der von ihm gefertigte Linolschnitt findet oft Verwendung, er schmückt auch diese „Geschichte der Kirche in Seyda“ auf den Deckblättern. Die Tür zur Kirche ist offen, bis hinein kann man schauen: Das Ausrichten dieser Einladung, zu Jesus Christus zu kommen und dort das Heil zu finden, das war seine Lebensaufgabe.

 

1963 starb Kantor Schmalz. Von 1909 bis 1954 war er Kantor und Lehrer in Seyda. Generationen von Schulkindern hat er geprägt, noch heute wird mit Hochachtung von ihm gesprochen. In seiner Zeit war es üblich, dass der Schulchor zu vielen Gelegenheiten sang, und zwar Choräle. Vor dem Bau der Leichenhalle auf dem Friedhof begann der Zug zur Beerdigung am Trauerhaus. Das Kreuz wurde durch einen Schüler vor dem Sarg her getragen. Gesungen wurde zum Beispiel: „Jesu, geh voran auf der Lebensbahn“ und „So nimm denn meine Hände“. Dass das fast jeder Seyd´sche konnte, ist Herrn Kantor Schmalz zu verdanken.

Die ersten Urnenbeisetzungen in Seyda fanden während des Krieges statt: ein Kind, was in Leipzig verstorben war, aber hier beerdigt werden sollte; und eine Frau aus Berlin, die Verwandtschaft in Seyda hatte. Am Anfang stellten sich die Pfarrer und Kirchenvertretungen gegen die Feuerbestattung, sie sahen darin etwas Heidnisches (- was es auch war: vgl. G I, 18.23). Mittlerweile hat diese Form der Beerdigung größere Verbreitung gefunden, wohl insbesondere aus Kostengründen oder wegen der leichteren Grabpflege, aber vielleicht auch aus dem Grund, die Trauer damit ein wenig zu verschieben: Findet doch die Urnenbeisetzung meist in größerem zeitlichen Abstand zum Tod statt. Es ist gut für den Trauernden, wenn er richtig Abschied nehmen kann: am Sarg, der dann in die Erde gesenkt wird. „Traurigkeit bringt Geduld, Geduld bringt Bewährung, Bewährung aber bringt Hoffnung“ (Röm 5,4): Abschied zu nehmen und zum Frieden zu kommen, dazu scheint mir die Erdbestattung der bessere Weg zu sein. Ob aber jemand „in den Himmel“ kommt, ist völlig unabhängig davon, ob er erd- oder feuerbestattet wird.

 

Kirchendienerin“ war in den Jahren 1945 bis 1949 Frau Luise Schulze, die im Haus Kirchplatz 2 seit 1935 mit ihrer Familie wohnte.  Damit war die Kirche in guten Händen: das Glockeläuten und der Blumenschmuck sowie alle anderen großen und kleinen Küsterdienste. Danach übernahm diese Arbeit Familie Quillfeldt, die in die Wohnung einzog. 1961 wurde das Amt Frau Martha Schütze übertragen.

 

1963 kam Pfarrer Günther Schlauraff nach Seyda in seine erste Pfarrstelle. Er blieb bis 1975. Vielen ist er als Jugendpfarrer bekannt! In Zusammenarbeit mit den jungen Pfarrern aus Elster und Klöden „hatte er die Jugend“: es kamen mehr Jugendliche zur Kirche als zu FDJ-Veranstaltungen, wenn natürlich auch alle in der FDJ organisiert waren.

Die FDJ („Freie Deutsche Jugend“) war eine kommunistische Massenorganisation, in die fast alle Jugendlichen in der 7. Klasse eintreten „mußten“. Wer das nicht tat, stellte sich abseits und hatte es in der Schule und bei der Berufsfindung schwer, auch die Eltern im Betrieb hatten mit Nachteilen zu rechnen. Für die Kinder gab es in der ersten Klasse die „Jungen Pioniere“ mit blauem Halstuch, die dann in der 4. Klasse zu „Thälmannpionieren“ wurden, mit rotem Halstuch. In der Schule wurden zu Festlichkeiten „Fahnenappelle“ gehalten, in der alle in der entsprechenden Uniform erscheinen mußten. Das Leben im Klassenverband wurde über diese Organisationsformen gestaltet. So kam es in Seyda zum Beispiel vor, dass ein Pfarrerskind unbedingt Pionier werden wollte, um einfach „dabei“ zu sein. Der Vater erlaubte es auch, machte aber zur Bedingung, dass sie dann auch immer die Uniform tragen müsse.

Diese aktive Jugendarbeit, die einen Freiraum bot, über Dinge zu diskutieren oder etwas zu hören, was nicht in die ideologische Linie paßte, hatte in diesen Jahren einen großen Zulauf. Da die Fülle des Geistes- und Kulturlebens tatsächlich viel breiter ist, war das ein weites Betätigungsfeld und eine große Chance für die Kirche, „evangelische Freiheit“ zu leben. Da wurde über Sexualität frei gesprochen, auch über George Orwells „Farm der Tiere“, über moderne Musikrichtungen oder über Selbstmord - also auch Sachverhalte, die nicht in die Vermittlung einer „heilen Welt“ im Sozialismus in der Schule paßten. Es gab über viele Jahre ein Rüstzeitheim auf dem Gelände der Arbeiterkolonie, was intensiv genutzt wurde. Viele Fahrradfahrten wurden veranstaltet.

Der Staat versuchte, diese Aktivitäten einzugrenzen. Der Kirche waren nur kircheneigene Themen erlaubt. Reine Sportveranstaltungen durften nicht durchgeführt werden. Deshalb hieß es immer „Bibelrüstzeit“, bei dem dann natürlich das ganze Jugendleben ausgeschöpft wurde.

Mein Vater, auch Pfarrer, mußte einmal 5 Mark Ordnungsstrafe zahlen, weil er bei einem Kinderfest „Laurentia“ getanzt hatte: Das war keine „kirchliche Betätigung“.

In der Gesellschaft vollzog sich seit den 60iger Jahren ein Paradigmenwechsel. Die alten Werte „Ordnung, Fleiß, Disziplin, Pünktlichkeit“ wurden in Frage gestellt in der Auseinandersetzung mit der Elterngeneration, die in der Pervertierung dieser Werte Hitler gefolgt war. Im Westen Deutschland wurde diese Auseinandersetzung offen geführt, die „68er“ wollten alte Strukturen zerschlagen, ihre Spitze war die terroristische „Baader-Meinhof-Gruppe“. Neue Musikgruppen mit oft sehr lauten, gesellschaftskritischen Tönen entstanden. Die „sexuelle Revolution“ brachte eine große Freizügigkeit im Führen von Beziehungen und im Umgang mit der Sexualität. Diese Veränderungen drangen langsam auch in die DDR-Gesellschaft ein, schon über Funk- und Fernsehenwellen, die nicht an der Grenze aufgehalten werden konnten (wenn es auch Zeiten gab, wo die FDJ die Antennen absägte). Während die neue Musik nach und nach „bei uns“ erlaubt wurde, es auch „FKK-Strände“ gab, so hatte doch jeder, der die Staatsmacht infragestellen wollte, mit härtesten Strafen zu rechnen.

 

Der äußere Druck auf die Kirche führte auch zu einem Zusammenrücken der Konfessionen: Zu dem Kreis der jungen Pfarrer in Klöden, Elster und Seyda gehörte auch der katholische Pfarrer von Elster, Neumann. Ökumenische Gottesdienste wurden gefeiert. Heute ist er im „Amt für Gemeindeaufbau“ unserer Landeskirche beschäftigt und war auch an meiner Ausbildung beteiligt.

 

 

Pastor Schlauraff, der sein Arbeitszimmer zuerst noch im heutigen hinteren Gemeinderaum hatte und noch mit „Flüchtlingen“ im Haus lebte, hatte auch große Probleme mit der Staatsmacht. Seine Frau, Physiotherapeutin, hatte „Berufsverbot“. Es hieß: „aus kaderpolitischen Gründen ist keine Besetzung möglich“. Bibelstunden mußten, wie auch schon zu Zeiten von Pfarrer Mauer, bei der Polizei angemeldet werden. Oft bekam er auch „Besuch“ von den Staatsorganen. („Dürfen wir mitschreiben?“ - „Ich weiß doch, dass Sie ein Tonbandgerät in der Aktentasche haben.“).

Man kann aus heutiger Sicht die Pfarrer und ihre Familie nur bewundern, wie sie in diesen Zeiten standgehalten und mit Freude Gemeindearbeit getan haben - ebenso natürlich auch alle Gemeindeglieder, die treu zu ihrer Kirche gehalten haben.

 

Zur Zeit des Pastor Schlauraff gab es auch noch einen „Männerkreis“, der sich aus vielen Handwerksmeistern der Stadt und anderen Männern zusammensetzte. Da wurde im Pfarrhaus Karten gespielt, aber auch vielfältige Themen besprochen. Der gesellschaftliche Druck nahm aber immer mehr zu, so dass sich dieser Kreis auflöste.

Die ganze Zeit hindurch traf sich die „Frauenhilfe“, der „Altenkreis“ - oder wie wir heute sagen „Gemeindenachmittag“ - also eine Versammlung von Frauen. Sie kommen bis heute ganz regelmäßig zusammen und sind ein Nachfolger jenes „Frauenvereins“, der so fruchtbare Arbeit in Seyda geleistet hat. Viele Dinge wurden von diesem Kreis unterstützt; er ist auch ein Hüter der Tradition, viel Gutes wurde bewahrt und ist auch in diese Chronik eingeflossen.

 

Bis zum Ende der sechziger Jahre war es in Seyda noch üblich, dass die Hebamme die Kinder zur Taufe in die Kirche trug und dort am Taufstein der Mutter überreichte. Jedoch nahm die Zahl der Taufen ab, es gehörte einiger Mut dazu, sich öffentlich zur Kirche zu halten. So wuchs bald eine Generation heran, die keine Verbindung zur Kirche mehr kannte, ja, wo selbst in der Familie keine Vermittlung von Glaubensgut vorkam. Aufgabe der Kirche wurde es nun, neben der Stärkung der Gemeindemitglieder und dem „Zurückrufen“ derer, die sich entfernt hatten, ganz neu Menschen anzusprechen. Das erforderte einige Umstellung: bisher war die Kirche seit Jahrhunderten darauf spezialisiert, Kindern im Tauf- und Konfirmandenunterricht den Glauben nahe zu bringen; jetzt aber wurde es nötig, über das „Erwachsenenkatechumenat“ nachzudenken.

