Der Kaufmann mit der weißen Fahne.
Willy Kaatz in Seyda.
„Seid
fröhlich in Hoffnung,
geduldig in Trübsal,
haltet an am Gebet.“
Röm
12,12
(Konfirmationsspruch
seiner Tochter Ursula 1936)
2.,
ergänzte Auflage 13. März 2021
Im Februar 2021 gab es wieder einmal Hoffnung
auf einen Lebensmittelmarkt in Seyda. Für die Recherchen besorgte ich mir den
Schlüssel vom Grundstück am Seydaer Markt 20. Es hat eine gute Größe, 600
Quadratmeter, und ich inspizierte das baufällige Gebäude bis unter das Dach.
Die Böden sind am Einstürzen, seit Jahrzehnten sind Laden und Wohnung
unbenutzt. Was ich im Staub des alten Dachbodens unter den Balken fand, ist ein
Schatz aus der Seydaer Geschichte.
Hinter der über die Jahre angewachsenen
grauen, manchmal klebrigen und feuchten Schicht auf den Papieren tauchte eine
ferne Zeit auf. Zeiten der Fülle und des Überflusses, aber auch harte Notzeiten
hat der alte Kaufladen am Markt gesehen. Geführt hat ihn seit Beginn der
dreißiger Jahre der Kaufmann Willy Kaatz, fast 40 Jahre lang.
Die Wurzeln seiner Familie reichen in den
ehemaligen Osten Deutschlands. In Schneidemühl wohnte noch ein Onkel, über den
er eine Millionenerbschaft gemacht zu haben glaubte – der er allerdings
jahrelang hinterherlief und sie nie in die Hände bekam. Es waren Vorfahren,
Jacob und Johann Michael Müller, nach Amerika ausgewandert. Im Mittleren
Westen, in Wisconsin, war letzterer nun gestorben und hatte auf einer Bank in Chicago 1 Million und
50.000 Dollar für die Erben deponiert, eine beachtliche Geldsumme, die damals
noch ungleich mehr wert war als heute. Der zuhause gebliebene Bruder Gustav
hatte sich mit den anderen wohl „sehr schlecht gestanden“, aber beim Erben ist
das nicht entscheidend, zumal er auch schon verstorben war. Sein Neffe aus
Schneidemühl bat Willy Kaatz, der offensichtlich auch in den Kreis der
potentiellen Erben gehörte, 1937: „Ich würde es für gut halten, wenn Ihr euch
an den Präsidenten Roosevelt wenden würdet.“ 1938 schreibt er von
Verhandlungen, die über den damaligen Außenminister Ribbentrop liefen, und: „Dein
Schwager hat gute Beziehungen zur Reichsregierung, wenn er es in die Hand
nimmt, dass es dann noch schneller geht“. Aber die Zeiten waren ungünstig wegen
des heraufziehenden Krieges, im Krieg wurden Vermögen von Deutschen dann
eingefroren, und danach (1948) ist dann jener Verwandte nicht mehr zu finden –
Schneidemühl war nicht mehr deutsch, und das Fiasko des Krieges war über die
Stadt gekommen. Dr. Weidauer, später Schwiegersohn von Willy Kaatz, versuchte
es da über seinen in die USA emigrierten Onkel. All das kann man aus den
vergilbten Papieren vom Dachboden herauslesen. Natürlich ist es wie ein großes
Puzzlespiel, wo Teile fehlen.
Sein Geld hat Willy Kaatz jedenfalls selbst
verdienen müssen, in wechselnden Zeiten. Weil 1948 das Papier sehr knapp war,
schrieb er die ohnehin schmalen Geschäftsberichte auf die Rückseiten alter
Rechnungen. So findet man, dass er in Jüterbog in der Pferdestraße 26 einen
Eisenwarenhandel betrieb, und auch in Auszügen einen Erbvertrag: Willy Kaatz
erbt nach dem Tod des Vaters Rudolf Kaatz (verstorben am 9. Januar 1922 in
Klücken Kreis Pyritz) und muss dafür die Mutter Elise Kaatz umfassend
versorgen: Bis zu ihrem Tode zwei beheizbare Stuben und ein eigener Eingang,
tägliches Mitessen, Taschengeld, Reisegeld – das alles und noch vieles mehr bis
zu ihrem Tode, und dann ein ordentliches Begräbnis. Auch die Kosten für die
Übersiedlung aus Landsberg/Warthe waren zu tragen. Im Seydaer Kirchenbuch kann
man finden, dass Frau Elisa Kaatz im November 1943 mit 76 Jahren verstorben ist.
Als
weitere Kinder und damit Geschwister von Willy Kaatz werden der Regierungsrat
Paul Kaatz und Lucia Pohl geb. Kaatz genannt. Letztere wohnen wohl weiter in
Landsberg, denn in einem Schreiben vom 1. Juli 1925 geht es um den Verbleib des
Klaviers und der „Rehgehörne“ der Familie, wo ihre Adresse dort genannt ist.
Die gefundenen Briefe legen nahe, dass der
Kaufmann seine Braut in Jüterbog kennenlernte. In der Pferdestraße 54 – also
unweit des Geschäfts - wohnte 1948 eine Schwester seiner Frau, Gertrud Ewald.
Eine Nachfrage bei Frau Ursula Lehmann geb. Knape, damals Bäckerstochter auf
dem Seydaer Markt gegenüber, ergab, dass ihr Vater als Geselle auch in
Jüterbog gearbeitet hatte und die neue Kaufmannsfrau als Tochter des
Bäckers Schüring aus Jüterbog erkannte.
Ein wunderbarer gedruckter Briefkopf ist von
1925 zu finden: Willy Kaatz Eisenwaren, Wirtschaftsartikel, Waffen und Munition
– Jüterbog, Pferdestraße 26.
Jacob
Ravené Söhne, Berlin SW 19 waren wohl Großhändler, die ihn belieferten, zum
Beispiel im Dezember 1927 mit fünf Stück Rodelschlitten… So finden sich
verschiedene Dinge, die das Sortiment des Jüterboger Ladens vorstellbar machen:
Zum Beispiel ½ Dutzend Taschenmesser, Haushaltsmühlen, häufig
„Aräometercylinder“ („Glasware“; ein Aräometer ist ein Messgerät
zur Bestimmung der Dichte oder des spezifischen Gewichts von Flüssigkeiten).
Die älteste Rechnung ist von 1923 an „Willi Kaatz, Jüterbog“, die jüngste von
1931 („Willi Kaatz, Eisenwaren.“)
Am
9. Mai 1930 wird auf einer Rechnung vermerkt: „Goldmark“! Offensichtlich traute
man dem Papiergeld noch nicht recht.
Im Juli 1932 war die Familie dann in Seyda.
Zunächst hatten sie den Kolonialwarenladen von Wahles (wo jetzt die Bäckerei
Kotte verkauft), die aus Altersgründen vermieteten.
Im
Laden gab es „Schokoladenmaikäfer und Schokoladentauben“, das Sortiment hatte
sich also deutlich verändert, aber etliche alte Lieferanten blieben doch
erhalten, so waren auch Haushaltsgeräte im Angebot, aber vor allem gab es
Lebensmittel. Am 3. August 1933 schreibt „Kaisers“ aus Berlin: „Wir bedauern,
dass sich Ihre Kundschaft über unseren Kaffee beklagt hat. Ohne Lieferung einer
Probe aber können wir nichts regulieren.“ Staunen kann man über das breite
Warenangebot: Likörbohnen, Eiswaffeln, Kokosflocken, Hemden, Vasen,
Obstbodenformen, Kämme, Fugenkellen, Schraubenschlüssel, Bügelsägen… - und all
das ist ja nur eine zufällige Auswahl – was eben an Papieren nach fast 90
Jahren unter viel Unrat noch vorhanden
war.
