Unser
Kirchturm – ein Wahrzeichen unserer Stadt, ein gutes Stück Heimat, eine Erinnerung
an viele Feste unseres Lebens, der „Zeigefinger Gottes“, der die Gegenwart
Gottes mitten in unserer Stadt verdeutlichen soll: 150 Jahre alt ist er in
diesem Jahr.
Er ist stehen geblieben –
durch stürmische Zeiten hindurch, und in der Turmkugel ist viel davon zu lesen.
In dieser kleinen
Broschüre wird davon berichtet.
Wenn dafür Spenden
einkommen, so sind sie für die Sanierung der neuerlichen Putzschäden am
Kirchturm bestimmt.
Der
Kirchturm
in
Seyda.
Zum 150. Geburtstag 2004.
„Ich hebe meine Augen auf... – woher kommt mir Hilfe? Meine
Hilfe kommt vom Herrn, der Himmel und Erde gemacht hat.“
Psalm
121
Natürlich
hat Seyda schon viel länger einen Kirchturm! Bis zum großen Stadtbrand sogar
noch einen viel größeren, als der jetzige. Auf dem Kirchenschiff stand damals
noch ein kleiner Turm, mit dem „Vesperglöckchen“. Auf dem Bild im linken
Turmaufgang kann man das sehen, früher war es groß in der Sparkasse auf dem
Markt an die Wand gemalt.
Der große Brand zerstörte all diese Pracht im August des
Jahres 1708. Durch eine „Liebessteuer“ und ein „Liebesopfer“ sächsischer Städte
konnte Seyda wieder aufgebaut werden. So wurde die Kirche 1711 wieder
eingeweiht. Ein kleiner Turm aus Fachwerk kam auf das Dach, ein Bild von vor
200 Jahren zeigt dies: das war eine Notlösung. Ständig musste er repariert
werden. Auch ein Neubau wurde immer mal wieder ins Auge gefasst. So noch 1813,
unter sächsischer Regentschaft, im Jahr der Befreiungskriege, wo wir sogar eine
Zeichnung für einen zukünftigen Turm haben!
Durch die Kriegswirren –
die große Linde auf dem Kirchplatz erinnert daran, dass die Sachsen auf der
falschen Seite mit Napoleon kämpften und durch Russen und Preußen „befreit“
wurden – kam es nicht zu einer Erneuerung des Turmes. So war auch für das Jahr
1854 wieder nur eine Reparatur geplant.
Ein
Baumeister Dalichow aus Jüterbog schrieb:
„Sr. Hochwürden dem königlichen Superintendenten Herrn Jacoby
zu Seyda
Auf das von Euer Hochwürden bei mir Gestern eingegangene
verehrte Schreiben, mit der Aufforderung zur Besichtigung und Aufnahme der
Reparaturen des dortigen Kirchthurmes nach Seyda zu kommen, habe ich die Ehre
ganz gehorsahmst zu erwiedern, dass ich in den ersten Tagen nächster Woche,
wenn es die Witterung irgend gestattet, bestimmt in Seyda sein werde, indem
meine Zeit für diese Sache bereits bestimmt, und ich mir vorgenommen habe zu
kommen.
Mit steter Hochachtung verharret
Euer Hochwürden ganz Ergebenster J. Dalichow
Jüterbogk, de. 10. Jan. 1853.“
Eine
ganze Akte voll Schriftverkehr! Schließlich folgt ein Beschluss:
„Nachdem von Seiten des Kirchenvorstandes und der Gemeinde der
Stadt Seyda die Ueberzeugung gewonnen, dass eine Reparatur des Thurmes nicht
ausführbar sei, kamen sämtliche Mitglieder dahin überein, dass die Aufführung
eines neuen Thurmes unerlässlich ist, und beschlossen danach mit Berücksichtigung
jeder Ersparniß soweit es die Solidität gestattet, die Aufführung eines neuen
Thurmes unter nachstehenden Bedingungen zu veranschlagen.
Da es in der Kirche an Raum fehlt (es gab 392 Plätze, wurde vorher berechnet), so ist der Thurm wie an beiliegender
Zeichnung besorgt äußerlich des Abendgiebels von 14 Fuß Quadrat projectirt, und
so angenommen, dass er mit der Giebelwand der Kirche nicht verbunden, sondern
nur angestoßen wird.“
Der Turm wurde also vor
die Kirche gesetzt, gegen „Abend“, also nach Westen, wie es üblich ist.
„Neben dem Thurme liegen zwei kleine Hallen, welche die
Aufgangstreppen zu den Emporen und dem Thurme enthalten. Der Thurm selbst ist
bis zur äußersten Spitze der wieder zu verwendenden Fahne 90 Fuß 4 Zoll hoch,
und mit einer achteckigen Pyramide, gedeckt mit Schiefer, bedacht, und mit
einfachen verziehrten Oeffnungen dem Style der Kirche gemäß projectiert...
Es ist darauf Bedacht zu nehmen, „dass anstatt der früheren daselbst
befindlichen Unterstützungen des Thurmes, mehr neue Sitze angebracht werden...“
(Findbuch
Pfarrarchiv Seyda Nr. 905.)
Es wird dazu bemerkt,
dass auch die Orgelempore gleich neu gebaut werden muss.
Schließlich, im August
1854, also relativ schnell, ist das Werk geschafft. Superintendent Jacobi
schreibt, wie es üblich ist, für die Turmkugel einen Bericht.
„Im Namen Gottes des Vaters, des Sohnes und des Heiligen
Geistes. Unsere Hilfe war im Namen des Herrn, der Himmel und Erde gemacht hat.“
Am 28. August 1708 war bei einer ausgebrochenen
Feuersbrunst nebst der geistlichen und Schulgebäuden auch das hiesige Kirchhaus
bis auf die Mauern nebst Turm niedergebrannt. Durch Kollekten und Geschenke aus
der Churfürstlichen Bank wurde unter Gottes gnädigem Beistand dasselbe wieder
hergestellt und am 1. Advent 1711 der erste Gottesdienst wieder gehalten. Der
Turm in Holz wurde 1712 vollendet. Die 2 noch vorhandenen Glocken konnten erst
im Jahre 1717 beschafft werden.
Im Jahre 1830 wurde mit dem Thurme eine Hauptreparatur
vorgenommen, nachdem kleinere nicht viel ausgeführt hatten. Im Jahre 1853
stellte sich nun heraus, dass wiederum der größte Teil desselben, in Bedachung
und Läutewerk schadhaft geworden war, weshalb zur Ausbesserung die Pläne
gemacht der Aufsichtsbehörde vorgelegt und nach erlangter Genehmigung der
Baumeister Dalichow in Jüterbog zur Ausführung übergeben worden. Nebst einer in
Massivbau auszuführenden Vorhalle beliefen sich die Anschlagskosten auf ca.