Gleichzeitig ergab sich durch den großen äußeren Druck die Gefahr innerhalb der Kirche, sich auch selbst zurückzuziehen, seinen kleinen Kreis zu pflegen bzw. einfach durchzuhalten und dabei den Blick dafür zu verlieren, dass Gott wirklich jeden Menschen liebt und die Botschaft des Evangeliums lebenswichtig ist und bleibt für jedermann. Auch mußte und muß die Verkündigung zeitgemäß erfolgen, ohne wichtige Inhalte aufzugeben, was Pfarrer Schlauraff und seinen Mitarbeitern offensichtlich gelungen ist.

 

Am 12. April 1961 war der erste Mensch im Weltall, der Russe Juri Gagarin, ein Bürger der Sowjetunion. Die platte Propaganda: „Wo ist denn Gott? Gagarin hat ihn nicht gesehen!“ nahm zum Teil unverschämte, manchmal auch groteske Formen an. Der Himmel, wo Gott wohnt, ist da, wo es ganz schön ist („Ich tanze mit Dir in den Himmel hinein...“ war ein Schlager, den fast jeder kannte); der blaue Himmel ist davon unterschieden: solche recht einfachen Dinge mußten immer wieder erklärt werden.

Die neue Schule in Seyda trägt (seit 1981) den Namen „Juri Gagarin“, auf dem Schulhof steht ein Gedenkstein, in der Schule ist ein Zitat von ihm zu lesen. Galt sein Erfolg doch als Beweis, dass das kommunistische System allen anderen Gesellschaftsformen überlegen sei, und dass der Mensch alles schaffen könne.

Amerikaner waren dann die ersten, denen die Landung auf dem Mond gelang. Am 21. Juli 1969 haben auch viele in Seyda dieses Ereignis die ganze Nacht hindurch vor dem Fernseher verfolgt. Neil Armstrong („Ein kleiner Schritt für mich, ein großer Schritt für die Menschheit.“) sprach auf dem Mond ein Gebet und dankte Gott, dem Schöpfer des Kosmos. Gleichzeitig führten die USA einen blutigen Krieg in Vietnam, der auch in Europa viele erschreckte und empörte...

 

1968 marschierten die letzten Soldaten durch Seyda zum Kampfeinsatz. Es waren Russen, sie kamen mit ihren Panje-Wagen, und es war die gleiche Kompanie, die Seyda damals 1945 eingenommen hatte. Sie schauten zum Teil in die Häuser, in die sie damals hineingegangen waren, und zogen dann in die Tschechoslowakei, um den Aufstand dort niederzuschlagen - wie damals, mit ihren Panje-Wagen.

 

Seit 1955 waren in der „Arbeiterkolonie“ Diakon Meurer mit seiner Frau und „Schwester Hertha“ tätig. Sie bemühten sich redlich, in diesen schweren Zeiten den Bewohnern des „Pflegeheimes“ ein gutes Leben zu ermöglichen. Noch heute sind sie auf dem „Diest-Hof“ von den Behinderten nicht vergessen.

Aus dem „Altersheim“ war ein „Pflegeheim“ geworden, weil die alten Bewohner pflegebedürftiger wurden. Auch wuchs der Bedarf der Betreuung von Menschen mit geistiger Behinderung. Der Staat hatte 1953 einmal versucht, diese Arbeit zu übernehmen, war aber nach wenigen Tagen kläglich gescheitert: die alten Mitarbeiter wurden zurückgerufen.

Über viele Jahre blieb das „Pflegeheim“ ein Hort christlicher Nächstenliebe in Seyda, in dem und durch das auch das Wort Gottes und sein Lob reichlich verkündet wurde.

1978 mußte der Verein aufgelöst werden, und das Diakonische Werk der Evangelischen Kirche der Kirchenprovinz Sachsen übernahm auch rechtlich Eigentum und Geschäftsführung. Die Mitarbeiter dort taten ihren notwendigen und schweren Dienst für eine ganz geringe Bezahlung.

 

Die Bewohner des Pflegeheims halfen auch der Kirchengemeinde: Die Dächer der Pfarrställe beispielsweise wurden abgenommen und durch ein Pappdach ersetzt, in Eigenleistung von Kirchenältesten und Heimbewohnern.

 

Nach dem Weggang von Pfarrer Schlauraff 1975 gab es eine längere Vakanzzeit. Wieder fahren zwei Kirchenälteste, Herr Drogist Hans-Georg Schulze und Herr Otto Neumann, zum Bischof nach Magdeburg und bitten um eine Wiederbesetzung der Stelle. Mit Erfolg!

Vikar und später Pfarrer Schaeper kommt nach Seyda. Die Gebäude sind nun in den Jahrzehnten stark reparaturbedürftig geworden. Die Buntglasfenster in der Kirche wurden in den 70iger Jahren eingeworfen und mußten herausgenommen werden. Der Putz bröckelte vom Kirchturm. Pfarrer Schaeper hat an vielen Stellen selbst Hand an gelegt. Er stand auf dem Kirchendach in Mellnitz, er riß einen Anbau am Pfarrhaus ab und erneuerte die Sanitäranlagen, er deckte das Scheunendach auf dem Pfarrhof. Bei letzterer Aktion kam es zu einem Unglücksfall: er schnitt sich einen Finger ab. Von der Versicherungssumme ließ er einen Swimming-Pool im Pfarrgarten bauen. Heißes Wasser wurde durch eine Leitung über das Asbestdach der Scheune produziert. Der Swimming-Pool wurde ein beliebter Treffpunkt, auch für einen Kreis junger Frauen, den Frau Schaeper initiierte.

Das Kirchenschiff wurde geputzt, unter Hilfe von Herrn Max Busse, Herrn Gerhard Bernhardt, Herrn Ulrich Dümichen. Der Anbau an der Südseite der Kirche, ehemals Aufgang für die Männer, wurde abgerissen.

Pfarrer Schaeper begann, regelmäßige Gemeindeabende, auch auf den kleinen Dörfern, durchzuführen. Polizeiliche Anmeldungen waren nun nicht mehr nötig: Die Kirchengemeinde war in ihrer öffentlichen Bedeutung klein geworden. Dennoch hatte er Auseinandersetzungen mit der Staatsmacht. So wurde er nach einem Martinsfest, bei dem die Kinder mit Laternen durch den Torbogen zogen, auf den „Rat des Kreises“ bestellt und wegen „unerlaubter Zusammenrottung“ zur Rede gestellt.

Mutig schrieb er eine Eingabe zum Fluglärm, der durch das russische Militär, was seit Kriegsende die Heide besetzte, hervorgerufen wurde. Er bekam die Antwort, seine Nöte seien verständlich, er solle doch aber bitte die Nummern der Flugzeuge aufschreiben, damit der Sache nachgegangen werden könne...

Die Diplomarbeit, die Pfarrer Schaeper schrieb, trägt den Titel: „Den Gottesdienst als Feier zurückgewinnen“. Das war ihm wichtig, wenn auch die Zahl der Gottesdienstbesucher zurückging doch die Freude an Gottes Wort und seiner Gegenwart deutlich werden zu lassen.

Das Pfarrerbild hat in dieser Zeit noch einmal eine Wandlung erlebt. Aus dem „Oberpfarrer“ war ein Mitmensch geworden, der im Arbeitsanzug mit auf dem Gerüst stand und selbst die Kelle schwang. Das geschah aus der Not heraus, aber auch mit der Absicht, nahe bei den Menschen zu sein. Pfarrer Schaeper lehnte es zum Beispiel ab, auf die Kanzel zu steigen. Er wollte bei der Auslegung der Schar der Gottesdienstbesucher lieber direkt ins Gesicht sehen können und mit ihnen auf gleicher Ebene sein.

Höhepunkte des Gemeindelebens damals waren die Goldenen Konfirmationen sowie Gemeindeausflüge, zum Beispiel in den Spreewald, wo alle miteinander im Kahn saßen. Durchgehalten über alle Jahre hin wurde die Christenlehre, die in den 80iger Jahren Frau Mikowski hielt. Dort kamen auch immer ungetaufte Kinder durch ihre Freunde mit, deren Elternhäuser keinen Kontakt mehr zur Kirche hatten.

 

Ende der 80iger Jahre, als Pfarrer Schaeper und seine Familie Seyda wieder verlassen hatte, gab es über Jahre keine Konfirmation mehr in Seyda. 1990 fand die Feier in Zemnick statt, wo ein Konfirmand aus Seyda teilnahm. Die Kirche war zurückgedrängt in eine Nische und spielte keine Rolle mehr im öffentlichen Leben der Stadt.

 

Ein Hort christlichen Lebens blieb das „Pflegeheim“, die ehemalige Arbeiterkolonie. 1984 kam Familie Lange nach Seyda, Herr Lange war Heimleiter bis zum Beginn des Jahres 2.000. Seit 1985 fanden zahlreiche Um- und Ausbauten statt. Aus den großen Schlafsälen mit den Gitterbetten wurden kleine, wohnlichere Zimmer geschaffen. Es gab nun Wohngruppen, Einzel- oder Doppelzimmer; neue Sanitär- und Heizungsanlagen. Ein Förderbereich wurde ausgebaut.

 

Nach längerer Vakanzzeit kam 1988 Pfarrer Dietrich Podstawa mit seiner Familie nach Seyda. Durch seine Initiative wurde die Partnerschaft mit den Gemeinden in Hessen, Oberseemen und Volkartshain, neu belebt. In den 50iger Jahren war jeder Gemeinde in Ostdeutschland eine aus dem Westen Deutschlands zugeordnet worden, um die Verbindung auch über Mauer und Stacheldraht hinweg aufrecht zu erhalten.