Der
stolze Stempel sagt es aus:
Willy
Kaatz, Kolonial- und Eisenwaren, Haus- und Küchengeräte, Seyda, Bez. Halle,
Fernsprecher Nr. 52.
Die
Arztpraxis hatte die Nr. 50, das Pfarramt die 54.
1936 oder 1937 konnte Willy Kaatz das Grundstück
gegenüber, Nr. 20, erwerben. Dort war vorher eine Gastwirtschaft und ein
Kolonialwarenladen. Die alte Besitzerin „Grete Mertens“ ging nach Braunschweig,
und es wurde viel umgebaut.
Wilhelm
Merten, laut Kirchenbuch seit 1851 „Kaufmann in Seyda“, hatte einen Sohn,
Gustav Adolf Merten, der 1907 mit 57 Jahren als „Kaufmann“ starb, und einen
Enkel, Gustav Adolf Richard, geb. 1880, der ebenfalls „Kaufmann“, mit 37 Jahren
1917 in Flandern als Gefreiter gefallen ist, aber in Seyda begraben wurde.
Berta Anna Margarete Merten, geb. 1888, war seine Schwester, sie heiratete 1924
Arno Rudolf Schütz, einen Inspektor – und sie wird die Verkäuferin gewesen
sein, die in Seyda als „Grete Mertens“ in Erinnerung ist. Mertens hatten an den
Gastwirt Kurt Fränkel vermietet, dem aber der Kaufpreis zu teuer war und der
deshalb nach Zahna ging. Sein Sohn wurde gemeinsam mit der Tochter von Kaufmann
Kaatz 1936 konfirmiert – da waren Fränkels also noch in Seyda.
Die
neue Wohnung der Familie Kaatz war dann über dem Laden, da war Platz genug für
seine Frau und die 14jährige Tochter Ursula, „Ulla“ genannt, geboren am 19.
April 1922.
In den Ruinen des wohl sehr alten Hauses –
der barocke Giebel lässt auf das 18. Jahrhundert schließen - kann man den
Keller finden, im Inneren desselben eine Metalltür für die besonders wertvollen
Güter. In anderen Kellerräumen werden die Eisblöcke zur Kühlung gestanden
haben, die man im Winter aus den Teichen herausschnitt. Ein großer Backofen
mitten im Haus ist noch gut erkennbar – das allerdings war – auf den Dörfern
jedenfalls – üblich, dass jedes Bauernhaus auch einen Backofen hatte, der alle
vierzehn Tage duftende Brote und Kuchen hervorbrachte; in Seyda gab es dafür
Bäckereien, wo man seinen Teig hinbrachte. Kaatz´s ließen gegenüber, bei
Knapes, backen, der Ofen wurde also schon länger nicht genutzt.
Zu staunen ist über die vielen Seydaer
Handwerksbetriebe, die natürlich beim Kaufmann Kaatz tätig waren und ihre
Rechnungen schrieben: So gibt es einen Frachtbrief von Rudolf Wahle, dem
Ofensetzer; Rechnungen von Elektromeister Deutsch über behobene Kurzschlüsse
(allerdings eine Rechnung erst vom 1.2.52; dafür 3,5 Monteurstunden für 6,23
DM); Malermeister Götze für die Renovierung der Wohnung (auch von 1952, für
„Stube, kleine Stube und Fenster“ – das war vermutlich der letzte Anstrich).
Auch die Politik wird spürbar: 1933 will die
NSDAP im Laden – offenbar in einer groß angelegten, deutschlandweiten Aktion -
Lose verkaufen. Der Erlös soll angeblich Arbeitslose unterstützen!
Am 29. Juni 1933 wird dem Kaufmann Kaatz ein
Auto geliefert, eine 4/23PS Hanomag Limousine, aus Wittenberg. Man bedenke,
dass 1927 über den Seydaer Markt die letzte Postkutsche fuhr!
Das neue Auto wird zuerst in einem
Grundstück, was einem Georg Reinhardt aus Berlin gehört, untergestellt. Dieser
schreibt am 31. August 1933: Wegen des Brandschutzes und der „Halunken in
Seyda, die mich wieder anzeigen werden“, kann er dies nicht mehr gestatten.
Eine Frau Wegener soll es ausrichten. Sie war mit ihrem Mann als Rentnerin aus
Berlin gekommen und wohnte gut möbiliert und situiert in der Bergstraße 1.
Am 19. August 1937 erfolgt die
„Tankstellen-Übergabe“ an Willy Kaatz. Diese Information auf der Rückseite der
Abrechnung von 1948 führte mich zu der Entdeckung, dass Kaatzes eben nicht
immer in der Nr. 20, sondern vorher auf dem „Wahlschen Grundstück“ (eben wo
heute der Bäcker ist) lebten. Im November 1937 wird die Zapfstelle von dort an
die Stelle vor den neuen Kaatz´schen Laden verlegt, wo sie – als letzte Seydaer
Tankstelle – bis 1993 Bestand hatte. Das Städtchen hatte damals vier
verschiedene Zapfmöglichkeiten: bei Kaufmann Letz, Wahles, (Drogerie) Schulzes,
Pätz.
Die
Benzin-Rechnungen kommen aus Leipzig und sind – wie es in dieser Zeit üblich
war – mit „Heil Hitler!“ unterschrieben
– auf der anderen Seite des Papiers finden sich die Aufstellungen für die
Lebensmittelkarten im September 1949… Doch schon am 19. August 1938 schreibt
„OLEX“, dass Rationierungen des Kraftstoffs anstehen – der Krieg wirft seine
Schatten voraus, deutsche Truppen waren bereits in Österreich und in den
Sudeten einmarschiert.
Der Fetzen eines Briefes mit Schreibmaschine
gibt die Aufforderung preis, entsprechend den Gesetzen einen Ariernachweis zu
bringen, wenn man ein öffentliches Amt bekleiden will.
Ein behördliches Schreiben von 1941 zu
Bezugsmarken für Seife findet sich – ein trauriges Relikt, mitten aus dem
Krieg, aber mit einem schönen Stadt-Stempel von Seyda, mit Hirsch! Auch am 18.
März 1941 werden „Nährmittelkarten“ mit der Stadt abgerechnet. Deutschland hat
einen Weltkrieg begonnen, das sind die ersten Folgen in Seyda.
Der sonst so belebte Seydaer Markt veränderte
sich. Statt der Käuferscharen aus der Stadt und den umliegenden Orten kamen dann Flüchtlingszüge.
Die Fronten rückten immer näher. Nur noch ein kleiner Streifen Land in der
Mitte Deutschlands wurde von den Truppen Hitlers „gehalten“. Erst kurz vor der
endgültigen Kapitulation marschierte die Rote Armee in Seyda ein, am Sonntag,
den 22. April 1945. Straßensperren waren gebaut worden, zum Beispiel eine
Panzersperre an der Kreuzung Neue Straße/Jüterboger Straße; Eine Kanone wurde
am Schützenhaus in Stellung gebracht…
Da traf Kaufmann Kaatz mit zwei Freunden eine
Entscheidung. Es war lebensgefährlich, für ihn und seine ganze Familie. Aber
sie wollten Schlimmstes für die ganze Stadt abwenden und zogen mit einer weißen
Fahne los, Richtung Jüterbog, den Russen entgegen. Noch war viel deutsches
Militär unterwegs, auch SS – nicht nur bei den Todesmärschen, die sich hier
sammelten – und ein Aufgreifen hätte den sicheren Tod bedeutet.