1400 M. In der Osterwoche 1854 wurde mit Abtragung des Thurmes, der Bedachung
und obersten Etage vorgegangen. Da fand sich’s, dass von dem Holzwerk fast gar
nichts (oder ¼) mehr brauchbar und ein Reparaturbau kaum ausführbar war. Es
musste daher zum Neubau des Thurmes, Ausbau des Theils der Kirche vor dem Thurm
aufgestanden und Umdeckung des Kirchdaches geschritten werden. Die
Anschlagsumme betrug ca. 2600 M. Hinzugekommene Veränderungen und Bauten, wie
Verankerung des Kirchhauses, da die südliche Umfassungsmauer 1 ½ Fuß
ausgewiesen war, sowie größere Stück der Thurmmauer, Um- u. Neubau der Seiten..
und innere Erneuerung. Stieg die Bausumme höher und erklärte am Ende der
Baumeister Dalichow die sämtlichen Bauten für 3050 auszuführen. Die Genehmigung
steht noch zu erörtern. – Zur Aufbringung
dieser Summe ist der Kirchen..., eventuell die Kirchfahrt verpflichtet. Das
Kirchen... besitzt zur Zeit gegen 4000 in Preußischen Staatsschuldscheinen,
welche gegenseitig 83 ¼ a 100 stehen. Um Verluste zu vermeiden, wurden 1000
geborgt. 700 tragen die Gemeinden Seyda, Lüttchenseyda und Schadewalde bei, so
jedoch, dass 300 später, wenn sich das wieder erholt, zurückgezahlt werden
sollen. Zu obiger Summe kommt nun noch der Kostenbetrag zur Wiederherstellung
der alten Orgel und Uhr und neuen Zifferblättern, der wohl 120 erfordern dürfte.
Schwere Opfer, die das ganze Kapitalvermögen der Kirche aufzuzehren drohen! Zu
Ende 1854 war der Thurmbau unter Gottes Hülfe und Schutz soweit vorgerückt,
dass der Knopf mit neuer Fahne den 14. August aufgesetzt werden konnte. Der
Knopf war durch freiwillige Beträge von Gemeindegliedern für 27 vergoldet
worden, zur Zierde unseres Städtchens und zum Lob der Bewohner, die in dieser
drückenden Zeit und bei Armuth doch willig ihr Schärflein gebracht haben; doch
haben viele, die recht gut gekonnt, keinen Heller gegeben, viele sehr wenig.
In die blecherne
Kapsel vom Jahre 1712 wurde eingelegt und in den Thurmknopf gethan:
1.
Die
eigenhändige Nachricht des sel. Sup. Gormann vom J: 1712
2.
Kurze
Nachricht von Superintendent Camenz von 1830
3.
Münzsorten
vom Jahre 1830, wie sie auch jetzt noch gebräuchlich
4.
Die
gegenwärtige Schrift des derzeitigen Superintendenten Jacobi.
Schriftliche Nachrichten des vormaligen Bürgermeisters
Ruperti vom J. 1830 sind nicht wieder mit eingelegt, sondern ins Archiv genommen
worden, da sie unwahre Raisonnement über Preußen enthalten.“
Dieser
Bürgermeister hatte über die Preußen gejammert und seiner Hoffnung Ausdruck
verliehen, doch bald endlich wieder zu Sachsen gehören zu dürfen. Seit 1815
wurde Seyda von Preußen regiert. „Ich
kann als patriotischer Sachse nicht unterlassen, den Wunsch und auch die feste
Überzeugung auszusprechen, dass die so höchst ungerechter Weise erfolgte
Zerstückelung des gesegneten Königreiches Sachsen über lang oder kurz einen
Rächer finden, Sachsen wieder in seinem alten Umfang hergestellt und
vielleicht, Gott gebe es, noch mehr abgerundet und ergänzt glorreich fortblühen
wird! Möchten wenigstens meine Söhne dieses herrliche Ereignis erleben und
möchte es ohne zu großes Blutvergießen herbeigeführt werden können!“
(vgl.
ausführlich „Die Geschichte der Kirche in Seyda“, Band 4)
Doch hören wir weiter, was Superintendent Jacobi über die
Zeit schreibt, in der der Turm gebaut wurde:
„Was
wir zu unserer Zeit erlebt haben, werden der Nachwelt die Geschichtsbücher
melden. Hier fehlt der Raum dazu und die Hand sträubt sich, darauf zu greifen.
Das Jahr 1848 ist das Jahr des Schimpfes und der Schande des
deutschen und preußischen Volkes geworden. Wie eine Windsbraut über ein schönes
Land, flott sind Ereignisse über uns gekommen, welche die Völker bis auf den
Grund..., das staatliche und kirchliche Leben wurde in seiner tiefsten Wurzel
erschüttert, das Unterste zu Oben gekehrt und alle Ordnung gebrochen. Vernunft
und Wahrheit und Wirklichkeit räumten das Feld den Geistern der Lust und der
Hölle. Unser bedächtiges, treues und frommes Volk hat die übrigen an Raserei
fast überboten. Was sonst in Jahrhunderten nicht geschah, sollte an einem Tage
da fertig werden. Aus dem Absolutismus kopfüber in die breiteste Grundlage der
Demokratie, aus dem Kastenwesen in die unterschiedsloseste Gleichheit, aus den
strengen Mechanismen der Verwaltung in völlige Gesetzlosigkeit, aus religiösem
Leichtsinn und Indifferentismus in Gottesleugnung und Lästerung.
Gesetze und Rechte wurden mit Füßen getreten. Nichtachtung des
Eigentums hat sich in den Schriften kundgegeben und selbst in die
gesetzgebenden Körperschaften sind die kommunistischen Gelüste eingedrungen. An
die Stelle der noch herrschenden Kirchlichkeit war Kirchenfeindschaft und
offenbare Gottlosigkeit getreten, und wer sich dagegen aussprach, wurde
verhöhnt. Das traf in Sonderheit die Geistlichen, die nun Pfaffen hießen, deren
erbitterte Feinde die Lehrer mit waren. Freche schamlose Natürlichkeit
(Emanzipation des Fleisches) hat Sitte und Zucht vertrieben, allen Lastern
wurde offen gefröhnt, alle Verbrechen: Raub, Brand und Meuchelmord wurden
begangen, sogar öffentlich gepriesen, besungen und bezahlt; kannibalische
Rohheit zog ein in die Schichten der höchsten Bildung und feinen Gesinnung.
Seinen Ruhm und seinen Stolz hatte unser Volk in den Staub
gezogen und seine Schande in den Himmel erhoben. Die ehrwürdigen Denkmäler
tapferer Väter hat es geschändet, seinen sieghaften Herren hat es mit Schmach
bedacht, seine besten Fürsten hat es beschimpft und dafür den Volksheilsrednern
der Gasse mit ihrem meuterischen Gerede, die es um Freiheit, Lohn und Wohlstand
betrogen, Weihrauch geopfert. Ja, das treue, fromme, sittsame deutsche Volk hat
die Wege seines Gottes verlassen und ist in die Bahn des Verderbens geraten –
Als der Greul der Verwüstung im März 1848 in Berlin selbst bestand und
fortschritt in die Provinzen, wo die Amtsleute, die Wächter des Gesetzes und
der Ordnung, Besonnenheit und Mut verloren, die Zügel entfielen meist den zitternden
Händen, da griffen auf den Gassen die Buben danach. Jungparlamente und Klubs u.