Das Dekanat Schotten schenkte dem Kirchenkreis Jessen eine „Schnellbaurüstung“, Pfarrer Podstawa brachte sie her und hatte sie fortan unter seiner Verwaltung. Er verstand es geschickt, damit umzugehen. Unzählige Kirchtürme, Fassaden und Kircheninnenräume wurden mit seiner Hilfe nun eingerüstet. Das war oft allerhöchste Zeit, nachdem die Gebäude über Jahrzehnte verfallen waren. Jedoch fehlten meist die Mittel und die „Baugenehmigungen“ des sozialistischen Staates.

Im Frühjahr des Jahres 1989 rüstete er zusammen mit den Männern des Dorfes den Kirchturm in Zemnick ein. Als sie oben auf der Spitze standen, sagte er die Worte, die sich später als prophetisch erweisen sollten: „In diesem Herbst sehen wir etwas anderes!“

Damit hatte hier keiner gerechnet: Dass die DDR ein Ende haben könnte, dass das ganze Staatssystem mit dem Sicherheitsdienst und der Kontrolle des ganzen Lebens plötzlich wie ein Kartenhaus zusammenfallen würde; dass die gar bestraft würden, die Unrecht taten - und dass es wieder ein einiges Deutschland geben sollte. Das konnte sich keiner vorstellen, und wer davon doch redete, wurde als Träumer belächelt. Niemand ahnte, dass die Wirtschaftskraft dieses Staates derart am Boden lag. Bis zum Schluß standen ja nur Erfolgsmeldungen in der Zeitung, wenn die „Ernteschlacht“ tobte oder der Plan in den Betrieben wieder übererfüllt wurde.

Die direkte Anschauung einer anderen, der „westlichen“ Welt, hatten nur wenige: Die Rentner oder die, die für Reisen privilegiert waren; ab und zu auch jemand, der ein enges Verwandtschaftsverhältnis nachweisen konnte und auch sonst „zuverlässig“ war. Sonst war man natürlich über das „Westfernsehen“ informiert, was wohl in fast alle Seydaer Wohnzimmer Abend für Abend kam. Aber den Zusammenbruch der DDR, den erwartete man nicht: Hatte man sich doch auch eingerichtet mit seinem Lebensplan, der so schön vorgegeben war: Geburt, Kinderkrippe, Kindergarten, sozialistische Einheitsschule, garantierte Lehre, ein Arbeitsplatz in der näheren Umgebung oder in Seyda, Rente. Wenn man nicht gegen die Spielregeln verstieß, also zu offen Kritik gegen die Staatsmacht äußerte, (sich auch nicht zu offen für die Kirche engagierte), konnte man sich gut einrichten, sein Haus bauen; Beziehungen knüpfen, um manche Engpässe zu überwinden. Es wäre wohl kaum jemand auf den Gedanken gekommen, gegen das System als Ganzes zu opponieren: zunächst aus Furcht, dann aber auch, weil es einem doch gut ging.

So kam die „Wende“ für viele - wenn nicht für alle - überraschend.

 

Ich weiß noch, wie mir die Knie gezittert haben, als ich damals, am 9. Oktober 1989, in Leipzig zur „Demo“ ging. Schon Tage vorher hatten massive Einschüchterungen stattgefunden. In der Zeitung konnte man es lesen: „Wenn Ihr noch einmal auf die Straße geht, dann werden wir mit der Waffe in der Hand gegen Euch vorgehen.“ So hatte es ein „Kampfgruppenkommandant“ (jeder Betrieb hatte so eine militärische Einheit) geschrieben. Die Stadt war voller Polizei und Militär. Auf der Wiese hinter meinem Internat konnte ich die Reihen der Wasserwerfer und Militärautos sehen.

An den Tagen vorher hatte es schlimme Auseinandersetzungen in Dresden gegeben. Demonstranten waren geprügelt worden - wie auch schon in Leipzig. Aus Protest gegen die Vorgänge beschlossen wir, am Montag zu „streiken“, also keine Vorlesungen und Seminare zu besuchen.

Ein jeder fuhr noch einmal am Wochenende nach Hause, weil wir wußten: was passieren würde, wenn wir wieder demonstrieren, war sehr ungewiß. Die Kirchen an den „Montagsgebeten“ um 17 Uhr waren überfüllt, mehr, als am Heiligen Abend. Vier Kirchen in der Innenstadt waren geöffnet. Es herrschte eine gespannte Ruhe. Der sächsische Landesbischof Hempel reiste von Kirche zu Kirche, um überall eine kurze Predigt zu halten. Sie hatte einen Hauptpunkt: „Das menschliche Leben ist ein sehr hohes Gut. Deshalb: Keine Gewalt!“ Das war die Botschaft, die alle verstehen konnten, Christen und Nichtchristen, die die Kirchen füllten. Wir sangen:

„Sonne der Gerechtigkeit, gehe auf zu uns´rer Zeit.

Brich in Deiner Kirche an, dass die Welt es sehen kann!

Erbarm Dich, Herr.

 

Tu der Völker Türen auf, Deines Himmelreiches Lauf

hemme keine List noch Macht, schaffe Licht in dunkler Nacht:
Erbarm Dich, Herr.“

(Evangelisches Gesangbuch Nr. 262).

 

Noch wußten wir nicht, dass dies fast wörtliche Erfüllung finden sollte („Tu der Völker Türen auf...“).

Wir gingen hinaus auf die Straße, formierten uns auf dem „Karl-Marx-Platz“ zu einem Demonstrationszug. Sprechchöre riefen: „Schließt Euch an!“ Das konnte ich nicht mitrufen: Mußte doch jeder selber sehen, ob er das Risiko eingehen wollte. Monatelang wurden uns die Bilder aus China vorgespielt, in der die Demonstration auf dem Platz des Himmlischen Friedens blutig niedergeschlagen wurde. Egon Krenz, ein hoher Funktionär der DDR, war dort gewesen und hatte die chinesischen Genossen dazu beglückwünscht.

Der Zug setzte sich langsam in Bewegung. ,Hinter der nächsten Straßenecke stehen sie und schießen uns zusammen...´ Aber wir mußten gehen. Es ging um Gerechtigkeit, Freiheit, Demokratie: zunächst für die, die in den Gefängnissen saßen, dann aber für das ganze Land. Es mußte sich etwas ändern!

Sprechchöre gab es weiter. Die Polizeiketten und militärischen Fahrzeuge tauchten auf. „Wir sind das Volk!“ haben wir gerufen - den „Volksarmisten“ und der „Volkspolizei“ des „Arbeiter-und-Bauern-Staates“ ins Gesicht. Und, immer wieder „Keine Gewalt!“.

Es ging am Hauptbahnhof vorbei. Sie hatten noch nicht zugeschlagen. Es ging immer weiter! Aber plötzlich, an der „Runden Ecke“, dem Gebäude der Staatssicherheit, das wie eine Festung ausgebaut war, blieb der Zug stehen. Vor mir war noch ein Stück grüne Wiese, ungefähr 10 Meter, und dahinter standen schwerbewaffnete Polizisten mit Helmen, Schilden, Schlagstöcken, Hunden. Ganz vorn schrie es: „Durchlassen!“ „Durchlassen!“. Das also sollte das Ende sein.

Eine Schnitte hatte ich noch in der Tasche, von Muttern, die habe ich gegessen, in Erwartung der Dinge, die da kommen würden...

Aber dann ging es weiter. Einfach weiter. Ein Krankenwagen kam uns entgegen: Das war der Grund des Haltens gewesen. Es ging einfach weiter. Die Schritte wurden leichter. Es war nicht zu fassen: Sie taten uns nichts. Einmal herum sind wir gelaufen, um Leipzig. Wieder bis zum Karl-Marx-Platz.

Am nächsten Montag wieder. Da waren dann schon mehr dabei. Schließlich, am 18. Oktober, die Meldung im Radio: Erich Honecker, Vorsitzender des Staatsrates und Generalsekretär der Sozialistischen Einheitspartei Deutschlands, ist zurückgetreten. Ich kam zu spät zur Vorlesung und schickte einen Zettel durch die Reihen. Ein Aufatmen ging durch den Saal. Schließlich kam er beim Podium an. Die Vorlesung wurde unterbrochen.

Und am 9. November fiel die Mauer. Ich war zur Gründung des „Demokratischen Aufbruchs“ gewesen, und berichtete meinem Vater um 22 Uhr von einer Telefonzelle aus. Er sagte es mir: „Und weißt Du was, die Mauer ist offen!“ Ich habe es nicht verstanden. So wenig hatte ich damit gerechnet, dass ich das gar nicht als Wirklichkeit begriffen habe! Die Mauer - sie war immer da. Da konnte man nicht rüber, zu Großmutter, Tante, Onkel. Das war unmöglich!

Dass sie wirklich auf war, habe ich erst am nächsten Tag richtig gemerkt, als lange Schlangen vor den Volkspolizeistationen standen, um einen Stempel für den Paß zu bekommen. Zum ersten Mal durften wir in den Westen fahren, nach Westberlin, nach Westdeutschland...

 

Auch aus Seyda fuhren nach dem 9. Oktober einige nach Leipzig, um dabei zu sein. In Wittenberg gab es Demonstrationen, in Jessen wurde die „Staatssicherheit“ gestürmt.

Die Kirche war plötzlich wieder da. Der Ort, in dem man frei reden konnte. Der Ort, an dem man seine Unruhe, seine Ratlosigkeit, seinen Protest artikulieren konnte. Die Menschen kamen in Scharen.

Und dann fuhren sie in Scharen nach dem Westen. Die Schule am Sonnabend fiel aus, weil kaum noch einer da war. Schließlich wurde der Schulunterricht am Sonnabend ganz eingestellt.

Mit Jubel wurden die neue Freiheit begrüßt. Wildfremde Menschen lagen sich in den Armen. Dass die Freiheit eine Veränderung der ganzen Gesellschaft mit sich bringen würde, war wenigen bewußt.

Am 18. März 1990 gab es freie und geheime Wahlen. Sie waren ein deutliches Votum für eine Wiedervereinigung, wohl vor allem auch deshalb, weil man sich damit einen größeren Wohlstand erhoffte. Das Gefälle zwischen Ost und West war doch recht drastisch. Viele Dinge konnte man hier nicht kaufen. In der DDR galten künstliche Preise: Grundnahrungsmittel waren sehr billig, „Luxusartikel“ wie Fernseher oder eine elektronische Uhr dafür sehr teuer.