Wer
waren diese drei Männer?
Karl
Käßner ist ein alter Spanienkämpfer gewesen, geboren 1908 in Plottendorf bei
Altenburg, Klempner in Seyda 1936, wo er heiratete und seinen Sohn hat taufen lassen. Als dieser ein
Jahr alt war, verschwand Karl Käßner für 9 Monate nach Spanien. Münzen aus
dieser Zeit hat er später noch seinem Enkel zeigen können – und seine
Verletzung am Zeigefinger soll er sich dort, beim Laden eines
Granatwerfers, zugezogen haben – was ihm
dann, zusammen mit seiner Kurzsichtigkeit, zur Ausmusterung verhalf. Sonst wäre
er wohl nicht in Seyda gewesen zum Kriegsende! Er wohnte damals in der Neuen
Straße 14. Wie er mit dem Kaufmann Kaatz bekannt war, lässt sich nur vermuten,
er baute wohl Kühlschränke in Schrankgröße – vielleicht war es das, was beide verband.
- Christoph Kunze taucht nicht im Kirchenbuch auf, denn er stammte nicht aus
Seyda. Er war als „Langholzfahrer“ im Sägewerk Ohls beschäftigt und mit der
Kriegerwitwe Sommer Am Busch befreundet, die er später heiratete. Die
Stieftochter erzählt, die Männer (sie weiß nur von zweien) seien „Richtung
Morxdorf“ gezogen, „um die Russen vom Schießen abzuhalten“.
Und
der Kaufmann Kaatz. Ab dem Jahrgang 1899 waren die Männer eingezogen, sonst nur
aus besonderen Gründen von der Front freigestellt. Offensichtlich war er schon
älter.
Wie es nun tatsächlich war? Die Angst vor den
Russen war groß, von der Goebbels-Propaganda geschürt – und auch durch
Erzählungen vieler Flüchtlinge belegt. Besonders aber die Männer, die an den
Fronten die brutale Grausamkeit der Deutschen gegen Russen und andere Völker
erlebt hatten, wussten, was da für eine Welle an Hass und Rache zurückschlagen
würde.
Da
loszugehen, war ein Akt großen Mutes. Wer nur konnte, versteckte sich. Viele
waren in die Heide, in die „Hädicken“, geflohen, andere auf umliegende Orte.
Was war die Motivation? Das kaufmännische Interesse allein war es nicht, es
verblasste angesichts der Todesgefahr. Da war noch mehr, das Wissen um den Wert
menschlichen Lebens und ein großer Glaube, was auch 12 Jahre Nazi-Diktatur
nicht zerstören konnten.
Der
Kaufmann Kaatz war dabei. Zuhause hatte er seine Frau und seine 23 Jahre alte
Tochter gelassen.
Es ist geglückt! Seyda wurde nicht
beschossen. Die Panzersperre war offen. Die Kanone trat nicht in Aktion. Es gab
dann mindestens 14 Tage „Chaos“, „Russenzeit“, die Gewalt regierte und es galt
kein Recht. Aber das geschah wohl besonders durch die nachfolgenden Truppen,
weniger durch die ersten Kampftruppen, die durch Seyda zogen. Sie nahmen den
mutigen Männern ihre Stiefel (der Kaufmann soll besonders feine, neue gehabt
haben, dazu eine goldene Uhr), aber sie
ließen sie am Leben und machten den Kaufmann Kaatz zum Bürgermeister in der
„Stunde Null“.
Das war ein schwerer Posten – zwischen den
Machthabern – das waren die Russen – und der Bevölkerung zu vermitteln, so gut
es eben ging, und das in großer wirtschaftlicher Not. Seyda
war überfüllt mit Flüchtlingen, über 2.000 Menschen. Täglich kamen Dutzende –
manchmal an einem Tag 100 – im ehemaligen Reichsarbeitsdienstlager am Schützenhaus
an. Sie wurden auf kleinen Karteikarten, mit Bleistift, registriert, und
verteilt.
Einer, der sich in den ersten Tagen nach
Kriegsende beim neuen Bürgermeister meldete, war Dr. Weidauer. Er hatte einen
Todesmarsch überlebt. Einer von ganz wenigen Überlebenden war er, 3000 waren
losgezogen, und er schätzte, dass knapp 60 davon tatsächlich davongekommen
waren. (So kann man es auch in einem nun gefundenen Brief lesen, der weiter
unten noch zitiert wird.) Der Bürgermeister ergriff die Situation und bestimmte
den Mann, der nur noch 72 Pfund (36 kg) wog und kaum laufen konnte, zum Arzt
für Seyda und Umgebung. Der alte Doktor war geflohen. Seyda brauchte
medizinische Betreuung.
Als Arztschwester wurde Kaatz´s Tochter
Ursula tätig – wohl hatte sie im Krieg schon eine Ausbildung als
„Rot-Kreuz-Schwester“ erfahren. Dr. Weidauer gibt später gegenüber dem
Finanzamt jedenfalls an, dass sie seit 1945 bei ihm arbeitete – auch das findet
sich in den Papieren.
Bald gab der Kaufmann seinen Posten wieder ab
– vermutlich, so bald er konnte, denn sehr beliebt machte man sich dabei
bestimmt nicht als „Handlanger der Besatzungsmacht“ – und war auf der anderen
Seite immer noch in Lebensgefahr, wenn man ein falsches Wort sagte, manchmal
reichte auch einfach ein Missverständnis.
Das
Amt bekam Herr Schinke, ein „Kommunist“, der Verwandtschaft in Seyda hatte.
Otto Dalichow, der im Ersten Weltkrieg in russischer Gefangenschaft gewesen war
und deshalb die Sprache beherrschte, was natürlich von unheimlichem Vorteil
war, dolmetschte in dieser Zeit und wurde im Oktober 1946 zum ersten frei
gewählten Bürgermeister. Er war Mitglied der CDU und konnte sich drei Jahre in
diesem Amt behaupten.
Doch Willy Kaatz hatte auch so viel zu tun.
Die Bevölkerung war zu versorgen – aber es war nichts oder jedenfalls nur wenig
da. Die Versorgung war zusammengebrochen.
Auf
dem Dachboden lag der komplette Geschäftsbericht für 1948, und er gestaltet
sich – monatsweise – sehr übersichtlich, Ausdruck des großen Mangels. Mit
Bleistift geschrieben und manchmal nicht leicht zu entziffern, weil man erst
eine dicke Staubschicht entfernen muss, manchmal auch Seiten angerissen oder
feucht sind und dazu einen unangenehmen
Duft von Verwesung verbreiten. Da findet man nun genau aufgelistet, was da war:
Wieviel Zucker, wie viel Mehl, wie viel Zündhölzer… So am 30. April 1947: „226 Eier, 7 kg
Weizenmehl, Streichhölzer keine, Seife
187 Stück, Zucker 330 kg“. Alles musste natürlich genau abgerechnet
werden, denn es gab eine Zuteilung auf Marken, noch weit in die 50iger Jahre
hinein.