Sicherheitsausschüsse u. Bürgerwehren,
lastlose Knaben und bärtige Großredenhelden maßen sich der Gesetzgebung
u. Regierung an. Da wurde der König beschimpft, Ministerhotels gestürmt, die
Häuser geplündert und verbrannt, .. u. Messer drohten Tod dem, der in das wilde
Geschrei nicht einstimmte. Nicht ... Abnahme des Handels u. des Gewerbes,
ungeheure, wachsende Arbeitslosigkeit u. Verarmung vermochten nicht aus dem Thümmel
zu reißen, unter wüsten Scherben vergaß man das Elend des armen Volkes, bis
endlich entschlossene Männer, Graf Brandenburg und Mant... an ihrem Volk die
Barmherzigkeit übten, die unsauberen Geister auszutreiben und Gesetz und
Obrigkeit wieder aufrichteten.
Christus ist das Leben der Welt! Neues Feuer, neuer Glaube,
neue Liebe durchdringt die Kirche wieder.
So sind wir auch fröhlich in Hoffnung. Doch die Nachwehen des
Jahres der Schmach und der Schande dauern noch fort und unsere Kinder werden
wohl auch noch büßen müssen. Neue Gefahr droht den Völkern, auch unserem
Vaterlande, von Osten durch den russisch-türkischen Krieg, nachdem England und
Frankreich nebst Österreich und Preußen im Anschlusse gegen Russland Partei
ergriffen haben. Unsere Staatsausgaben haben die Höhe von 104 Millionen Thalern
erreicht, während es im Jahre 1848 nur 65 Millionen waren, während der große
Teil des Volkes immer mehr verarmte. Das Jahr 1848 nahm auch den Kirchen- und
Schuldienern die Steuerfreiheit .In meiner bisherigen Stellung zahle ich 42 u.
10 M 15 ks Zinszuschlag. Zur allgemeinen Noth kommt das theure Brot. Schon nach
der Ernte des vorigen Jahres kostete der Scheffel Roggen, Berliner Maaß 3 M u.
stieg derselbe im Laufe dieses Jahres auf 4 M. Die Kartoffeln waren meist schon
im Januar aufgezehrt. Daher große Noth unter den Armen u. Ansprüche an die
Wohltätigkeit, die kaum zu befriedigen waren. Ich allein habe 250 M zum Opfer
gebracht. Der Weizen kostet über 5 M, Gerste 2, Hafer bis 2, Kartoffeln 1 u.
darüber. Ebenso steigen auch die Fleischmassen u. übrigen Bedürfnisse im
Preise. Nun hat Gott durch die Liebe reichen Segen gegeben, obgleich durch
Regen und Überschwemmungen viel Schaden entstanden, und die Preise fangen an zu fallen.
Unser Städtchen Seyda gehört zum landwirtschaftlichen Kreis
Schweinitz im Regierungsbezirk Merseburg. In Bezug auf Justiz gehören wir zum
Kreisgericht Wittenberg. Doch ist hier eine besondere Kreisgerichts-Commission,
welcher der Kreisgerichtsrath Gräber vorsteht. Das Ehemalige Rentamt ist nach Verkauf
der hiesigen, königlichen Domäne im Jahr 1830 mit dem in Wittenberg verbunden
worden. Mit dem Gebäude ist für die Domäne 20.500 M. gelöst worden. Die
Verwaltung der Stadt steht aus 1 Bürgermeister und 2 Assessoren, welche das
Magistratskollegium bilden. Zur Seite desselben steht das
Stadtverordnetenkollegium mit 6 Räthen. Die Schule besteht aus 3 Klasse mit
getheiltem Unterricht. Eine vierte Klasse hat sich längst schon nöthig gemacht;
doch fehlts an Mitteln dazu. An der Kirche steht der Superintendent – als
Pfarrer u. ein Diakonus, welcher Pfarrer zugleich in Mellnitz und Morxdorf ist.
Mit seinem Antritt hier anfangs des Jahres 1852 besorgt der Superintendent auch
die liturgischen Funktionen beim Gottesdienst, welche bis dahin dem Diakonus
oblagen.
Zur Ephori Seyda gehören zu dieser Zeit folgende Parochien:
1. Seyda: Pfarrer u. Sup. Friedrich Christoph
Jacobi, Diakonus Oscar Wilhelm Leberecht Nietzsche, Lehrer sind hier: Kantor
Wartenberg, Mädchenlehrer Gothe, Küster und Elementarlehrer Andrag.
2. Gadegast mit fil. (Filia – Tochter, die Tochtergemeinde) Zemnigk: Pfarrer Ferdinand Gottfried Fensch.
3. Kurzlipsdorf mit fil. Naundorf: Pfarrer
August Lebrecht Karl.
4. Mügeln mit fil. Lindwerder: Pfarrer Dr.
Johann Julius Ferdinand Wichmann.
5. Oehna mit fil. Gölsdorf u. Zellendorf:
Pfarrer Karl August Bischoff.
6. Seehausen: Pfarrer Johann August ...
Scr. Et subsc. Manu propriu
(geschrieben
und unterschrieben mit eigener Hand)
Friedrich Christoph Jacobi
Pfr. u. Sup.
Geboren den 24 Febr 1801 zu Wie… in Thüringen, von 1833 bis
Jul. 1840 Pfarrer in Rothenberge mit Bansdorf und Billerode, Ephorie
Eckartsberge, von 1840 bis 1851 Pfarrer und Superintendent in Eckartsberge.
Seit Januar 1852 hier.
Nec temere, nec timide!
(vielleicht:
“Weder ohne Grund, noch furchtlos!“)
Seyda, d. 1.ten August 1854.
Kirchenvorsteher waren:
Herr Kobelius, Kanzelist bei der Gerichts-Kommission
Herr Med. pract. Dietrich.
Bürgermeister: Herr Voigt, zugleich Post.. und Polizei...
Assessoren: Herr Gastgeber Schulze, Herr Bäckermeister
Hofmann... Tüllmann.
Bauleute waren:
Baumeister: Maurermeister Dalichow aus Jüterbog
Maurerpolier: Kohl, dahier
Zimmerpolier: ... bzw. jun., von hier
Die Gesellen der Maurer waren von Jüterbog, der Zimmerleute von
hier, der Schieferdecker aus Berlin, Karl Baamann, gebürtig aus Löhrste.“
(Findbuch
Pfarrarchiv Seyda Nr. 95.)