Ein Sachverhalt, der übrigens auch der Kirche später sehr zu schaffen machte: Durch die Subventionierung der wichtigsten Dinge, die man zum Leben braucht (Essen, Wohnen, Strom) war es möglich gewesen, dass die kirchlichen Mitarbeiter in der DDR mit sehr wenig Geld auskamen. Obwohl der Anteil der Gemeindeglieder ganz drastisch zurückgegangen war (von 96% auf 20%), konnte die Pfarrstellenzahl in etwa bei dem Stand von 1950 gehalten werden: es war also eine  „Versorgung“ da, als ob alle Einwohner zur Kirche gehörten.  Die Einführung realer Preise stellte das in Frage.

 

Mit dem Tag der Deutschen Einheit am 3. Oktober 1990 galt auch bei uns das „Grundgesetz“, was den Kirchen große Freiheiten und einen anerkannten Platz in der Gesellschaft einräumt. In der Schule, in den Medien, im Gesundheitswesen, selbst bei Polizei und Militär sollte die Kirche präsent sein.

Wie sollte das möglich sein - in der Situation, in der sich die Kirche im Osten befand: zumeist zurückgedrängt, oft gar nicht mehr wahrgenommen - bis zur Wende.

 

Zunächst einmal wurden umfangreiche Baumaßnahmen in die Wege geleitet. Manche Kirche war am Einfallen, nun aber flossen Millionen der Denkmalpflege. Pfarrer Podstawa war da der richtige Mann am richtigen Ort. Er rüstete Kirche um Kirche ein, im ganzen Kirchenkreis - das waren die erforderlichen Eigenmittel, die die Gemeinde bringen mußte. Für viele Kirchen war es eine Rettung in letzter Minute.

Auch der Kirchturm in Seyda wurde eingerüstet. Mitgearbeitet haben: Pfarrer Podstawa und Frau Gertraude Lenz, eine Kirchenälteste - und Herr Otto Lehmann, der die Stangen hoch reichte. So wurde der ganze große Kirchturm mit einem Gerüst versehen.

1992 kam eine neue goldene Kugel auf den Turm, und Pfarrer Podstawa schrieb rückblickend:

„An vielen Kirchen wurde in dieser Zeit gebaut. Warum eigentlich erst jetzt? Was war geschehen?

Am 30. Januar 1933 wird Adolf Hitler zum Reichskanzler Deutschlands gewählt. Seine Nationalsozialistische Deutsche Arbeiterpartei (NSDAP, „Nazis“) wurde einzigste Partei in Deutschland - das „3. Reich“ war entstanden. Deutschland sollte in der Welt etwas Einzigartiges darstellen. Viele glaubten daran, hegten neue Hoffnungen nach Inflation und Niedergang. Aber die Nazis hatten ein Programm: Ausrottung des Judentums, jeglicher Opposition und anderer Rassen - Mißbrauch des Christentums. Um diese Ziele durchzusetzen, begann man 1939 einen Krieg, der sich zum 2. Weltkrieg entwickelte und 52 Millionen Menschen das Leben kostete. 6 Millionen Juden wurden in Konzentrationslagern ermordet und viele andere mit ihnen. Fazit: Die ganze Welt stellte sich gegen Deutschland - 1945 wurde es besiegt. Unter den Siegermächten USA, England, Frankreich und der Sowjetunion wurde Deutschland in 2 Gebiete aufgeteilt: Ost und West. Der Osten wurde von Rußland und seiner Kommunistischen Partei beherrscht, der Westen besonders von Amerika beeinflußt. Es entstanden zwei wirtschaftspolitische und militärische Zonen: Die Bundesrepublik Deutschland mit der „Nato“ und die Deutsche Demokratische Republik (DDR) mit dem Warschauer Pakt. Es waren „2 Welten“ entstanden - die Zeit des Kalten Krieges. Die Menschen in Europa - und besonders in Deutschland - litten darunter. Mitten durch Deutschland ging eine Grenze. Diese Grenze wurde 1961 durch eine Mauer und Stacheldrahtzäune befestigt und somit auch unüberwindbar. Auf flüchtende Menschen wurde geschossen. Einwohner hüben und drüben konnten sich kaum oder gar nicht begegnen. Sie lebten sich auseinander. Auch mit den Kirchen war es ähnlich. Man versuchte, die Einheit zu wahren, aber es gelang auf Dauer nicht. So gab es einen Bund der Evangelischen Kirchen in der DDR und die Evangelische Kirche in Deutschland (West). Fast niemand glaubte, daß sich daran noch einmal etwas ändern könnte. Doch Gottes Gedanken und Wege sind nicht unsere Wege. Da tauchte im großen Rußland ein Mann auf - namens Michael Gorbatschow. Er übte nicht nur harte Kritik an der Art des Kommunismus in seinem Land, sondern er veränderte auch. So entstand eine Bewegung, durch die das Weltreich des Kommunismus, „die große Sowjetunion“ auseinanderbrach.

Im November 1989 wurde die DDR - unter Beeinflussung dieser Vorgänge - durch eine friedliche Revolution nach 40 Jahren verändert. Am 3. Oktober 1990 hörte sie auf zu existieren. Es gab eine einheitliche Währung, die D-Mark, und Deutschland erlangte wieder seine Einheit und Souveränität. Vieles hat sich verändert: zum Guten wie zum weniger Guten - Menschen sind erleichtert, aber auch verängstigt und unsicher. Viele Menschen haben keine Arbeit, soziale Nöte greifen um sich.

Im Rahmen eines großen Bau- und Erneuerungsprogramms in den 5 neuen Bundesländern konnten auch die Kirchen in Seyda und Morxdorf teilweise renoviert werden.

An der friedlichen Revolution hatten die Kirchen großen Anteil - heute ist die Kirche weithin nicht gefragt.

Wir hoffen aber, daß wir nicht „Museen“ ausbauen, sondern Kirchen, in denen sich die Gemeinde trifft und nach dem Evangelium lebt.

Seyda, im Juli 1992

Wo der Herr nicht das Haus baut,

so arbeiten umsonst, die daran bauen!            Psalm 127,1

Podstawa, Pfarrer.“

 

Pfarrer Podstawa spricht die großen Veränderungen an: die Läden waren jetzt voll, keine Mangelwirtschaft mehr; aber die Arbeitsstellen wurden knapp: Die „LPG“, „Landwirtschaftliche Produktionsgenossenschaft“, bei der bisher die meisten Menschen im ländlichen Raum beschäftigt waren, wurde in Seyda zu einer „Agrargenossenschaft Seydaland“, die nur noch einen Teil der Beschäftigten behielt. Viele mußten sich Arbeit in Westdeutschland suchen, pendelten hin und her oder zogen weg. Die Bevölkerung nimmt rapide ab. Für Jugendliche oder junge Familie gibt es kaum Perspektiven. Für viele wurde der „Lebensplan“ durchkreuzt, in dem sie die Arbeit verloren. Das Leben in einer Gesellschaft, in der man selbst verantwortlich ist und nicht mehr vom Staat „betreut“ wird, mußte schwer gelernt werden.

Die Stadtverordneten sammelten persönlich in den Häusern für die Turmuhr, die ein neues Ziffernblatt mit goldenen Zahlen und Zeigern erhielt sowie computer- und funkgesteuert arbeitet. Ein solches Zusammengehen von Stadt und Kirche war neu und ungewohnt, möglich aber, weil etliche Gemeindeglieder nun auch im Stadtrat saßen und man allgemein „der Kirche etwas Gutes tun“ wollte, schließlich steht sie mitten in der Stadt.

 

Die neue Freiheit, ohne Zensur zu schreiben und auch Zeitungen herauszugeben, wurde in Seyda genutzt, in dem der „Seydaer Stadt- und Landbote“ wieder erschien. Nach und nach aber stellten sich dann auch die Regionalzeitungen um und berichten regelmäßig aus Seyda, so dass es nur wenige Ausgaben dieser Seydaer Zeitung gab.

(5 Ausgaben erschienen, vom März bis zum Oktober 1990).

 

Am 18. Oktober 1991 wurde der „Gustav-von-Diest“ Verein neu gegründet und übernahm die Verantwortung für den „Diest-Hof“, wie sich die ehemalige Arbeiterkolonie nun nannte. In der Satzung des Vereins heißt es:  „Der Gustav-von-Diest-Verein ist eine diakonische Einrichtung und gehört durch seine Mitgliedschaft im Diakonischen Werk in der Kirchenprovinz Sachsen e.V. dem Diakonischen Werk der Evangelischen Kirche in Deutschland an.

Der Verein sieht seine Aufgabe darin, in Wahrnehmung der durch Jesus Christus erwiesenen Liebe und der von ihm gebotenen Verantwortung insbesondere behinderte Menschen zu fördern und zu begleiten.“

Der Diest-Hof ist also auch weiterhin ein Ort christlichen Lebens. Er hat über viele Jahre dazu beigetragen, dass Menschen mit geistiger Behinderung auch in unserer Stadt und im Umkreis akzeptiert sind und der Umgang mit ihnen selbstverständlich ist. Die Bewohner des Diest-Hofes haben, soweit es ihre Behinderung zuläßt, große Freiheiten. Man trifft sie häufig auf Spaziergängen.

Das „Sommerfest“ des Diest-Hofes entwickelte sich zum größten und buntesten Fest der Stadt, in dem mit viel Kreativität Gemeinschaft und Lebensfreude Ausdruck finden.

Mit der Wende gab es auch für die Behindertenarbeit neue Möglichkeiten. 1997 konnten auf dem Diest-Hof zwei ganz neue Wohnhäuser eingeweiht werden. Dazu waren viele Menschen gekommen, ein Bischof aus Tansania sprach den Segen.

 

Leider kam es zwischen der Kirchengemeinde und dem Diest-Hof über einige Jahre auch zu größeren Spannungen. Sie entwickelten sich wohl daraus, dass der Gottesdienstbesuch in Seyda auf eine sehr kleine Zahl zusammengeschrumpft war. Man stelle sich vor: Die Kirchtür geht auf, und herein kommt eine große Gruppe geistig Behinderter, umringt und umarmt das kleine Häuflein und feiert den Gottesdienst auf seine Weise mit. - Solche Erfahrungen führten zu einem Ruf nach Trennung von Gemeinde- und Pflegeheimgottesdiensten, entsprechender Reaktion („Ausgrenzung!“) und vielfältigen Auseinandersetzungen.