Es gibt „Lieferanweisungen für
bewirtschaftete Waren“, zweisprachig, Deutsch und Russisch. Sehr genau muss der
Tabakbestand vermerkt werden, etwa am 1. Juli 1947: 0,41o gr. Rauchtabak; 2,6
Stück Kautabak. Verkauft 200 Zigaretten, 50 große Zigarren, 24 Stück Kautabak;
0,695 Rauchtabak. Ich erinnere mich an die Erzählung, wie ein russischer
Offizier mit einer Handvoll Tabakpflanzen auf den damaligen Leiter der
Arbeiterkolonie zuging und mit diesem Anbau das Überleben dieser Einrichtung
gesichert werden konnte.
Ein
Schreiben vom Landrat macht die Prioritäten deutlich: 1. Tabak (!). 2.
Spirituosen (!!). 3. Zucker. 4. Molkereieiweiß … 7. Kindernährmittel.
In den dabeiliegenden Briefen aus diesen
Jahren ist die Not besonders in den Städten dokumentiert, wo sich die Menschen
nicht vom eigenen Garten, Feld und Stall ernähren konnten. Viele, viele
Lebensmittelpakete gehen da nach Leipzig, Berlin und Dresden und dienen als
Tauschware – im Falle von Dr. Weidauer in besonderer Weise für Bücher.
Buchverleger werden gleich für mehrere Tage nach Seyda eingeladen, im „Hotel
Wucke“ in der Jüterboger Straße einquartiert und ausgiebig versorgt, zum Beispiel bei „Schlachtefesten“.
Der
Doktor selbst muss sich als „Vorsitzender des Gesundheitsaussschusses des
Kreises Schweinitz“ mit Kollegen auseinandersetzen, die es dabei wohl zu weit
trieben. In einem Brief vom 4.V.49 muss er eine „Beschwerde des Patienten
Erhard Arndt aus Wolfwinkel bei Zemnick klären“. Es geht um eine
Zahnbehandlung. Einem benachbarten Arzt wurde vorgeworfen: „Er forderte
vielmehr vor der Inangriffnahme jeglicher Behandlung 350 DM und zwei bis drei
Pfund Speck.“
Auf der Rückseite einer Geschäftsabrechnung
findet sich ein gedrucktes Blatt zur Zählung der Bevölkerung und der Erfassung,
wer in der NSDAP war. Der Kaufmann Kaatz war nicht dabei, das gab ihm die
Möglichkeit, weiter zu leben, in Seyda bleiben zu können und sein Geschäft
aufzumachen. Andere auch seines Alters wurden nun eingesperrt – auch in
Buchenwald – und sahen die Heimat nie wieder.
Dr. Weidauer berichtet, wie er Willy Kaatz,
der zu Unrecht (aber das spielte damals keine Rolle) in Jessen eingesperrt war,
dort herausholen konnte, weil der Doktor einem russischen Offizier einen großen
(medizinischen) Gefallen tat.
Ein Blankoformular für den Eintritt in die
„Liberal-Demokratische Partei Deutschlands“ von 1945 findet sich, ob er
eingetreten ist, lässt sich nicht ersehen – sein späterer Schwiegersohn, Dr.
Weidauer, war jedenfalls in dieser Partei und auch sonst politisch aktiv. Im
„VVN“, der Vereinigung der Verfolgten des Naziregimes war er in Leitungsgremien
tätig – worüber viel bewirkt werden konnte und was auch ein Schutz war. Schnell
war man in diesen Zeiten verleumdet, denunziert – und verschwunden.
Am 8. Februar 1946 (10 Monate nach
Kriegsende) wurde die Zapfstelle – also die „Tankstelle“ – repariert, jedoch
teilt der Händler aus Leipzig mit, Kraftstoffe könnten nicht geliefert werden.
Es ist noch die gleiche Firma, die 10 Jahre vorher diese Geschäfte machte.
Vieles wird auch gewaltsam beseitigt. Es
finden sich Schriftstücke über das Niederreißen des Kaiser-Wilhelm-Denkmals
gegenüber des Kaufladens in der Bergstraße. Dies geschah im Oktober 1948, und
der zuständige Polizist, der damit offensichtlich nicht einverstanden war,
wurde aus dem Polizeidienst entlassen. Dr. Weidauer erkundigte sich danach nach
seinem Ergehen und bedankte sich, er wäre ein Polizist gewesen, den er sehr
schätzte und vor dem er nicht Angst haben musste.
In allen Bereichen des wirtschaftlichen
Lebens herrscht große Not. Von Stromausfällen erzählt dieser Brief des Doktors:
„An
den Energiebezirk West VVB, Betriebsdirektion Falkenberg, 22. IX.50…
Bedauerlicherweise
ist es trotz allen Fortschritts und Aufbaus wieder notwendig geworden,
Stromsperrzeiten einzuführen. Man hat uns mitgeteilt, dass bestimmte Zeiten
dafür infrage kommen. Leider wird der Strom ausserhalb dieser Zeiten sehr oft
unterbrochen, sodass eine Anzahl gelähmter Patienten, die zur Elektrotherapie
kommen, nie wissen, wie lange sie nun auf die Rückkehr des Stromes warten oder
ob sie nachhause gehen sollen und damit unter viel körperlicher Mühe den
oftmals langen Weg vergebens gemacht haben. Ausserdem funktionieren ohne Strom
die Sterilisatoren nicht und alle Geräte zur Operationsbeleuchtung, Ohren- und
Augenbehandlung und vieles mehr im Rahmen einer ärztlichen Praxis sind
lahmgelegt. Ich habe z.B. durch das plötzliche und unvorhergesagte Wegbleiben
des Stromes bei geburtshelflichen Maßnahmen höchst gefährliche Situationen für
die Patienten erleben müssen.
Ich
mache Ihnen diese Mitteilung mit der Bitte, Ihr Möglichstes für eine
Regulierung zu tun. Hochachtungsvoll! Dr. Weidauer.“
Langsam, ganz langsam ging es aufwärts. Ein
Schriftverkehr mit einem Wirtschaftsberater in Potsdam-Babelsberg ist von April
bis Juni 1949 noch zu finden gewesen, 1952 dann wird Geld nicht nur für
„Rattenbekämpfung“ und „Brennholz für das Geschäft“ (natürlich Ofenheizung!)
ausgegeben, sondern auch für Kaffeekannen. Und vom Nikolaustag 1952 ist ein
Lieferschein erhalten, der auf die Weihnachtsgeschenke dieses Jahres schließen
lässt: „Sie erhalten auf Ihre Rechnung und Gefahr durch die Bahn per Expreß:
300 Stück Weihnachtsteller (Preis 11 Pfennige), 17 Stück Schwarzer Peter..,
Flöten, Stickkasten, Kaufladen groß, Dame-Mühle, Mosaic, Stoff-Elefanten,
Metall-Ausgießer, Schaukelstühle (Preis 7,38 DM), Waldpartie, Pilzsucher, Jahr
der Bauern, Wir bauen ein Haus, 3 Puppenbetten, 6 Pferde, 2 Babywagen).“ Und es
gibt 1952 auch: „Dreifruchtmarmelade, Himbeer-Stachelbeere, Erdbeer-Apfelmuß,
Johannes-Apfelmuß, Aprikostenkonfitüre, Kirsch-Apfelmuß, Sirup im Glas“. Ein
Schaukelpferd wird am 7.12.52 extra geliefert und kostet 32,21 DM.
Die
„Edeka“ (die zum Beispiel damals auch die Drogerie Schulze belieferte) stellt
„Kuchenmehl, Nudelsuppen und Hirschhornsalz“ in Rechnung; die Großhandlung
Obst-Gemüse-Waldfrüchte Heinrich Vogel Jessen verkauft 1952 Wirsingkohl, und
natürlich gibt es auch Haushaltschemie und eine Rechnung vom Kunstverlag
Lindner für 12 x Bilderlotto a 0,50 DM. Dabei ist Mehl und Zucker immer noch
auf Lebensmittelkarte zu haben.