Dieser Bericht stellt natürlich eine recht einseitige
Beschreibung der Verhältnisse dar: eine Ablehnung des Neuen. In einschlägigen
Geschichtswerken wird man die rechte Einordnung dafür finden, das ist hier
nicht zu leisten. Vgl. auch „Die Geschichte der Kirche in Seyda“, Band 4.
Es
wird deutlich, dass es nicht einfache Zeiten waren, und dass die Gemeinde
dennoch die Kraft fand, diesen Turm zu bauen. Auch mit dem Grund, mehr
Sitzplätze in der Kirche zu schaffen (der alte Turm auf dem Dach brauchte
entsprechende Abstützungen, so dass Platz dafür verloren ging). Natürlich, um
einen festen Ort für die Glocken zu haben, die in Freud und Leid zu Gebet und
Gottesdienst rufen. Und sicher auch aus dem Grund, ein Wahrzeichen zu setzen, „zur Zierde unseres Städtchens und zum Lob
der Bewohner“, so schreibt es der Superintendent: dass man also auch von
ferne sehen kann, dass die Seydaer es ernst mit Gott meinen, dass sie
„gottesfürchtig“ sind, was als eine durchaus lobenswerte Tugend galt.
Die
Idee mit der Vergoldung des Turmknopfes kam allerdings von außerhalb: Der
Königliche Regierungs-Baurat Ritter aus Merseburg verfügte nach Besichtigung:
Der Knopf ist nicht etwa vom alten Turm wieder zu verwenden, sondern neu zu
fertigen, und zwar „auf Kosten milder
Beiträge der Gemeinde zu vergolden“.
Ein
gewaltiger Sturm zu Neujahr 1855 hatte die Turmfahne so gebogen, dass sie im
Sommer desselben Jahres wieder abgenommen und geändert werden musste. Da der
Knopf bei der Abnahme sehr beschädigt wurde, musste Baumeister Dalichow ihn neu
errichten, auf seine Kosten.
(Schriftverkehr Sup. Seyda, den 2ten Oktober 1855)
Mit welcher Liebe damals gebaut
wurde, kann man noch heute entdecken. Die großen Kirchentüren! Der Schlüssel –
ein einziger ist uns noch im Original erhalten, nämlich der, den die
katholischen Christen 1945 für ihre Gottesdienste bekamen, und der 1994
zurückgegeben wurde – dieser Schlüssel hat in seinem Bart einen Stern: Wie in
der dunklen Nacht ein Stern leuchtet, so soll uns Gottes Wort, was wir in der
Kirche hören, trösten und aufrichten.
Die
Engel über den Kreuzen an der Kirchtür hat Meister Bernhardt im Jahre 1993
wieder hergestellt. „Gott hat seinen
Engeln befohlen, dass sie dich behüten auf allen deinen Wegen.“ (Psalm
91,11). Der Segen
Gottes wird in dieser Kirche ausgesprochen, für die Brautleute, die über diese
Schwelle gehen, für die Konfirmanden, und für alle, die in Freud und Leid zum
Gottesdienst kommen.
An
der Kirchtür sind auch die Symbole für Glauben, Liebe und Hoffnung angebracht –
in den Beschlägen finden sich Anker, Herz und Kreuz. Paulus hat über das
geschrieben, was alle Zeit bleibt: „Nun
aber bleiben Glauben, Hoffnung, Liebe, diese drei. Aber die Liebe ist die
Größte unter ihnen.“ (1 Kor 13,13).
Wie alt der Davidsstern ist,
der über der Kirchtür als Fenster angebracht ist, konnte noch nicht ermittelt
werden. Die Holzbearbeitung spricht dafür, dass er schon mit Maschinen
angefertigt sein könnte, also vielleicht nicht ganz ursprünglich ist. Er
erinnert an den großen König des alten Gottesvolkes der Juden, David – und an
diese Wurzel unseres Glaubens. Jesus selbst kommt aus diesem Volk, zu
Weihnachten singen wir es: „Hosianna!
Davids Sohn!“
Es
ist eine Besonderheit unserer Kirche, dass wir diesen Stern haben – und vor
allem, dass er auch die Zeit des Nationalsozialismus überlebt hat. Damals, als
die Juden verfolgt und ermordet worden sind, soll auch Seydaer Hitlerjugend
versucht haben, den Stern aus der Kirche zu entfernen. Pastor Hagendorf stellte
sich vor ihn, und mit der Bemerkung: „Der ist älter als ihr!“ schickte er die
Jungs wieder nach Hause. Der Stern blieb, Pastor Hagendorf kam später, wohl
aufgrund kritischer Äußerungen, ins Gefängnis.
Im Turm hingen über 100 Jahre
lang die Gewichte der Turmuhr. Einige von ihnen kann man noch auf dem
Kirchenschiff betrachten. Mindestens einmal ist auch ein Strick gerissen, und
die Gewichte sausten durch die Böden hindurch und hinterließen Löcher in den
Decken.
Die mechanische Turmuhr wurde 1896 von dem Uhrmacherbetrieb
Wencke aus Bockenem bei Hannover für 1.650 RM angefertigt.
Einmal in der Woche wurde
sie an den drei Wellen aufgezogen. Lange Zeit tat diesen Dienst Uhrmachermeister
Willy Thiele aus der Triftstraße. Die Gewichte hingen an langen Seilen den
ganzen Turm hinunter. Nach der Turmuhr richteten sich die Bauern bei ihrer
Arbeit auf dem Feld. Man konnte sie mit dem damals noch schwarz-weiß gehaltenen
Ziffernblatt auch von großer Entfernung aus erkennen.
Jedoch ist schon im
Kostenangebot von 1854 eine Turmuhr enthalten. Die Uhr veränderte das Leben in
Seyda beträchtlich. Richtete sich doch das Leben vorher nach der Sonne – nun
aber ging es „pünktlich“ und nach dem Glockenklang: die Schule, der
Arbeitsbeginn, die Mittagspause, der Arbeitsschluss. Das war neu – in Zeiten,
wo man noch mit der Kreide für jeden Tag einen Strich über die Tür malte, um
nicht zu verpassen, wann Sonntag war. Da wurde dann abgelöscht und wieder neu
begonnen.
Der Turm hat das Aufblühen
des Städtchens in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts erlebt: Den Bau der
neuen Schule 1881 nebenan, den Neubau
der Orgel, der durch den größeren Platz nun möglich war, 1881; auch die Errichtung
der „Arbeiterkolonie“ 1883.
Die
Glocken des Turmes läuteten früh zur Schule und zum Abendgebet, zu den
Feiertagen, aber auch bei Sturm und Unwetter, Feuer und Krieg. Die alte Glocke
von 1717, die auch heute noch im Turm aufgehängt ist, trägt folgende Inschrift:
Jahr und Tag
Da Dir Dein Schall durch
das Feuer benommen
war das 1708 der 28.