Glücklicherweise aber konnten diese Spannungen durch gegenseitiges Aufeinanderzugehen überwunden werden, und die Bewohner und die Mitarbeiter des Diest-Hofes tragen heute sehr zur Bereicherung des Gemeindelebens in Seyda bei. Dieses Aufeinanderzugehen wird immer neu nötig sein.

 

Pfarrer Podstawa mußte Seyda bald wieder verlassen, weil seine Frau schwer krank wurde. Er blieb der Gemeinde aber bis zu seinem plötzlichen Tod 1998 verbunden, auch mit Vertretungsgottesdiensten, Gerüstbau und der Organisation von Gemeindefahrten mit und zur Partnergemeinde.

Die Konfirmandenzahlen hatten nach der Wende zugenommen, die „Jugendweihe“, die ein Bekenntnis zum sozialistischen Staat gewesen war („Ja, das geloben wir!“) schien nicht mehr recht zeitgemäß. Das änderte sich bald wieder, sowohl, weil die Organisatoren der Jugendweihe sich umstellten, ein wenig vielleicht auch, weil die Kirche nicht die Kraft hatte, alle Jugendlichen aufzunehmen. Schließlich gehört zur Konfirmation ein ordentlicher Unterricht und ein Bekenntnis; die Jugendweihe ist heute ohne all das für 50 Mark zu haben.

Der Gottesdienstbesuch nahm in der Vakanzzeit noch weiter ab und erreichte seinen Tiefstand im Sommer 1993, als einmal nur drei Leute zum Gottesdienst erschienen waren.

 

Das Pfarrhaus wurde 1993 renoviert, mit dem Gemeinderäumen, Gemeindeküche und -toiletten, einer Heizungsanlage.

 

Am 22. August 1993 wurde ich, Thomas Meinhof, in der Seydaer Kirche zum Pfarrer ordiniert. Besonders wichtig ist mir, wie anderen Pfarrern vor mir, die Feier des Gottesdienstes. An jedem 2. Sonntag im Monat und an den Feiertagen feiern wir miteinander das Abendmahl. Mit Hilfe von fleißigen Helfern findet seit 1993 an jedem Sonntag Kindergottesdienst statt. Beim ersten Gemeindeabend kam der Vorschlag, ein Gemeindecafé einzuführen, was wir seitdem nun auch nach jedem Gottesdienst (außer am Karfreitag) haben.

1994 bis 1995 konnte die Kirche auch innen renoviert werden. Begonnen hat es mit einer Sicherung von Dachbalken, die sehr angegriffen waren, und dem Schließen des Daches. Eine Läuteanlage wurde installiert, so dass seit Mai 1994 wieder ein Abendläuten um 18 Uhr stattfindet.

Die Renovierung geschah in verschiedenen Etappen, wobei man immer nicht wußte, wie weit es gehen würde, da das Geld knapp war. Jedoch haben wir immer das gehabt, was wir brauchten, Gott sei Dank!

Den Anfang bei der Innenrenovierung machten Jugendliche aus Seyda, die mit Hilfe von Freunden aus Mainz im August 1994 den Vorraum der Kirche und die Treppenaufgänge weißten. Das Lied aus unserem Liedheft ist passenderweise aus Mainz:

„Ich will einziehn in sein Tor mit dem Herzen voller Dank, ich will treten in den Vorhof mit Preis! Denn ich weiß, dies ist der Tag, den der Herr gemacht! Ich will mich freu´n, er hat mich froh gemacht!“ (Liedheft Nr. 39).

Bei einem Geburtstagsbesuch sagte mir der Jubilant, sein Arbeitsleben sei nun zuende, aber eigentlich wäre er gern Kirchenmaler geworden. Ich meinte, dafür sei es noch nicht zu spät, und so kam es, dass Herr Harald Freiwald uns den Spruch und die Verzierungen im Vorraum wieder fachmännisch anbrachte.

Schließlich stand eines Tages auch ein großes Gerüst (von einem Baubetrieb für 17.000 DM gestellt) in der Kirche. Aber kein Baubetrieb fand sich, der die Kirchendecke sichern wollte. Der Kirchenbaurat stellte fest: „Dann müssen sie das Gerüst eben wieder abbauen!“ (!!)

Doch es gab noch einen Weg. 1993 war Herr Christian Biber nach Seyda und in unsere Gemeinde gekommen, ein Rußlanddeutscher. Er wurde 1929 in Glückstal in Moldawien geboren und hatte eine lange, schwere Odyssee über Polen, Sibirien und Kirgisien hinter sich. Herr Biber half mit großem handwerklichen Geschick entscheidend beim Sichern der Decke durch das Eindrehen von Messingschrauben, dem Anbringen kleiner Netze und von Putz. So konnte die Kirche wieder hell erstrahlen! (Bei Vorarbeiten wurden frühere Anstriche gefunden: ochsenblutrot, hellblau, hellgrün.)

Das Geld war wie gesagt knapp. Oftmals kam die Gemeindekasse in die roten Zahlen. Aber es fand sich immer ein Weg! Die Denkmalpflegeschule in Potsdam machte ein Seminar über den Holzwurm und restaurierte dabei unsere Altarfiguren. Wir hatten das Holzwurmmittel zu bezahlen: 167,50 DM.

1995 fand eine Orgelsanierung unter großer Beteiligung der Gemeinde statt. Der Jessener Kantor Genterczewsky, für Seyda mit zuständig, stellte fest: „In fünf Jahren ist sie nur noch Sägemehl“. Fördergelder gab es dafür nicht, doch dieser Satz motivierte viele, etwas zu geben, und so wurde bei einer Sammlung in unserer Stadt der Betrag von 20.000 DM innerhalb weniger Wochen zusammengebracht. Der Orgelbauer lud auch ein, durch Pfeifenputzen und -streichen auf andere Weise zur Sanierung zu helfen. So standen dann Tische auf dem Kirchplatz, es war ein fröhliches Bild.

1993 hatte ich noch die Scherben der alten Buntglasfenster gefunden und auf dem Fußboden vor dem Altar zusammengepuzzelt. „Der Gute Hirte“, das war nicht schwer zu finden. Das andere Bild wußten die Frauen des „Gemeindenachmittags“ noch zu ergänzen. 1996 konnten diese Fenster wieder eingebaut werden; der Abschluß der Kirchenrenovierung, für uns ein Zeichen, dass etwas, was kaputt war, wieder heil werden kann.

Bei den Kinderkirchenferientagen im Winter wurden 1998 zwei Kirchenfenster bemalt: Petri Fischzug ist dort dargestellt: „Fahre hinaus, wo es tief ist.“ - „Auf Dein Wort, Herr, will ich die Netze auswerfen!“. Das Fenster auf der anderen Seite ist vom Deutsch-Polnischen Jugendaustausch: Die Arche Noah: Wir sitzen alle in einem Boot. (Eine besondere Freude für die Polen ist immer das polnisch-sächsische Allianzwappen auf der Empore, vgl. Band 3, S. 6).

 

Viele ließen sich wieder zur Kirche einladen, entdeckten ihre Wurzeln und ihre Heimat neu. Seit 1997 gehört wieder über die Hälfte der Bevölkerung unserer Stadt zur Kirchengemeinde. Die erste Frau, die wieder in die Kirche eintrat, rief auf dem Amt noch einige Aufregung hervor: Bisher war man nur gewohnt, Austrittsbescheinigungen auszustellen!

Von 1993 bis 1999 fanden jeden Donnerstag Gemeindeabende statt: eine Möglichkeit, sich über den Glauben und das Leben auszutauschen. Ganz verschiedene Themen wurden bedacht: aus der Bibel, über Erziehungsfragen, aus der Kirchengeschichte, mit verschiedenen Filmen.

Einige Dinge wurden neu- oder wieder eingeführt: Passionsandachten und Jugendkreuzweg, Weltgebetstag, Oster- und Johannesfeuer auf dem Diest-Hof, Maifeuer mit anderen Vereinen; Martinstag, Friedensdekade, Nikolaus, Gemeindevollversammlung; Jugendtage (Ende November, die Themen: 1993: „Jesus, light my fire“; 1994: „Mit Liebe leben“; 1995: „Mit Hoffnung leben“; 1996: „Come follow Jesus“; 1997 „Stark sein“; 1998 „Ich liebe Dich!“; 1999: „WWJD - Was würde Jesus tun?“; 2.000: „Hinterm Horizont geht´s weiter“.).

Weiterhin gab es die Christenlehre, die Frau Katechetin Gasde aus Jessen über viele Jahre, bis 1999, gehalten hat, und die es auch jetzt noch gibt. Daran hielt die Gemeinde fest, auch, als der Religionsunterricht in der Schule in Seyda wieder eingeführt wurde (1994-2000).

 

Diese „Öffnung zur Gesellschaft“, durch die Wende möglich, war eine der großen Aufgaben in den 90iger Jahren.

Bei meiner Ordination kam die Zeitung und fragte mich viele Dinge; schließlich fragte ich zurück, warum hier in der Zeitung so wenig über die Kirche berichtet würde, und warum es kein „Wort zum Sonntag“ gebe. Erstaunt wurde zurückgefragt, was das sei - aber ich konnte auf diese Einrichtung im Fernsehen und in anderen Zeitungen des Landes verweisen. Schließlich wurde mit dem „Wort zum Sonntag“ begonnen; selbstverständlich steht es heute in unseren Zeitungen, und über die Kirche wird wie über andere gesellschaftliche Gruppen berichtet.

Skepsis regte sich dabei weniger „von außen“, als innerhalb der Kirche: Man war es nicht gewohnt, solch eine „öffentliche Rolle“ zu spielen. Bisweilen fehlte das Selbstbewußtsein, der „größte und älteste Verein“ zu sein; manchmal war es auch die begründete Vorsicht, sich nicht zu überheben. Ähnlich wie bei den Medien war es auch bei den Überlegungen, den Kindergarten zu übernehmen, was 1994 möglich gewesen wäre.