Ein Schaudern geht mir über den Rücken bei
den vielen „Kontrollabrechnungen für den Einzelhandel“ – bestimmt war ein
Kaufmann in diesen Zeiten auch immer „mit einem Bein im Gefängnis“. Dem
Kollegen von gegenüber, Hanisch, der mit Obst und Gemüse handelte, ist es so
ergangen. Die Knappheit und der Mangel riss ihn zu einer unbedachten Äußerung
hin („Ihr Russenknechte!“) – und er musste dafür viele Jahre ins Zuchthaus.
Es ist eine bedrückende Zeit der Not nach dem
verlorenen Krieg, und nur langsam geht es aufwärts. Täglich verlassen viele
Menschen das Land in Richtung Westen. Sie schreiben dann – viele Briefe konnte
ich dort auch finden – tatsächlich von einem „Schlaraffenland“, dass man sich
richtig satt essen kann, dass man alles kaufen kann – und dass man alles sagen
darf und es auch in Theater und Kino keine Beschränkungen gibt.
Doch
viele hängen natürlich an Heimat und
Haus, Familie und Freunden – und nicht wenige hoffen auch noch auf ein
„besseres Deutschland“ und sind bereit, dafür einiges auf sich zu nehmen.
Ein Beispiel ist ein Brief aus Flensburg vom
27.10.48. Frau Koziullo ist offensichtlich eine Klavierlehrerin und hatte sich
vorher länger in Seyda aufgehalten.
„Lieber
Doktor, (Mein Mann meint, ich dürfte diese Anrede ob unserer netten
Zusammenarbeit gebrauchen.) Nun sind wir schon 8 Tage in unserer neuen Heimat
und müssen uns an die Großzügigkeit der neuen Umgebung gewöhnen. Das tut man
schnell. In 1 ½ Tagen kamen wir schon an, das heißt unser Grenzgang ging in
Ordnung. Hier erwartete uns tatsächlich ein Schlaraffenland. Nur Brigitte und
ich konnten uns nicht sattsehen. Die herrlichsten Gebäcksorten, Baumkuchen,
Blätterteig, Kaffee, Kakao, Schokolade lockten. Jegliche Konservenart, Fisch
und Fleisch füllte die Fenster. Möbel, Porzellan bis zum kleinsten
Haushaltsgegenstand sind in den Geschäften zu haben. Wer verdient, lebt im Frieden.
Doch auch die, die wenig verdienen, sind
zufrieden, denn eine geordnete Ernährungslage macht glücklich. Man
sieht, es geht voran. Und Amerika ist klug genug, Westdeutschland mit Ware zu
überschütten, ums sich den R.(ussen) vom Halse zu halten.
Das
Kultur- und Geistesleben hier in Fl(ensburg) fesselt ungemein. Und schon oft
habe ich da an Ihre geistige Beweglichkeit gedacht. Wir haben einen sehr netten
Kreis. Ich komme für sie alle aus einem anderen „Erdteil“. Da wird viel
geklöhnt. – Anbei sende ich für viele liebenswürdige Bemühungen Ihrerseits die
versprochene Dose Trockenmilch. Sie sehen, ich halte mein Wort. Und wir
brauchen keine Christel dazu. Sie waren mir so oft gefällig, da freue ich mich,
Ihnen einen Wunsch erfüllen zu können. Brigitte ist überglücklich bei ihrem
Vati sein zu können. Sie futtert sich tüchtig satt. Und ich bin in meinem
Element kochen und backen zu können. Grüßen Sie bitte Fräulein Kaatz und die
Eltern recht herzlich. Es würde mich freuen, von Ihnen einmal zu hören, das heißt
wenn Sie mich nicht vergessen. Alles Gute für Sie, lieber Doktor, und weiter
einen guten Wirkungskreis in der „herrlichen“ Stadt Seyda! Schöne Grüße! Ihre
Margarete Koziullo. Mein Mann befindet sich auf Dienstreise und lässt Sie alle
durch mich herzlich grüßen. Von Brigitte ebenfalls.“
Der
Doktor antwortet: „Über Ihren glatten Weg nach drüben wurde ich von den Ihrigen
hier auf dem Laufenden gehalten und war hocherfreut, dass alles so tadellos
geklappt hat. Ihr plötzlicher Abgang hat uns doch erheblich erschüttert und
eine Lücke gerissen, die so schnell nicht ausgefüllt werden kann und wohl
überhaupt nie ausgefüllt werden wird. Nach all den Abscheulichkeiten, welche
Sie hier durchleben mussten, fühle ich mit Ihnen und begreife freudig und
neidlos, wie sie in einer Ihnen angemesseneren
Umgebung aufatmen… Nur ein bisschen gegenseitige Achtung – und der Hölle
ginge das Feuer aus.“
Für den Kaufmann Kaatz und seine Familie
beginnt in all der Not eine Zeit des
privaten Glücks, denn am 6. Mai 1950 heiratet seine Tochter Ursula Dr. Joachim
Curt Weidauer. Er ist ein beliebter Landarzt, an einem Tag hat er oft 150 bis 200 Patienten zu betreuen – in den
Briefen beschreibt er seinen Alltag. Sie arbeiten gemeinsam in der Praxis
gegenüber. Und es geht ihnen recht gut.
Zwischen all dem Schutt fand ich Negative,
manchmal ganz zusammengeklebt, geknittert, durchlöchert, und alle mit viel
„Patina“ versehen. Ich konnte sie mit Hilfe meines Sohnes Hans zu Bildern
verwandeln, die den Kaufmann Kaatz mit der ganzen Familie in glücklichen Zeiten
zeigen: Mit den Enkeln, Jarno und Mirijam, mit der Tochter und dem
Schwiegersohn, die sich eine schöne Wohnung eingerichtet haben, mit tatsächlich
vielen hundert Büchern, die auf den Fotos zu sehen sind; mit einem
Bechstein-Flügel, auf dem musiziert wird, mit einem schönen Garten und zwei
Autos, einem Hanomag (es ist tatsächlich der seines Schwiegervaters von 1933!)
und einem Mercedes (staatlich eingezogen von einer Frau in Jessen, die drei
davon besaß). Insbesondere für die Autos hatte der Doktor lange gekämpft, mit
viel Korrespondenz und bis zu den höchsten Stellen – denn er musste beweglich
sein für seine Patienten, und tatsächlich berichten auch viele heute noch von
hilfreichen und aus großer Not rettenden Fahrten des Doktors über Land. Bei der
Anfälligkeit der Maschinen war es gut, zwei Autos zu haben. Der Autoschlosser
Ernst Oertel war als Chauffeur eingestellt, sie im Gange zu halten. Die
Praxisräume wurden erweitert, der Doktor betrieb aufgrund seiner Ausbildung bei
Freud und Jung auch Psychotherapie und hatte viele moderne Geräte angeschafft.