August und also ein Unglück
daß Du das große
Jubelfest A(nno) 1717 D(omini) 31. Oktober in Seyda
nicht intimiren konntest.
Doch ist das Glück noch
größer -
daß Du in eben dießen
Jahr D(omini) 28. November Deinen Thon wieder bekommen und
den Freudenthon
Evangelischer Christen ins Künftige zu vermehren
Deine Stelle bewahre Gott
vor Feuer und übrigen Unglück
die Dir aufs Neue
wiederum verschaffet
Herr ANDREAS GORMANN
P(astor) und SUPTERINT(endent) Wiauch
Herr GUSTAV Friedrich
PACKBUSCH Ambtmann alda
Diese Glocke wurde 1717
aus Bronze gegossen, sie ist 540 kg schwer und hat einen Durchmesser von 95 cm.
Zur gleichen Zeit wurde noch
eine andere Glocke in den Turm gehängt, die jedoch 1917 für Rüstungszwecke
abgeliefert werden mußte. Auch sie hatte eine Inschrift:
1708 SOLI DEO GLORIA 1717
Gott lasse niemals uns
zum Schrecken hören summen,
erhalte rein sein Wort, stürz
aller Feinde Brummen,
Wend ab Pest, Krieg und
Feuer, so geht’s mit gutem Klang,
Und du Mensch, bringest
Gott mit Freuden Lobgesang.
(„Soli deo gloria“ heißt „Gott allein die
Ehre“).
Leider ist uns der Bericht
des großen Heimatforschers, Pastor Heinecke, von 1908 für die Turmkugel nicht
überliefert. Bekannt ist aber sein Heimatlied für Seyda, in dem auch der
Kirchturm Erwähnung findet:
Durch Gadegast im Nu
Vorbei an Wiesenstücken
Auf Seyda zu.
Vom Kirchturm winkt die Fahne,
Dort grüßt die Molkerei.
Wie schade, daß die Bahne
Nicht fährt vorbei!
Das Auto fährt gar schnelle;
jetzt biegt´s ins Städtchen ein
Bald werde ich zur Stelle
Bei Muttern sein!
Schon seh ich meine Lieben
Dort auf dem Marktplatz stehn.
Zu Haus ist keiner blieben.
Die Tücher wehn!
(HG
7/1931).
Welche Fahne damals vom
Kirchturm wehte, oder ob es einfach poetisch gemeint ist, das ist schwer zu
sagen.
Unsere
heutige Kirchenfahne zeigt das violette Kreuz auf weißem Kreuz. Sie soll aber
erst in den dreißiger Jahren, zuerst wohl von den „Deutschen Christen“,
eingeführt worden sein.
Die
Vorrichtung zum Aufhängen der Fahne wurde Ende der 90iger Jahre durch Meister
Bernhardt aus Schadewalde angebracht und gestiftet. Leider ist kurz darauf bei
einem starken Sturm das dicke Wasserrohr, was die Fahnenstange darstellte, wie
ein Streichholz abgeknickt: solche Kräfte wirken am Kirchturm!
Anlässlich
einer Dachreparatur in der Pfingstwoche 1929 wurde der Knopf des Kirchturms
erneut geöffnet, und Pfarrer Dr. Graf schrieb folgenden Bericht zur
Wiedereinlage:
Ein orkanartiger Sturm hatte jüngst an der Turmhaube –
namentlich auf der Südwestseite – eine Reihe von Schiefersteinen
herabgeschleudert und auch viele gelockert, die herabzufallen drohten und für
Passanten der Kirchenwege eine Gefahr bildeten. Bei den Ausbesserungsarbeiten,
die vom G(emeinde) K(irchen) R(at) dem Dachdeckermeister Paul Meyer aus Leipzig
übertragen waren, stellte es sich heraus, das auch der Turmknopf einige Defekte
aufwies, namentlich zeigte er ca. 10 Löcher, welcher von Gewehrkugeln
herrührten, die früher von unberufener Hand wahrscheinlich auf Eulen und
Raubvögel, die sich auf der Turmspitze niederließen, abgeschossen waren. Durch
diese Kugellöcher war nun Regen in den Turmknopf gesickert und hatte die alten
darin aufbewahrten Urkunden, die bei der letzten Kuppelöffnung im Jahre 1908
ohne eine blecherne Schutzkapsel wieder hineingelegt waren, stark beschädigt.
Die Blätter waren zum Teil so verwittert und vermodert, dass die Schrift stellenweise
ausgewischt und unleserlich war, auch zerfielen einige Blätter bei noch so
vorsichtigem Anfassen in der Hand. Um den Inhalt der alten Turmurkunden der
Nachwelt zu erhalten, hat der unterfertigte Pfarrer dieselben, soweit es
möglich war, wortgetreu abgeschrieben und davon zwei Abschriften anfertigen
lassen, und zwar von den Aufzeichnungen:
1.
des
Sup. Gormann vom 13. September 1712,
2. des
Sup. Camenz vom 10.
Oktober 1830,
3. des
Sup. Jacobi vom 1. August
1854.
Je eine Abschrift wurde den alten, verwitterten
Originalurkunden beigefügt und wird mit diesen in eine Blechbüchse verpackt
heute wieder in den Turmknopf gelegt. Das andere Exemplar der Abschriften wird
dem Kirchenarchiv eingegliedert. Die letzte Turmschrifteinlage, angefertigt von
dem damaligen Diakonus Heinecke im Jahre 1908, ist im Original beigegeben, weil
das Manuskript noch sehr gut erhalten ist, einmal weil es jüngeren Datums ist,
sodann weil es in Glas verpackt gegen die Witterungsverhältnisse geschützt war.
Auch die alten kleinen Kupfermünzen werden wieder eingelegt.
Und
nun folgt wieder eine Beschreibung der Zeit, die hier ungekürzt wiedergegeben
werden soll – trotz einiger sachlicher Fehler sowie in dem Bewusstsein, dass
sich aus heutiger Sicht manches anders darstellt. Es ist ein Zeitdokument, was
die Stimmung beschreibt, die damals herrschte, und die der Nährboden war für
die große Annahme, die Hitler finden konnte, und den schlimmen Krieg, der
darauf folgte.
„Seit den letzten Aufzeichnungen von 1908 haben sich
welterschütternde Ereignisse zugetragen, namentlich entfacht von dem
vierjährigen Weltkrieg, der vom 1. Juli (August! T.M.) bis 9. November 1918 wütete. Es war das
grösste und blutigste Völkerringen, das je die Erde sah! Deutschland mit seinen
drei Verbündeten (Oesterreich,
Bulgarien und Türkei) führte gegen 22 Nationen einen Verteidigungskrieg auf
Leben und Tod. Unvergleichliche Heldentaten haben unsere deutschen Heere zu
Land und zu Wasser vollbracht und standen bis zuletzt durch Waffen unbesiegt
einer zwölffachen Uebermacht gegenüber in der Feinde Länder! Annähernd zwei Millionen deutscher Soldaten
haben ihr Leben gelassen zum Schutze des bedrohten Vaterlandes; Aus unserer
Kirchengemeinde Seyda starben 123 Krieger den Heldentod!