 

Eine gute Zusammenarbeit entwickelte sich mit der Stadt. Gleich zu Beginn meiner Dienstzeit in Seyda wurde ich in den Stadtrat eingeladen und konnte die gemeinsamen Anliegen von Stadt und Kirche vorbringen, auch auf die christlichen Wurzeln verweisen, die unser Gemeinwesen hat.

Mit Unterstützung der Stadt konnte der Kirchplatz hergerichtet werden. ABM, „Arbeitsbeschaffungs-maßnahmen“ unter Regie der Stadt und später der „Öko-Tour-Sanierungsgesellschaft“ wurden und werden eingesetzt, um Verschönerungsarbeiten durchzuführen.

Die Kirchengemeinde versucht, über ihren spezifischen Auftrag hinaus das kulturelle Leben in Seyda zu bereichern. Jedes Jahr findet ein „Musiksommer in Seyda“ statt, in diesem Jahr trafen sich einige Interessierte auch zu einer Orgeltagung anläßlich des 175. Geburtstages des Orgelbauers Conrad Geissler. Das Lindenfest fand im Jahr 2.000 auch auf dem Kirchplatz statt, und die Kirchengemeinde brachte sich inhaltlich ein. Zu jedem Weihnachtsmarkt spielte der Schweinitzer Posaunenchor und die Kirchengemeinde lud zum Mitsingen der bekannten Weisen ein.

 

Besonders verdient um unsere Stadt hat sich Herr Bürgermeister Benesch gemacht. Unter seiner Verantwortung wurden große Teile der Stadt saniert, viele Gebäude und fast alle Straßen. Er hat dazu beigetragen, Fördermittel in Höhe von über sieben Millionen Mark seit 1993 in unser Städtchen zu holen: der Amtshof, die Bergstraße, die Brauhausgasse, der Markt, die Neue Straße, die Triftstraße: vieles ist neu geworden; dazu 122 Privathäuser in Seyda sowie die Erschließung mit Strom, Wasser und Abwasser.

Herr Benesch war früher Direktor der Seydaer Schule und hat auch den Schulneubau 1981 maßgeblich mitgestaltet.

Nicht nur für die Stadt und die Vereine, sondern auch für manchen ganz persönlich suchte er Wege, gut in die neue Zeit hineinzukommen und ihre Schwierigkeiten zu meistern.

Seine letzte öffentliche Rede hat er zum Volkstrauertag des Jahres 1999 gehalten anläßlich des Gedenkens der Opfer von Krieg und Gewalt. 1997 wurde ein Gedenkstein auf dem Friedhof gesetzt.

„Liebe Mitbürgerinnen und Bürger von Seyda!

Wir gehen mit großen Schritten dem Ende eines Jahrhunderts, ja eines Jahrtausends entgegen. Es war dies ein Jahrhundert für unser deutsches Volk und für Europa mit viel Leid.

Vor 81 Jahren ging der 1. Weltkrieg mit über 8 Millionen Opfern zu Ende. Jedoch hat diese Tatsache nicht dazu geführt, den Zweiten Weltkrieg zu verhindern. Dieser furchtbarste aller Kriege forderte 55 Millionen Tote, darunter 8,5 Millionen Deutsche. In jeder Minute dieses Krieges verloren 17 Menschen ihr Leben.

In seinen Erinnerungen beschreibt uns Herr Schlüter aus Naundorf, wie schrecklich diese Zeit war. Für dieses Zeitzeugnis danken wir ihm.

Wir kommen gerade deshalb heute zusammen, weil wir die nicht vergessen wollen, die in fremder Erde begraben sind oder die dieses Leid durchlitten haben. Schritt für Schritt haben und wollen wir uns in Seyda Erinnerungen schaffen. Mit Unterstützung von Bürgern der Stadt haben wir uns den Gedenkstein gestaltet. Dafür danken wir nochmals Frau Hähner. Die Gedenkstelle mit den Soldatengräbern wird liebevoll gepflegt, und es ist wohltuend zu sehen, daß immer frische Blumen hier stehen. Dafür ebenfalls herzlichen Dank. Dank auch dem Heimatverein, der im Heimatmuseum die Erinnerung an diese Zeit in Ausstellungen wach hält...

Ehrung in der so von mir bis jetzt aufgezeigten Weise kann nicht alles sein und würde der Zukunft nicht gerecht werden. Auf der Schleifeninschrift der Stadt steht auch „Versöhnung den Lebenden“.

Leider gehört auch heute noch Krieg und Gewalt zum Alltag. Wir blicken fassungslos auf das Morden im ehemaligen Jugoslawien in den letzten Jahren, erleben, wie die Zivilbevölkerung in Tschetschenien unter den russischen Bombardements leiden muß. Niemand weiß, wo als nächstes geschossen wird.

Wir wollen froh sein, daß man im Zentrum Europas heute den Problemen mit Verständnis und mehr Toleranz begegnet. Die sich vollziehende Europäische Einigung zeigt, daß aus Toleranz Kompromißfähigkeit wächst, welche die Grundlage bildet, daß Probleme mit friedlichen Mitteln lösbar sind.

Ich wünsche mir, daß diese Einsicht auch unser tägliches Miteinander noch stärker bestimmen sollte. Ignoranz mit Rechthaberei bestimmen noch zu sehr den täglichen Umgang.

Wo wollen wir hier in Seyda unseren Beitrag zur Versöhnung leisten; wollen wir Brücken mitbauen? Ich denke, wir haben dazu gute Ansätze und auch Regelmäßigkeiten aufgebaut:

- die Partnerschaft zu unserer Partnerschaft Lunden ist ein Beispiel, wie wir unterschiedliche Probleme zwischen Ost und West sehen und bewältigen. Gut ist, daß diese Partnerschaft an Breite gewonnen hat.

- die evangelische Kirche unter Federführung von Herrn Pfarrer Meinhof betreibt einen intensiven Jugendaustausch nach Polen und auch nach Frankreich. Es ist wichtig, daß gerade die Jugend hier ohne Vorurteile aufwächst bzw. Vorurteile auf beiden Seiten abgebaut werden. Das ist nur in mühevoller Kleinarbeit zu erreichen.

- der Moskauer Männerchor kommt regelmäßig zu uns nach Seyda. Das schafft gute Möglichkeiten, kulturelle und menschliche Werte Rußlands kennenzulernen. Der evangelischen Kirche danke ich hier für die vielen Aktivitäten.

Wenn wir hier im Kleinen mehr Verständnis und Toleranz erreichen, dann meine ich, sind wir auf dem richtigen Weg und es erwächst aus dem Gedenken an die Opfer der Kriege Hoffnung auf Frieden für die Zukunft.“

In dieser Rede wenige Tage vor seinem plötzlichen Tod hat der Bürgermeister einmal die Ereignisse dieses Jahrhunderts zusammengefaßt und Wege aufgezeigt, auf denen weiterzugehen es sich lohnt.

 

Tatsächlich hat die Kirchengemeinde in den letzten Jahren die Gemeinschaft der weltweiten Christenheit neu und hautnah erfahren können: seit 1993 singt der Moskauer Männerchor Jahr für Jahr in der Kirche; seit 1994 gibt es den Deutsch-Polnischen Jugendaustausch mit einer katholischen Gemeinde in Zary. (Eine Besonderheit dieser Begegnung ist, dass etliche, die heute in Seyda wohnen, in dieser Stadt oder umliegenden Dörfern geboren sind und als Flüchtlinge hierher kamen. Gemeinsam konnten in der Kirche zweisprachige Andachten gehalten werden.). Regelmäßig haben wir auch Kontakt und Besuch aus Lugala, einem Urwaldhospital in Tansania; auch aus Neuseeland, vom Mururoa-Atoll, wo Frankreich Atomtests durchführte, hatten wir schon einen Gast. Jugendfahrten führten uns auch nach Tschechien und Frankreich.

 

Die Freundschaft zu den hessischen Gemeinden in Oberseemen und Volkartshain wurde bereits angesprochen: jedes Jahr findet ein Besuch statt, einmal dort und einmal hier.

Die Kontakte nach Mainz zur Auferstehungsgemeinde, von denen ebenfalls schon (bei der Kirchenrenovierung) die Rede war, entstanden durch meine einmonatige Vikariatszeit dort. Auch sie werden weiter gepflegt.

 

Natürlich ist nicht immer Besuch da. Zum Alltag gehört der beleuchtete Kirchturm (seit 1994), viel Freude bei Taufen, Konfirmationen, Hochzeiten, Goldenen Hochzeiten - aber auch manches Leid; Sorgen um die Arbeit, die Kinder, die Gesundheit, den Beruf; schmerzliche Todesfälle.

Die 90iger Jahre unseres Jahrhunderts brachten ein hohes Verkehrsaufkommen mit sich. Für die Arbeit und für das Einkaufen braucht fast jede Familie mindestens ein Fahrzeug.

Dieser Fortschritt führte zu eine großen Zahl tragischer Unfälle, wobei auch junge Menschen unserer Gemeinde ums Leben kamen.

 

Zum Alltag in der Kirchengemeinde gehört unser Gesangbuch, das am 1. Mai 1994 mit einem Kirchentag in Jessen für den Kirchenkreis eingeführt wurde. In Seyda haben wir auch ein Liedheft. Zum Gottesdienst waren heute, am 20. Sonntag nach Trinitatis 2.000, 57 Besucher da. Jeden Morgen gibt es - werktags - eine Andacht in der Kirche, um 7 Uhr.

 

Das Kirchenarchiv konnte aufgearbeitet werden. Frau Irmgard Grützbach aus Ruhlsdorf schrieb in fleißiger Arbeit in zwei Jahren alle Kirchenbücher ab, so dass wir sie jetzt digitalisiert haben. Sie ordnete auch das Archiv neu, durch ihre Mühe ist es möglich, diese Geschichte zu schreiben.

 

Am 11. April 1997 wurde ein „Christlicher Verein Junger Menschen“ für Seyda gegründet. Mit ihm soll die kirchliche Jugendarbeit in die Verantwortung vieler gestellt werden. Zum 1. Juli 1997 wurde das „Häuschen“ am Kirchplatz 3 von der Stadt gepachtet und begonnen, es in Eigenleistung der Jugendlichen wieder herzustellen. Doch schon bald meldete sich ein Immobilienhändler, der es kaufen wollte. Deshalb mußten wir uns entscheiden, am Aschermittwoch 1998 wurde das Haus mit dem Grundstück erworben. Es ist um 1740 erbaut, ein Armenhaus, und hat die Jugendlichen in vielen Aufbaustunden beschäftigt.