Die Papiere künden von Mikroskopen und Elektrostrahlen-Behandlungen – sowie
immer wieder von umfangreicher Fachliteratur. Der Doktor erzählt aus seinem
Leben, manches ist dabei, was heute keiner mehr weiß. Er korrespondiert mit
alten Freunden vom Studium in Österreich, wohin er 1934 vor den Nazis floh, und
in der Schweiz, wo er sich bis 1939 aufhielt, um dann zur Mutter nach
Deutschland zurückzukehren. Am 25. Oktober 1948 schreibt er an einen alten
Freund:
„Lieber
Jost! (Häfliger)
Etwa
vor Jahresfrist, als Fritz Hess von seiner Reise aus der Schweiz zurück nach
Berlin kehrte und mir von Dir Grüsse bestellte, habe ich einen ausführlichen
Brief an Dich geschrieben… (nun) glaube ich, dass mein Brief Dich nicht
erreicht hat. Sehr schade, denn darin stand allerhand über die vergangenen
grausamen Jahre. Ich repetiere deshalb in Stichworten. 1939 meine Heimkehr aus
der Schweiz, Beginn meiner Tätigkeit bei Sandoz A.-G. Nürnberg. 1942 Ermordung
meiner Mutter durch die Gestapo; neue Tätigkeit meinerseits in Dresden bei dem
Pathologen Prof. Kalbfleisch. Von 1942 an wiederholte Verhaftungen und
Gefängnisaufenthalte. Juli 1944 endgültige Verhaftung und Verbringung in das
K.-Z.-Lager Sachsenhausen, von da nach K.-Z.-Lager Buchenwald und endlich in
das Vernichtungslager Halberstadt. Beim Herannahen der USA-Truppen Evakuierung
der Häftlinge (die noch am Leben waren) ostwärts bei einer täglichen
Marschleistung von 50 km 14 Tage lang; während der letzten 5 Tage keine Verpflegung
mehr. Von 3000 abmarschierten Häftlingen am 15. Tag noch 64 am Leben, darunter
ich. Alle anderen liegen am Wegesrand, zusammengebrochen und aus
„Sicherheitsgründen“ mit Genickschuss erledigt. Am 15. Tag Befreiung durch die
Rote Armee, der wir in die Arme liefen. Diese Begegnung erfolgte zwischen
Wittenberg und Jüterbog in Mitteldeutschland in der Nähe des kleinen Städtchens
von ca. 2.000 Einwohnern, wo ich heute noch als Landarzt sitze und neben dieser
Gemeinde 12 Dörfer im Umkreis ärztlich
zu betreuen habe. Mein Vorgänger hat als zünftiger Parteigenosse das Weite
gesucht.
Mein
Haus in Dresden, welches ja erst 1937 als Neubau bezogen worden war, ist ein
Opfer der Bomben geworden, während ich im K.-Z. sass. In den vergangenen
reichlich drei Jahren habe ich schon wieder ganz schön aufgebaut und zu meinem
grössten Stolz gehört meine Bibliothek von mehr als 2000 Bänden, nachdem ich
eine der grössten Privatbibliotheken Dresdens von 7200 Bänden verloren hatte.
Mit
den Freunden in aller Welt habe ich schon zum grössten Teil Lebenszeichen
ausgetauscht und es liegt mir besonders am herzen, nun endlich von Dir zu hören
und – hoffentlich recht bald – ein Zusammentreffen zu arrangieren.
Dass
ich Fritz Hess durch so glückliche Umstände wiederfand, war mir eine große
Freude. Allerdings hatte der Gute fast alles von seinem gemütlichen
Oesterreichertum verloren und war ganz und gar ein Mensch seiner neuen Welt
geworden.
Mit
Erich Tanner, Micky usw. habe ich bereits korrespondiert. Nur von Heinz
Granichstädten habe ich bis jetzt kein Lebenszeichen bekommen können. Er
wanderte seinerzeit mit seinem Vater nach Edinburg (Schottland) aus, von wo ich
am Tage des Kriegsbeginns, am 1. Sept. 1939, den letzten Brief erhielt…(er
bietet weiter an, Bücher kostenlos zu schicken)… ich erlaube mir eine kleine
Bitte dagegen zu äussern. Ich bin nämlich seit der frühzeitigen Bekanntschaft
mit Nescafé, die ich in Zürich durch Dich machte, ein grosser Verehrer dieses
Produktes, das man hier leider nicht bekommt… Ebenso ist es mit der vortrefflichen
Vollmilch in Pulverform… grüsst Dich in alter Freundschaft Dein Achim“.
Es
ist dokumentiert, wie er – auch in Seyda selbst – Reden hielt, um aufzuklären,
was in den Konzentrationslagern geschehen war.
In den Briefen (die Durchschläge sind erhalten)
finden sich viele weitere Berichte:
An
den Vetter und Freund in Leipzig: „3.XI.54…Die Kinder machen manchmal soviel
Krach, dass die Wände wackeln, empfinden es aber offenbar als durchaus gemäße
Lautstärke…“ / „17.III.54… Die Post, eine unserer Familie doch so ans Herz
gewachsene Institution, Brotgeber vieler Generationen unserer Dynastie… Ich
selbst habe von Kindesbeinen an ziemlich schlechte Augen und war durch Brillen
niemals voll auskorrigiert. Das Maximum der bei mir erreichten Sehschärfe betrug
7/10, an drei Zehnteln unserer schönen sichtbaren Welt habe ich eben auch immer
vorbeileben müssen.“ / „12.III.54 … Eine anhaltende Grippeepidemie jagte mich
wochenlang viele Stunden am Tag bei eisiger Käälte durch unwirtliche Gegenden,
vor deren schneebedeckter Flur selbst die tapferen beiden Autos sich
aufbäumten. Jetzt folgen ihre Motoren dem Ruf des Starters gern und schnell mit
wohligem Brummen (Lyrik des Autofahrers).“ / „22.II.53… Natürlich seid Ihr oft
das Thema unserer gehetzten Mahlzeiten, die zwischen den etwa 200 Patienten des
Tages und den ca. 100 km auf fürchterlichen Urwaldwegen voller Schnee oder
jetzt voller Schlamm gesprochen werden… Ulla erhielt eben meine letzten DM 3,-
(drei) für den Friseur und sonst warten einige Schecks auf Einlösung. Ich habe
gehört, das Geld werde abgeschafft. Also bin ich fortschrittlich, denn ich habe
schon jetzt keins mehr.
…
Dafür macht uns unser Kleiner viel Freude, die wir nur allzu knapp genießen können,
denn meist schläft er schon, wenn wir abends von der Arbeit kommen. Vor ein
paar Tagen habe ich ihn geimpft. Böser Vater! Was? Aber es musste sein… Im
übrigen wird er wohl ein ähnlicher Rabauke werden wie sein Vater, dessen zarte
Saiten auf kein sehr wohlklingendes Instrument gespannt waren…“
Politisch spannend wird es am 14. Juni 1953:
„Mein
lieber Jochen! Deinen lieben Brief vom 31.V.53 nicht sofort beantwortet zu
haben, ist mir diesmal beinahe eine Freude. Kommt doch meine Antwort in die
Atmosphäre der hochherzigen Anordnungen des ZK der SED, welche quasi mit einem
Federstrich wieder 2 x 2 = 4 sein lässt und sich scharf gegen alle wendet, die
in böswilliger Absicht es 5 zu sein zwangen. (Anm.: Anspielung auf Orwell
„1984“, was auch in seinem Bücherschrank stand.) Ich nehme an, dass dies
epochale Ereignis nicht ohne Eure tiefinnere Anteilnahme sich vollzieht. Welche
Perspektiven eröffnen sich nun! Man denke an die Sortimente der Buchhandlungen
in ihren Schaufenstern…
Wir
Urwaldmenschen erleben diese Dinge ja bei weitem nicht mit der Vehemenz, mit
welcher sie der Großstädter erlebt. Ich bin deshalb dem Schicksal dankbar, dass
ich gerade einen Tag nach der Verkündung der Anordnungen durch das ZK, nämlich
am vergangenen Freitag die stimmungsmässige Auswirkung in einer Großstadt
miterleben durfte. Ich gesteh Euch, dass ich für drei Stunden in Leipzig war…
Jedenfalls erlebte ich in den Strassen Leipzigs Gespräche, auf deren Inhalt am
Tage zuvor noch eine Reihe Jahre Zuchthaus gestanden hätte. Wie herrlich ist es
doch, sich in der Obhut eines ZK und einer solchen Regierung zu wissen, die
beide im entscheidenden Augenblick der Weltgeschichte eine Verlaufsschwenkung
versetzen, in welcher aller Fortschritt gerettet wird, wo durch Selbstkritik
nichts beschönigt wird, sondern durch Erfahrung bereichert nun der richtige Weg
eingeschlagen werden kann!! Ist das nicht ein erhebendes Gefühl?! … Wenn ich
bedenke, welches Glück es voraussichtlich bedeutet, dass Euer Peter gerade
jetzt in die Schule kommt und gleich lernen kann, dass 2 x 2 auf alle Fälle 4
ist, so bin ich hocherfreut und glaube diese Freude ganz und gar mit Euch zu
teilen…“ – 3 Tage später rollten russische Panzer, der Aufstand vom 17. Juni 1953 wurde
niedergeschlagen.