(Diese Zahl stimmt nicht mit den Toten auf der Gefallenentafel
überein.)
Auch die heimatliche Bevölkerung, die alles Edelmetall wie Gold, Silber, Kupfer
usw. auf den Altar des Vaterlandes legte, brachte und erduldete die grössten
und schwersten Opfer der Entsagung und Entbehrung! Da Deutschland durch die
feindlichen Land- und Seemächte von jeglicher Zufuhr von Lebens- und
Existenzmitteln abgeschnitten war, stieg die Not unseres Volkes immer mehr.
Alle Lebensmittel wurden proportioniert, d.h. jede Person erhielt - unter
strenger staatlicher Kontrolle - nur auf sogenannte Lebensmittelkarten ein bestimmtes, kaum ausreichendes Quantum an Brot,
Fleisch, Milch, Butter, Kartoffeln, Mehl usw.; auch die Bekleidungsstücke
wurden rationalisiert! Der teuflische Plan der Entente, wie sich die alliierten
feindlichen Mächte nannten, Deutschland durch Aushungern niederzuzwingen,
wirkte sich immer fühlbarer und drückender aus. Die Kräfte unseres Volkes –
sowohl die leiblichen und die seelischen – erschöpften sich immer mehr, während
die Feinde aus allen ihren Ländern stets neue Hilfsquellen auch an Kriegs- und
Menschenmaterial zuströmten. Nach über 4jährigem heldenmütigsten, in der
Geschichte einzig dastehenden Ringen kam es am 9. November 1918 zu einem
innerlichen Zusammenbruch Deutschlands, der katastrophale Wirkungen nach sich
zog.
Die Flamme der Revolution, von staatsfeindlichen Elementen im
Geheimen vorbereitet und geschürt, brach plötzlich hervor, breitete sich mit
Sturmeseile über ganz Deutschland aus und griff auch auf den größten Teil
unserer Truppen über, die die Waffen niederlegten und im aufgelösten Zustand
zurückfluteten. Nur die unbesiegten Fronttruppen aus dem Westen kehrten unter
Führung des greisen Generalfeldmarschalls von Hindenburg in Zucht und Ordnung
zurück; nur diesen ist es zu verdanken, dass der drohende Bürgerkrieg verhütet
wurde. Das deutsche Kaiserreich geht in Trümmer. Kaiser Wilhelm II. wurde zur
Abdankung gezwungen und nahm seine Zuflucht nach Thorn in Holland, wo er „in
Verbannung“ lebt, ähnlich wie früher Napoleon I. auf St. Helena. Alle deutschen
regierenden Fürsten wurden entthront, Deutschland wurde zur „Republik“ erklärt,
bestehend aus den einzelnen „Freistaaten“. Der erste vom deutschen Volke
gewählte Reichspräsident war der Führer der Sozialdemokratie, Fritz, (Friedrich Ebert, T.M.) der 1925 starb. Sein Nachfolger, ebenfalls
durch Volksabstimmung gewählt, ist der oben genannte Gen. Feldm. Von
Hindenburg, der ruhmreichste Heerführer im Weltkrieg, der trotz seines hohen
Alters von 78 Jahren das schwere, verantwortungsvolle Amt des Reichspräsidenten
übernahm und dasselbe mit großer Umsicht und Tatkraft versieht. Erdrückend
waren und sind die Kriegsentschädigungen und Tribute, die die Siegerstaaten,
wie sich unsre Feinde jetzt nannten, in unversöhnlichem Hass im Frieden von
Versailles unserm Volk aufbürdeten, dass sie in lügenhafter Weise für die
Schuld am Ausbruch des Krieges verantwortlich machen. Von den schweren
Friedensbedingungen, die uns auferlegt wurden, seien nur einige erwähnt:
Wegnahme ehemaliger deutscher Reichsgebiete, wie Elsaß-Lothringen (an
Frankreich), der Provinz Posen, ebenso der sog. polnische Korridor, der Polen
mit der Ostsee verbindet und West- und Ostpreussen vom deutschen Reiche trennt,
einen Teil Oberschlesiens mit den reichen Kohlengruben, ebenfalls an Polen, den
nördlichsten Teil von Schleswig-Holstein an Dänemark usw., Verbot der
allgemeinen Wehrpflicht (Deutschland darf nur eine kleine Reichswehr von
100.000 Mann unterhalten, während die Ententestaaten immer weiter rüsten). Raub
unserer sämtlichen deutschen Kolonien. Besatzung des linken Rheinufers mit
feindlichen Truppen auf 5 bis 15 Jahre. Die Höhe der Kriegstributionen steht
bis heute noch nicht endgültig fest, doch dürften sich dieselben auf über
hundert Milliarden Goldmark belaufen. Alljährlich muss Deutschland über 2 Milliarden
Goldmark an die Ententeländer abführen, so dass noch Generationen unseres
Volkes unter dieser ungeheuren Schuldenlast seufzen und harte Frondienst
leisten müssen. Die Vermögenssubstanz unseres Volkes schmilzt immer mehr
zusammen; Deutschland, das einst so reich und blühend war, sinkt auf die Stufe
völliger Verarmung und Versklavung herab. Am schlimmsten war die Zeit der sogenannten
Inflation, der Geldentwertung, die bald nach dem Zusammenbruch einsetzte und im
Jahre 1923 ihren Höhepunkt erreicht hatte. Alles wurde nach dem amerikanischen
Dollar, der seinen stabilen Friedenskurs bewahrt hatte, bemessen. Die deutsche
Friedensmark, die früher den Wert eines ¼ Dollars hatte, verlor von Tag zu Tag
an Kaufkraft; ihr Kursrückgang vollzog sich rapid und in erschreckender Weise,
sie entsprach zunächst 100, dann 1000, dann 10000, 100000, dann einer Million
Papiermark, zuletzt gleich einer Milliarde, dann hundert Milliarden und endlich
einer Billion, gleich tausend Milliarden. Man rechnete nur noch nach Milliarden
und Billionen. Immer neue, immer höher lautende Geldscheine wurden gedruckt,
die früheren wurden als wertlos weggeworfen oder die Kinder spielten damit. Wir
legen in den Turmknopf einige dieser Inflationsgeldscheine bei, die von
Deutschland in größter Not zeugen und der Nachwelt als Kuriosa erscheinen
werden. Am schlimmsten litten die Beamten unter dieser Geldentwertung, denn sie
erhielten ihr Monatsgehalt, als es völlig entwertet war. Auch die alten, noch
aus der Vorkriegszeit stammenden Banknoten über 100 und 1000 Friedensmark
wurden als wertlos bezeichnet. Erst gegen Ende von 1923 kam es zu einer
sogenannten Stabilisierung, indem 1 Billion Papiermark gleich einer neuen
Reichsmark oder neuen Goldmark festgesetzt wurde. Nun erst zeigte sich die
ganze verheerende Wirkung der Inflation, der ungeheure Vermögensverlust des
Volkes sowie des einzelnen. Die Staatsregierung erklärte auch die früheren
mündelsicheren Anleihen als entwertet und speiste die Altbesitzer, d.h.