Am 15. Oktober 1999 bekamen wir den 1. Preis eines deutschlandweiten Wettbewerbs „Einen CVJM gründen“ überreicht, 5.000 DM, durch CVJM-Generalsekretär Parzany.

 

Im Sommer 1999 wurde die Pfarrscheune ausgeräumt und mit Beton ausgegossen und konnte seitdem für zahlreiche Veranstaltungen, insbesondere für Kinder und Jugendliche, genutzt werden.

Im Kirchplatz 2 wohnten in den 90iger Jahren Mitarbeiter des Diest-Hofes, die viel in Eigenleistung zum Erhalt des Hauses beitrugen. Jetzt steht das Haus seit einem Jahr leer, wir hoffen, einen kirchlichen Mitarbeiter im Ruhestand zu finden, der dort einzieht und die Gemeindearbeit unterstützen kann.

 

Der Erwerb des Häuschens am Kirchplatz 3 war zum ersten Mal seit Jahrzehnten wieder eine räumliche Erweiterung der kirchlichen Arbeit in Seyda - nachdem es über so viele Jahre „Rückzug“ gegeben hatte.

Im Sommer des Jahres 1998 wurde uns eine CD-ROM geschenkt, in der unsere Kirchengemeinde vorgestellt wird und die Orgel zu hören ist; seit Beginn des Jahres 1999 ist die Kirchengemeinde im Internet präsent. Zum Christfest 1999 bekamen wir drei Computer geschenkt, die nun in der „Denkfabrik“ des CVJM-Hauses genutzt werden. Der CVJM kann im Auftrag der Stadt die Homepage von Seyda gestalten: „www.seyda.de“.

 

Gute Kontakte gibt es weiterhin zur katholischen Gemeinde. Insbesondere die jährlich stattfindenden Kinderzeltlager, „Kinderkirchenferientage“, nutzen das Material der „RKW“, was uns die katholische Ordensschwester aus Elster mitbringt. Birken kommen zu Fronleichnam aus Seyda, dafür ein Weihnachtsbaum aus Elster; die Sternsinger treten zum Gemeindenachmittag im Pfarrhaus auf - so gibt es vielfältige Begegnungen. Angefangen hat es einmal mit der Kirchenreinigung 1993: „Der gehört den Katholiken!“ rief es von der Empore herunter, als ich einen Schrank öffnen wollte. Natürlich habe ich dennoch hineingeschaut - und fand alte Gesangbücher, Liturgiezettel (noch lateinisch, vor dem Konzil), Caritas-Sammlungskarten von 1955, die Pfeife und den Tabak vom Priester, alles unberührt über viele Jahre, ein Zeichen dafür, dass hier in den 50iger Jahren regelmäßig katholische Gottesdienste gefeiert worden sind. Das schaffte ich zusammen mit einem großen Marienbild nach Elster zur Katholischen Kuratie. Der Martinstag in Seyda 1993, der erste nach längerer Zeit, wurde von Firmlingen und Konfirmanden gestaltet.

1994 kam eine ältere katholische Frau: „Ihnen kann ich ihn geben, Herr Pfarrer!“ - und überreichte einen Kirchenschlüssel unserer Kirche. Es ist der einzige, den wir nun noch im Original haben, mit einem Stern im Bart: alle anderen waren inzwischen verlorengegangen und wurden durch Duplikate ersetzt.

 

Der Pfarrbereich wurde 1999 einmal kurzzeitig um Linda und Neuerstadt erweitert, seit dem 1. Juli 2.000 gehören Naundorf und Mark Friedersdorf dazu, gemeinsam mit Lüttchenseyda und Schadewalde, Gadegast, Mellnitz, Morxdorf und Mark Zwuschen, Zemnick und Wolfwinkel. Zwischen den Gemeinden gibt es vielfältige Verbindungen.

1999 gab es neue Stellenplanentwürfe, in denen die Pfarrstelle Seyda nicht mehr vorkam. Der Gemeindekirchenrat reagierte darauf, und so konnten diese Pläne revidiert werden, jedoch mit der Aussicht, dass sich der Bereich bald noch vergrößern wird.

Ein Schatz der Kirchengemeinde ist - nicht nur deshalb - die Schar der ehrenamtlichen Mitarbeiter - im Kindergottesdienst, bei der Jugendarbeit, zur Vorbereitung des Gottesdienstes, bei der Pflege der Räumlichkeiten, dem Treffen des Gemeindenachmittages, der Hilfe bei der Beköstigung und Unterbringung der Besucher, im Gemeindekirchenrat - und an vielen anderen Stellen.

Da gibt es wichtige kleine, alltägliche Dienste, aber bisweilen auch Besonderes: So konnte zum Beispiel die „Straßensammlung“ einmal anders durchgeführt werden - unterstützt durch eine Benefizvorführung der Zirkusfamilie Hein. Beim Regionalgottesdienst in Seyda am 8. Oktober 2.000 mit den Gemeinden der Region Holzdorf-Schweinitz-Jessen-Seyda flogen bunte Luftballons in den Himmel, mit einer Botschaft und dem Bibelwort: „Gott, der Herr, denkt an uns und segnet uns.“ (Psalm 115,12).

 

Nachwort

Innerhalb von wenigen Tagen, meistens in den „Randstunden“, habe ich nun diese Geschichte fertigstellen können. Das mag manche Flüchtigkeit entschuldigen - schließlich gibt es andere, dringendere Aufgaben für mich, als eine Chronik zu schreiben. Dennoch bin ich für jede Kritik dankbar und werde versuchen, sie in einer späteren Auflage zu berücksichtigen.

Ich bin kein Historiker - deshalb war ich frei davon, alle historischen Details zu bringen. Für mich ist dies eine „Glaubensgeschichte“:

„Himmel und Erde werden vergehen“, sagt Jesus, „aber meine Worte vergehen nicht.“ (Mt 24,35). Es fasziniert mich, dies ein wenig nachverfolgen und entdecken zu können, in diesen tausend Jahren. Gleichzeitig möchte ich gern aufzeigen: Das sind unsere Wurzeln, da kommen wir her. So haben unsere Väter und Mütter geglaubt und gelebt.

Die Betrachtung der Geschichte kann uns vor mancherlei Hochmut bewahren, wenn wir das städtische und kirchliche Leben vergangener Jahrhunderte sehen. Vier Glocken läuteten einmal von unserem Kirchturm!

Sie möchte uns vor allem aber Mut machen! Wenn wir meinen, wir hätten etwa schlimme Zeiten heutzutage, so können wir darauf schauen, wie unsere Vorfahren große und größte Lasten im Vertrauen auf Gott tragen konnten. Wir werden einmal nicht mehr hier sein, die Zeiten ändern sich: aber die Gemeinde Gottes wird da sein, „die Pforten der Hölle werden sie nicht überwinden“.  (Mt 16,18).

Vielen ist Dank zu sagen, die zu dieser Geschichte beigetragen haben. Der „Gemeindenachmittag“ wurde schon oft erwähnt, auch Frau Grützbach ist schon genannt worden. Herr Max Herbert Rietdorf besorgte mir die „Heimatgrüße“ und viel Material, Frau Bärbel Schiepel hat reichlich zur Erforschung der Stadtgeschichte beigetragen, ihr Buch „Seyda - Ein Spaziergang durch die Vergangenheit“ ist sehr zu empfehlen.

 

„Die Güte des Herrn ist´s, das wir nicht gar aus sind

- seine Barmherzigkeit hat noch kein Ende.“

(Klgl 3,22).

 

Gott segne Seyda!

 

Liste der Superintendenten, Diakone und Pfarrer, die in Seyda wohnten

 

Die Diakone waren gleichzeitig Pastoren für Mellnitz und Morxdorf.

 

1527 bis 1540 Bartholomäus Rieseberg

1541 bis 1544 Diakon Casparus Rot

1553 bis 1592 Oberpfarrer und Superintendent Casparus Rot

1562 bis 1572 Diakon Andreas Örtel

1635/36 Superintendent Mühlig

bis 1719 Superintendent Andreas Gormann

1709 bis 1715 Diakon Peter Paul Koch

1723 Diakon Augusti Gibbert

1719 Paul Gottlieb Hoffmann (?)

(vgl. dazu das Seydaer Kirchenarchiv, Findbuch 165, 3: Schreiben vom 1. November 1719 aus Wittenberg vom „Consistorii alda Verordnete

an Paul Gottlieb Hoffmannen, Pfarrer und Superintendenten in Seyda“)

1720? bis 1725 Superintendent Arnold (?: 1725 Dorothea Maria Arnold heiratet, der Stiefvater ist Superintendent in Seyda)

1725/26 bis 1770 Superintendent Johannes Zacharias Hilliger

1729 stirbt Johann Christoph Scheere, Diakon (auch „Kaplan“), in Morxdorf beerdigt

1732 stirbt Johann Jacobi, Diakon in Seyda

1734 Sup. Hilligers 36 Monate alte Tochter wird in der Kirche beigesetzt

1736 Diakon Heinrich Henniger

1739 Diakon Johann Gottlob Medim wird in Mellnitz beerdigt

1740 Diakon Johann Gottlieb Horweig heiratet in Seyda

1743 bis 1746 Diakon Christoph Gotthelf Schneider (Schmieder)

1750-52 Diakon Gottlob Samuel Gliege, „Schneider und Substitut in Seyda“

1759 Diakon Augustin Peter,  17 Jahre (?), in der Kirche in Morxdorf beigesetzt

1762 bis 1769 Diakon Christoph Arnold

1770 Superintendent Johannes Zacharias Hilliger gestorben (Bild in der Kirche), mit 77 Jahren, 45 Jahre Pastor in Seyda

1771 Superintendent Medicke

1771 Frau des Sup. Medicke in Kirchengruft begraben

1781 (Diakon) Carl Gottlob Burckhard, „Caplan in Seyda“, in Mellnitzer Kirche begraben

1784 bis 1789 Superintendent Christian Gottfried Kuttner,

1786 Diakon Gotthelf Bernhard Jabin heiratet. Er war dann von 1788 bis 1811 Pfarrer in Stolzenhain, dort ist sein selbstgeschriebener Lebenslauf noch vorhanden; „ein großer Blumenfreund, der den Kirchgängern aus seinem lumengarten schöne „Husche“ reichte und mit jedermann freundlich war“ (Vgl. Die Geschichte der Kirche in Linda, Seyda 2.000).