Viele Gäste kamen nach Seyda – auch das
spiegelt sich in den zahlreichen privaten Briefen wieder, die nun seinen
Kindern übergeben werden sollen und die noch viele Details aus dem Leben der
Familie Weidauer und Kaatz in den 50iger Jahren in Seyda enthalten.
Kinderbilder mit einem Tretauto oder an der Ostsee, beim Pilzesuchen mit den
Großeltern oder am Weihnachtsabend werden bestimmt Überraschung und Freude
bringen.
In den Briefen werden natürlich auch die
Feste beschrieben. Eins davon sei hier genannt, um sich ein Bild zu machen, wie
die Familie lebte. Es war die Taufe des Sohnes Jarno am 17. November 1951. Dr.
Weidauer beschreibt sie in einem Brief vier Tage später an seinen Onkel in
Chicago, der Pate war, aber nicht kommen konnte. Der Durchschlag des Briefes
ist erhalten.
„Zuvor
danken wir Dir, lieber Onkel Curt, dass Du die Patenschaft angenommen hast und
wünschen uns von Herzen, dass Du Dein Patenkind recht bald kennen lernst, um
ihm Leiter und Mentor sein zu können. Dass Du ihm Deines lieben Vaters, also
seines Urgroßvaters goldene Uhr einmal zugedacht hast, wird er zu schätzen
wissen, denn damit hält er einmal nicht nur ein wertvolles Stück an sich,
sondern das Andenken an einen Menschen in den Händen, von dem ich ihm noch mancherlei über die herrlichen Kindertage aus
meinem eigenen Leben erzählen kann und von dessen prächtigen Eigenschaften er
hoffentlich einige erbt. Seine Pflicht auf Erden wird es einmal, dass viele
Plsonkersche (Anm.: Plonsker = Familienname der Mutter), was ich ihm mitgeben
konnte, zur Freude seiner Mitwelt auszubreiten, auch wenn die Generationen die
natürliche Verdünnung dieser Anlagen schon herbeigeführt haben.
Ein
extra Patengeschenk glaubten wir nicht erwarten zu sollen, um Dich mit diesem
Amt nicht noch zu einer Ausgabe zu
bewegen. Ulla ließ mich jedoch vorsichtig wissen, dass sie sich über
etwas Wolle sehr freuen würde, um ihm daraus ein Jäckchen oder Strümpfchen zu
stricken, dann könne sie Jarno dabei erzählen, dass dies von Onkel Curt aus dem
fernen Amerika käme.
Die
eigentliche Taufhandlung in der nur 100 m von unserem Hause entfernt gelegenen
Kirche war durch den Gesang eines Paten, Rudolf Richter, der eine mächtige und
wundervolle Bassstimme hat, zu einem besonderen Ereignis geworden. (Anm.: „In
diesen heil´gen Hallen kennt man die Rache nicht“ aus der Zauberflöte ließ der
Doktor singen, der so viel Schweres erlebt hatte!) Die kleine Taufgemeinde war
ergriffen, als von der Empore neben der Orgel die gewaltigen tiefen Töne aus
einer menschlichen Kehle erklangen.
Danach
zogen wir in Ullas Elternhaus. Die nächsten Stunden waren wir mit dem sehr
gelungenen Menu beschäftigt. Der Tisch war ein einziges Blumenmeer, das Ulla
buchstäblich hingezaubert hatte.
Der
nach Dir, lieber Onkel Curt, älteste Pate ist Ullas Vater. (Anm.: der Kaufmann
Kaatz!)
Auch
von seinen Eigenschaften hoffen wir, dass sie auf unseren Jarno übergehen
mögen, er ist ein Musterbeispiel eines moralischen und reelen Menschen voll
Güte und Fleiß.
Nach
langem Hin und Her hatten wir uns entschlossen, Joachim Kötschau als Paten zu wählen, denn auch er machte mich zum Paten
seines jetzt bereits fünfjährigen Jungen Peter. Kötschau ist verheiratet mit
der in Deutschland sehr bekannten Cembalistin Erika Schütte-Kötschau, die wegen
der Erkrankung des kleinen Söhnchens leider nicht mitkommen konnte und nur ihren
Mann schickte, mit dem wir allerdings sehr viel Freude hatten. Er ist Komponist
und selbst ein virtuoser Pianist, den man im Radio oftmals hört. Ausser seinen
eigenen Werken spielt er vor allem Hindemith, der Euch sicher gut bekannt ist,
denn er lebt jetzt in Amerika, dessen Staatsbürgerschaft er auch erworben hat
und wohl einer der bedeutendsten, wenn nicht überhaupt der bedeutendste
Komponist der neuesten Zeit ist. Kötschau selbst, der in den ganzen Jahren
seines bisherigen Lebens die Not immer aus erster Hand kennen gelernt hat, ist
ein famoser und vornehmer Charakter, ganz und gar Musik. Jetzt hat er mit
seiner Frau eine neuartige Musikschule herausgegeben, die sehr gut einschlägt,
sodass eine Besserung seiner sozialen Lage sich anzubahnen scheint, was wir
alle, die wir ihn soeben erlebten, ihm von ganzem Herzen wünschen.
Ralf
Schnabel, ein Mediziner, Sohn des Leiters vom Insel Verlag in Leipzig, war mit
seinen Eltern gekommen, um das Amt des jüngsten männlichen Paten auszuüben.
Auch er ein sehr musikalischer Mensch und glänzender Pianist, hatte den
Bassisten in der Kirche schon auf der Orgel begleitet und gab nun noch manches
zum Besten. Wir kennen die Schnabels durch einen glücklichen Zufall seit 1946
und haben uns gegenseitig wiederholt besucht. Dem alten Herrn verdanke ich es,
dass meine Bibliothek überhaupt als solche schon wieder anzusprechen ist.
Endlich
haben wir noch zwei Damen als Paten ausersehen. Die junge Frau des hiesigen
Molkereileiters, der auch im Nebenfach Tenor singt, und so manche ernste und
fröhliche Arie im Konzertprogramm unserer Taufe übernommen hatte. Ihr seht
also, welch ein Musentempel errichtet war. Die junge Frau ist eine
Norddeutsche, die sich hier in dem kleinen Nest erst sehr allmählich eingelebt
hat.