diejenigen, die ihren Besitz an Wertpapieren usw. bis 1922 nachweisen konnten,
mit einer sogenannten Aufwertung, d.h. einer Entschädigung bis 12 ½ % ab, aber
erst zahlbar durch Auslosung im Laufe von 30 Jahren! Wer also sein Vermögen
früher in „sicheren“ Staatsanleihen, preussischen Konsols, Provinzial- und
Städteanleihen angelegt hatte, verlor also glatt 87 ½ % seines ehemaligen
Besitzstandes, während der Rest ihm möglicherweise erst in Jahrzehnten
ausgezahlt wird.
Dem Beispiel des Staates folgten die Banken, die Sparkassen,
die die Einlagen auch nur bis 12 ½ % aufwerteten, nur den alten
Hypothekforderungen wurde eine Aufwertung bis zu 25 % zugesprochen.
Infolgedessen verarmten die früher Vermögenden fast völlig; auch diejenigen,
die sich für das Alter Ersparnisse zurückgelegt hatten, gingen derselben
verlustig und sind heute nur auf kleine Staatsrenten, die kaum zum
notdürftigsten Lebensunterhalt ausreichen, angewiesen.
Auch unsere hiesige Kirchengemeinde Seyda, die einst über ein
grosses Vermögen verfügte, wurde schwer betroffen. Das Gut Mark Zwuschen, das
ca. 1.200 Morgen umfasste und als Pfründe zur Oberpfarre gehörte, war im Jahre
1913 (1908!
T.M.), also kurz vor dem
Krieg, verkauft, und der Erlös von über 100.000 Reichsmark in mündelsicheren
Staatspapieren angelegt worden - ist nun dahin! Zwar besitzt die Gemeinde Seyda noch einige Kirchen- und
Pfarrländereien, aber die Einnahmen reichen zur Bestreitung der kirchlichen
Bedürfnisse und zum Pfarrgehalt bei weitem nicht aus, so dass jetzt
Kirchensteuern erhoben werden müssen, z. Zt. betragen dieselben 6% der
Staatseinkommenssteuer, sowie 12 bis 20% der Realgrundsteuern und bedeuten eine weitere Belastung für die durch Abgaben
aller Art schon bedrückten Gemeindeglieder. Die Steuerschraube ist bis zum
äussersten angezogen und erfasst alle Einkünfte und jeden Vermögensbestand,
sodass an Ersparnisse nicht mehr zu denken ist. Auch zehren die Kriegsschulden
alles auf. Trotz der Stabilisierung der deutschen Reichsmark herrscht eine
allgemeine Preissteigerung; alles ist heute doppelt, ja dreifach so teuer wie
in der Vorkriegszeit.
Was die evangelische Kirche anbetrifft, so steigert sich ihre
Notlage immer mehr. Auf Betreiben der sozialistischen Parteien ist die Trennung
von Staat und Kirche vollzogen worden! An Stelle der Landesfürsten, die früher das
Amt eines summus episcopus bekleideten, ist jetzt der sogenannte Kirchensenat
getreten. Dann folgt der E(vangelische) O(berkirchen) R(at), dem die
Konsistorien unterstehen! – Gegenwärtig leistet der Staat noch einen grösseren
Zuschuss zur Besoldung der Geistlichen. Wenn aber einmal dieser Zuschuss
aufhört, dann wird die Gehaltsfrage zu einem äusserst schwierigen Problem sich
gestalten. Schon heute herrscht ein außerordentlicher Mangel an jungen
Pfarrern. Die Anzahl der Theologiestudierenden ist auf ¼ der Vorkriegszeit
zurückgegangen. Viele Pfarrstellen (in der Provinz Sachsen allein über 400)
können nicht mehr besetzt werden und müssen von Nachbargeistlichen mitversorgt
werden. Auch die
hiesige 2. Pfarrstelle, das sogenannte Diakonat, ist seit 1921 vakant und wird
von dem Inhaber der ersten (Ober)pfarrstelle mitverwaltet. Ob es je wieder zur
Neubesetzung des Diakonats kommen wird, erscheint sehr fraglich. Auch ist die
frühere Superintendentur Seyda seit etwa 30 Jahren eingegangen, die Gemeinden
wurden der Sup. Zahna zugeteilt, doch ist auch die Sup. Zahna voriges Jahr
(1928) hauptsächlich wegen Ersparnis der Verwaltungskosten aufgelöst worden.
Seyda ist gegenwärtig der Ephorie Jessen angeschlossen, der auch die frühere
Sup. Prettin angegliedert wurde. An der Spitze des Kirchenkreises Jessen steht
der fast 70jährige Oberpfarrer und Sup. Hosch in Jessen.
Auch sonst trägt die evangelische Kirche das Kleid der Armut
und Not. Während des Krieges wurden auf staatliche Anordnung fast überall die
Kirchenglocken und Orgelpfeifen beschlagnahmt und abgenommen, um daraus
Kriegsmaterial herzustellen, eine Art Sacrilegium, das sich bitter rächte, denn von jener Zeit
an wich der Segen Gottes von unserm Volk. Auch unsere Gemeinde Seyda musste von
ihren zwei Kirchenglocken eine abliefern, sowie die Orgelpfeifen; bis heute ist
es aber der Gemeinde nicht möglich gewesen, dieselben zu erneuern; doch hoffen
wir, dass es uns mit Gottes Hilfe durch jährliche Rücklagen und freiwillige
Gabensammlungen bald gelingen wird, wieder eine zweite Kirchenglocke
anzuschaffen und die Orgel wiederherzustellen. Auch das Innere der Kirche
bedarf dringend einer gründlichen Renovation, doch fehlen uns dazu die
erforderlichen Mittel...
Was nun das religiöse und kirchliche Leben anbetrifft, so hat
dasselbe durch den Krieg mit seinem unglücklichen Ausgang die schwersten
Erschütterungen erlitten. Ein fühlbarer Zug der Gottentfremdung und des
Unglaubens sowie eine antireligiöse und antikirchliche Bewegung geht durch
unser deutsches Volk... Die Jugend soll ohne Religion erzogen werden, die
christliche Glaubens- und Sittenlehre soll durch sogenannte Morallehre ersetzt
werden.