1790 bis 1795 Diakon Gottfried Heinrich Oertel

1796 bis 1801 Diakon Traugott Lebrecht Richter

1798 Kantor und Lehrer Gotthelf Benjamin Ludwig heiratet, er stirbt 1832 als Pfarrer in Mügeln

1803 Diakon Johann Gottlob Horst heiratet und stirbt

1804 Diakon Andreas Gustav Patau

1807 Superintendent Johann Wilhelm Hilliger stirbt im Alter von 71 Jahren (Grabmal neben der Kirche)

1810 Diakon Joseph Ehregott Jacobi heiratet, 1816 wieder erwähnt („Pastor für Mellnitz und Morxdorf“)

1819 Diakon Carl Adolph Lindemann heiratet, bis 1822 erwähnt

1830 bis 1833 Diakon Ambrosius Ziegler

1833 bis 1841 Diakon Carl Gottlieb Moritz Stich, heiratet eine „Ruperti“

1837 Superintendent Carl Wilhelm Theophilus Camenz stirbt im Alter von 67 Jahren

1843 bis 1848 Diakon Oscar Wilhelm Lebrecht Nietzsche (auch „Pfarrer für Mellnitz und Morxdorf“)

1848 bis 1851 Superintendent Parreidt

1858 bis 1864 Diakon Ernst Ehregott Ferdinand Müller

1852 bis 1871 Superintendent Friedrich Christoph Jacobi

(seit 1852 besorgt der Sup. auch die Liturgie beim Gottesdienst, bis dahin machte das der Diakonus).

1871 bis 1876 Diakon Dr. Benoni Max Georg Mornburg

1877 Superintendentur aufgelöst, Superintendenten werden „Oberpfarrer“

1878 bis 1883 Diakon Georg Gotthold Jentzsch

1878 Oberpfarrer Johann Friedrich August Rietz

1880 Oberpfarrer Johann Friedrich August Rietz heiratet in Seyda, 1884 noch erwähnt

1887 bis 1902 Diakon Friedrich August Cremer (stiftete Altarbibel für Morxdorf)

1899 (Superintendent) Carl Friedrich Albert Glaser erwähnt

1904 bis 1913 Diakon Otto Carl Heinecke, heiratet die Tochter des Diakonenvorgängers Cremer, großer Heimatfreund, geht dann nach Berlin

1913 bis 1922 Oberpfarrer Dörge

1915 Pastor Ludwig Wittkopp (später in Elster)

1926 bis 1931 Dr. phil Theodor Graf, seine Tochter ist 1901 in Rumänien geboren

1931 bis 1932 Vakanzvertretungen

1932 Pfarrer Walther Mücksch

(Hochzeit August 1932 in Seyda; als Oberkonsistorialrat i.R. 1993 verstorben, Mitglied der Bekennenden Kirche)

1935 Hermann Heinrich Ostermann, im Krieg gefallen (Feldprediger in Rumänien)

1936 unbesetzt, Verwaltung durch Prädikant Hagendorf

1953 inhaftiert, 1954 Redeverbot, Flucht nach Westdeutschland, verstorben 1998

1945 (wenige Monate) Pastor Lent, Flüchtling, geht im Oktober 45 nach Bülzig, verstorben 1984

1955 Helmut Leopold Meurer Diakon und Anstaltsleiter in der Arbeiterkolonie

1954 bis 1962 Vikar, später Pfarrer Rufried Eberhard Mauer, jetzt im Ruhestand in Magdeburg

1963 bis 1975 Pfarrer Günther Schlauraff, nach Kühndorf in Thüringen verzogen

1978 bis 1987 Vikar und Pfarrer Roland Wolfram Schaeper, ging nach Röbel an der Müritz, später Religionslehrer in Neubrandenburg

1989 bis 1992 Pfarrer Dieter Podstawa, mußte wegen Pflegefall der Frau Seyda verlassen (Versetzung in den Wartestand), in Wittenberg, verstorben im Dezember 1998.

1993 bis 2000 Pfarrer Thomas Meinhof (Hochzeit August 1997 in Seyda)

 

Quellen- und Literaturverzeichnis:

 

Böttcher, Christina/Kathe, Heinz: Geschichte Sachsen-Anhalts in Karte, Bild und Text, Merseburg 1991.

 

Brachwitz, Oskar: Geschichtliche Bilder vom Süd-Fläming und aus der Elbe-Elster-Gegend.

 

Brocke, Michael/Ruthenberg, Eckehart/Schulenburg, Kai Uwe: Stein und Name. Die jüdischen Friedhöfe in Ostdeutschland (Neue Bundesländer/DDR und Berlin), Berlin 1994.

 

Brockhaus - Der kleine Brockhaus: Handbuch des Wissens in einem Band, Leipzig 1927.

 

Bülow, K. v.: Geologie für jedermann: Eine erste Einführung in geologisches Denken, Arbeiten und Wissen, 5., neubearbeitete Auflage Leipzig 1956.

 

Bullock, Alan: Hitler. Biographie 1889-1945, Augsburg 2.000.

 

Dehio - Handbuch der deutschen Kunstdenkmäler: Die Bezirke Cottbus und Frankfurt/Oder. Bearbeitet im Institut für Denkmalpflege, Berlin 1987.

 

Dehio - Handbuch der deutschen Kunstdenkmäler. Der Bezirk Halle. Bearbeitet von der Abteilung Forschung des Instituts für Denkmalpflege, 2. Auflage Berlin 1978.

 

Evangelisches Gesangbuch: Ausgabe für die Evangelische Landeskirche Anhalts... die Evangelische Kirche der Kirchenprovinz Sachsen. Berlin 1993.

 

G = Geschichte Sachsen-Anhalts: Hrsg. vom Landesheimatbund Sachsen-Anhalt e.V. Red. Gerlinde Schlenker...). München, 1993. Band 1: Mittelalter. Band 2: Reformation bis Reichsgründung 1871.

 

Gasper, Hans/Müller, Joachim/Valentin, Friedrike: Lexikon der Sekten, Sondergruppen und Weltanschauungen. Fakten, Hintergründe, Klärungen, Freiburg 1990.

 

Heimatbuch für den Kreis Jessen 1993.

 

HG = Heimatgrüße. Evangelisches Monatsblatt (für den Kirchenkreis Zahna), 1913-1936.

 

Heimatkalender 1999: Lutherstadt Wittenberg & Landkreis Wittenberg, Wittenberg 1998.

 

Helmold von Bosau: Slawenchronik. Neu übertragen und erläutert von Heinz Stoob. Ausgewählte Quellen zur deutschen Geschichte des Mittelalters, Freiherr vom Stein-Gedächtnisausgabe Band XIX, hrsg. von Rudolf Buchner und fortgeführt von Franz-Josef Schmale, Darmstadt 1990.

 

HK = Heimatkurier. Mitteilungs- und Heimatblatt der Verwaltungsgemeinschaft Elster-Seyda-Klöden, 1994-2000.

 

Jankowiak, Christa und Johannes: Im Fläming, 2. Auflage Leipzig 1988.

 

Kaufmann, Thomas: Dreißigjähriger Krieg und Westfälischer Friede:

Kirchengeschichtliche Studien zur lutherischen Konfessionskultur. Beiträge zur historischen Theologie Band 104, Tübingen 1998.

 

KuThGiQ = Kirchen- und Theologiegeschichte in Quellen, Band IV/1 und 2; hrsg. von Hans-Walter Krumwiede, Martin Greschat, Manfred Jacobs, Andreas Lindt. Neukirchen-Vluyn, 3. Auflage 1989.

 

Kötzschke, Rudolf/Kretzschmar, Hellmut: Sächsische Geschichte, Augsburg 1995.

 

von Krockow, Christian Graf: Friedrich der Große. Ein Lebensbild, 5. Auflage München 1998.

 

Meier, Kurt: Der evangelische Kirchenkampf: Gesamtdarstellung in drei Bänden. Band 3: Im Zeichen des Zweiten Weltkrieges, Halle 1984.

 

Mitteldeutscher Heimatatlas, 2. Auflage. Hrsg. von O. Schlüter und O. August, Leipzig 1957.

 

Nolte, Hans-Heinrich: Kleine Geschichte Rußlands, Stuttgart 1998.

 

Pfeifer, Viola: Feldsteinkirchen im Fläming. Ein kunsthistorischer Führer, Berlin 1997.

 

Schiepel, Bärbel: Seyda und Umgebung. Ein Spaziergang durch die Vergangenheit. Horb am Neckar 1997.

 

Schildt, Joachim: Abriß der Geschichte der deutschen Sprache. Zum Verhältnis von Gesellschafts- und Sprachgeschichte. Sammlung Akademie-Verlag, 2., durchgesehene Auflage Berlin 1981.

 

Thiemar von Merseburg: Chronik. Ausgewählte Quellen zur deutschen Geschichte des Mittelalters Band IX, Freiherr vom Stein-Gedächtnisausgabe, hrsg. von Rudolf Buchner, Darmstadt 1985.

 

 

Urkundliche Chronik der Stadt Jüterbog, 1841. Reprint 1997.

 

Zeitschrift des Vereins für Kirchengeschichte der Provinz Sachsen und des Freistaats Anhalt, 35. Jahrgang, 1939.

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Vater Unser im Himmel!

Geheiligt werde Dein Name!

Dein Reich komme!

Dein Wille geschehe,

wie im Himmel, so auf Erden!
Unser tägliches Brot gib uns heute!

und vergib uns unsere Schuld,

die auch wir vergeben unseren Schuldigern!

Und führe uns nicht in Versuchung

sondern erlöse uns von dem Bösen!

Denn Dein ist das Reich

und die Kraft

und die Herrlichkeit

in Ewigkeit!

Amen.