Nun
bleibt noch Monika Hagendorf, die älteste Tochter des Pfarrers, der uns getraut
und nun die heilige Handlung der Taufe an unserem Jarno vollzogen hat. Die
Kleine stammt aus erster Ehe des Pfarrers und hat unter der Stiefmutter kein
sonniges Leben, was man in Kreisen der Diener der Kirche nicht erwarten sollte.
Da ich bei des Pfarrers jüngstem Sohn – im ganzen das siebente Kind! – Pate
bin, so wollten wir uns revanchieren und dabei dem jungen Mädchen einen schönen
Tag bereiten.
Als
Gäste waren noch der Apotheker und seine Frau, die schon unsere Hochzeit
mitgemacht hatten; zwei vergnügte Menschen ohne künstlerische Ambitionen, die
gleichsam das Gegengewicht gegen die vielen Musensöhne zu halten hatten.
So
saßen denn 18 Personen um den blumengeschmückten Tisch, eine festfrohe Runde,
die es sich schmecken ließ und ab und zu ihr Ohr den künstlerischen
Darbietungen als willkommene Pause lieh.
Die
Freunde Alewijn, die sich telefonisch meldeten, konnten leider nicht persönlich
dabei sein, was sie sowohl als auch wir sehr bedauerten.
Am
Sonntag schliefen sich alle aus, die auswärtigen Gäste fuhren wieder heim, wir
ordneten den Haushalt zurück in sein alltägliches Gewand und am Montag begann
die Arbeit des Alltags. In der Erinnerung aber wird uns allen bleiben ein
würdevoller Festtag für den jüngsten Erdenbürger unseres Kreises und unserer
Familien. Mag der Tag richtungsweisend sein für seine fernere Bahn.“
Warum sind all diese Zeitdokumente dort, auf
dem Dachboden, liegengeblieben? Es findet sich eine einfache Erklärung. Der
Weggang der Weidauers aus Seyda erfolgte nicht freiwillig. Die Eltern wurden
ins Gefängnis gebracht. Ihr Besitz wurde konfisziert. (Auch der
Mahagoni-Bechstein-Flügel, 180cm, Baujahr 1915, Nr. 110570, einmal aus
Schützberg vom dortigen Gastwirt erworben – diese Daten kennen wir jetzt,
vielleicht findet er sich wieder?) Hat
jemand beherzt den Stapel Briefe und die Negative herausholen können und erst
einmal versteckt?
Die Kinder waren noch klein und haben ihre
Erinnerung an diese Stunde der Festnahme im letzten Jahr in Seyda erzählt.
Jarno, schon ein Schulkind, kam von der Schule nach Hause, und im Wohnzimmer
saß die Mutter umringt von etlichen Männern in schwarzen Lederjacken. Artig
wollte er alle grüßen, wie er es gelernt hatte, aber die Mutter sagte: „Diesen
Herren brauchst Du nicht die Hand geben.“ Sie haben die Eltern danach
tatsächlich lange Zeit nicht wiedergesehen, nur zu kurzen Besuchen im Zuchthaus
Bautzen, zu denen sie der Lehrer
Rühlicke (!!) mit seinem Auto fuhr.
Sie sollten in ein Kinderheim kommen, wie es
damals mit vielen Kindern geschehen ist, deren Eltern mit der Staatsmacht in
Konflikt kamen, und die sie dann oft nie wieder sahen.
Doch
der Großvater Kaatz stand in der Tür, und es war vielleicht die zweite
entscheidende Stunde in seinem Leben. Er nahm die Kinder und sagte: „Die kommen
zu uns.“
Nach Jahren wurde zuerst die Mutter, Ursula
Weidauer geb. Kaatz, frei gelassen. Sie war schwer krank, konnte nur noch
sitzen. Als Doktor Weidauer aus dem Gefängnis kam, war an eine Rückkehr nach
Seyda für die Staatsmacht nicht zu denken. Rheinsberg wurde ihm angeboten, und
da griff er, der Literaturbegeisterte, zu.
Nachdem die Großeltern Kaatz, auch schon im
fortgeschrittenen Alter, die Kinder durch diese schwere Zeit geführt hatten,
gingen sie selbst aus Seyda weg, nach dem Westen.
„Die
Fenster waren zugehangen, und es bewegte sich nichts mehr.“ berichtet Ursula
Lehmann geb. Knape, geb. 1924, die auf der anderen Seite des Marktes wohnte.
„Da merkten wir, dass sie weggegangen waren.“
Ihre
Tochter Ursula war – schwer krank – kurz nach ihrer Haft (am 13.9.69 in
Rheinsberg) gestorben, und sie wollten sicher diesem Land und auch dem Mangel
entfliehen. Anlässlich einer Besuchsreise (Rentner waren sie schon und durften
reisen) blieben sie im Westen: Und das erklärt, dass sie nur ganz wenig
mitnehmen konnten. Für solche Briefe und Fotos war da kein Platz im Koffer, das
wäre auch an der Grenze aufgefallen und hätte zu schlimmen Sanktionen geführt,
die die Familie ja gerade schmerzlich erlebt hatte.
Der Laden bestand noch bis zur Wende als „HO“
fort, wie das Schild über dem Eingang bis heute verkündet. Dann wechselten die
Besitzer, „OHH Hansis Einkaufsmarkt“ wurde im Herbst 1993 der Zuschlag vom
Seydaer Stadtrat gegeben, damals gab es in Seyda noch drei Möglichkeiten,
Lebensmittel einzukaufen: Auch noch im „Konsum“ und im Laden von Ferchs, beide
in der Jüterboger Straße. Bis zu Beginn des neuen Jahrtausends hieß der Laden
am Markt „Ingrids Minimarkt“. Danach ging der Besitz an die Stadt über.
Schon damals war der hintere Teil des
Grundstücks ruinös. Ich fand dort in der alten angrenzenden Turnhalle bei
heruntergebrochener Decke, wo das Wasser des tauenden Schnees durchtropfte,
eine „Freiheit“, also eine Tageszeitung, die groß den Amtsantritt eines neuen
Generalsekretärs der KPdSU ankündigte. Es war noch nicht Gorbatschow, also
Mitte der 80iger Jahre.
Und
auch sonst lassen sich dort noch viele Relikte aus alter Zeit entdecken, zum
Beispiel der Unterbau des alten Kinderwagens, den ich dann auf den Fotos vor 70
Jahren „in Aktion“ wiederfand, oder alte, vom „Böttcher“ angefertigte Fässer
mit Metallringen. Den alten Brotkorb schicke ich auch den Kindern, die nun
selbst Großeltern sind.
Kaufmann Kaatz bleibt in guter Erinnerung. Er
hat nicht nur viele Leute froh gemacht mit seinem Warenangebot, sondern auch
mutig dazu beigetragen, das ganze Städtchen vor Zerstörung zu bewahren.
Die
Bilder:
Man könnte meinen, auf dem runden Bild in der
Mitte: Das sei der Kaufmann, aber es ist wohl Curt Weidauer, der Onkel von Dr.
Weidauer, der nach Amerika emigriert war, bei einem Besuch in Seyda mit seinem
Patensohn Jarno an der Hand, rechts Ursula Weidauer geb. Kaatz. Deshalb hat die
2. Auflage ein anderes Bild, wo die Enkeltochter ihren Großvater eindeutig
erkannt hat. Die Kinder sind Mirijam und Jarno Weidauer, die Enkel.