Hier in Seyda sind bisher keine Kirchenaustritte erfolgt. Selbst
die Arbeiter, die sozialistisch und kommunistisch eingestellt sind, halten an
der kirchlichen Sitte der Taufe und Konfirmation sowie der kirchlichen Trauung
und Bestattung durch den Pfarrer fest; aber den kirchlichen Gottesdiensten,
Abendmahlsfeiern und sonstigen kirchlichen Veranstaltungen bleiben sie
möglichst fern. Auch haben hier in Seyda die mannigfachen Sekten, die sich
überall regen, und unter denen besonders die V.E.B. (Ernste Bibelforscher) (nennen sich erst seit 1931 „Jehovas
Zeugen“) und die Weissenberger
große Propaganda machen, bis jetzt keinen Fuß fassen können, nur eine kleine
Familie bekennt sich zu der letztgenannten Sekte.
Sehr beklagenswert und folgenschwer ist die immer
fortschreitende Entsittlichung unsres Volkes, namentlich des größten Teiles
unserer deutschen Jugend. Der Sonntag wird immer mehr entheiligt und immer
weniger geachtet; der Kirchenbesuch ist im Vergleich zur Vorkriegszeit
erheblich zurückgegangen; er
umfasst hier in Seyda an gewöhnlichen Sonntagen durchschnittlich gerechnet ca.
40-50 erwachsene Gemeindeglieder (vorwiegend Frauen), dazu kommen noch ca. 15
Lehrlinge der Landwirtschaftlichen Lehranstalt und einige Konfirmanden. An den
Fest- und Feiertagen ist die Kirche gefüllt. Die Zahl der Abendmahlsgäste in
Seyda betrug im vergangenen Jahr 1928 insgesamt 525. In den Filialdörfern
Mellnitz und Morxdorf ist der Kirchenbesuch reger. Erschreckend ist der
allgemeine Geburtenrückgang in unserm Volk, der auf 1/3 der Vorkriegszeit
gesunken ist. Gegenwärtig halten sich die Geburts- und Todesfälle fast das
Gleichgewicht... Die Zahl der
unehelichen Geburten wächst. Auch werden die Eheschliessungen reiner Brautleute
immer seltener. Die Zahl der Geburten
in der Stadt Seyda betrug im letzten Jahr 23, die der Todesfälle 22. Auch ist
die Zahl der städtischen Einwohner in den letzten Jahren gegenwärtig auf 1.445
Seelen gesunken. Obgleich Seyda durch die täglich mehrmalige Post- und
Personenautoverbindung mit Zahna aus seiner Entlegenheit den Verkehrszentren
näher gerückt ist, dürfte wohl in absehbarer Zeit kaum mit einem Wachstum und
Aufschwung der Stadt zu rechnen sein.
Was noch besonders am Mark unsres Volkes zehrt, ist eine
Vergnügungs- und Verschwendungssucht in solchem Ausmaß, wie man es nie im
Vergleich zu der früheren schlichten und sparsamen Lebensweise des deutschen
Volkes für möglich gehalten hätte. Trotz aller Notlage und der herrschenden
Teuerung fröhnt der überwiegende Teil unsres Volkes einer Genusssucht, wie man
sie früher noch nicht kannte. Dass diese Zustände der wachsenden Gottentfremdung,
des Abfalls vom Glauben und die Entsittlichung unser Volk immer mehr dem
Verderben entgegentreiben müssen, muss jeden ernsten und wahren
Vaterlandsfreund mit schwerer Besorgnis erfüllen. Wir können nur Gott bitten,
dass er sich unsres armen, verblendeten Volkes erbarme und es mit seines
heiligen Geistes Kraft zur religiösen Wiedergeburt und zur sittlichen Erneuerung erwecke.
Wir wollen auch angesichts aller schwerer Bedrängnisse und
Zustände unserer Evangelischen Kirche nicht verzweifeln, sondern mit dem Psalm
46 bekennen und rühmen: „Gott ist unsere Zuversicht und Stärke, eine Hilfe in
den großen Nöten, die uns getroffen haben.“ Auch wollen wir festhalten an der
Verheißung des Herrn unserer Kirche Jesu Christi, dass die Pforten der Hölle seine
Gemeinde nicht überwältigen sollen, wenn dieselbe nur festgegründet bleibt in
dem Glauben an ihn, den hochgelobten Sohn Gottes (Mt 16,18).
Ganz besonders sei unsere evangelische Kirchengemeinde und
Stadt Seyda der Gnade, dem Schutz und Segen Gottes befohlen. Geschrieben und
unterzeichnet
Seyda, den 24. Mai 1929
Pfarrer Dr. phil. Theodor Graf (seit dem 1. September 1926 in
die hiesige Pfarrstelle berufen).“
(Es folgt eine Liste
der Körperschaften und der Kirchenbeamten. Quelle ist eine Abschrift aus dem Pfarrarchiv,
Findbuch Nr. 95, in dem die Namen dazu auch nicht genannt sind.)
Der
Blitzableiter kam im Jahre 1931 auf den Turm, auf amtliche Verfügung hin, und
auch auf Drängen des Bürgermeisters Wienicke.
Die
Hoffnung, dass der „Nationalsozialismus“
eine Verbesserung der Lage des Landes und auch ganz persönlich bringen würde,
ergriff viele. Das kam auch in Seyda bei verschiedenen Feierlichkeiten zum
Ausdruck. Im August 1933 konnte endlich die zweite Glocke wieder ersetzt
werden, die im Weltkrieg abgegeben worden war. Das schien wie ein Zeichen einer
neuen, besseren Zeit zu sein. Auf der Glocke war zu lesen:
„1917 O Land, Land, Land, höre des Herrn Wort 1933
Wach auf, Wach auf, du deutsches Land
du hast genug geschlafen
Bedenk, was Gott an dich gewandt,
wozu er dich geschaffen
Bedenk, was Gott dir hat gesandt
und dir vertraut sein höchstes Pfand,
drum magst du wohl aufwachen!“
Die Glocke wurde auf
einem mit Blumen geschmückten Wagen durch die Stadt gefahren und dann - alle
Schulkinder mußten anfassen - an einem Strick den Turm hinaufgezogen. Die „Heimatgrüße“ berichteten:
„Seyda, 22. August.
Das diesjährige Kinderfest erhielt in diesem Jahre dadurch eine ganz besondere
Note, dass es seinen Anfang mit der Einholung unserer neuen zweiten Glocke
nahm. Der Rollwagen mit der festlich geschmückten Glocke nahm in der
Triftstraße Aufstellung. Dort versammelten sich die kirchlichen Körperschaften
und die SA. Die Glocke selbst wurde geleitet von jungen Mädchen des
Jugendbundes. Auf dem Marktplatz erwartete eine große Menge den Wagen mit der
Glocke, der dann am Denkmal (Kaiser Wilhelms am Eingang der Bergstraße zum
Markt) hielt. Die Kapelle intonierte zu Beginn das Lied „Lobe den Herrn“. Die
Menge sang gemeinsam die ersten 3 Strophen dieses Liedes. Schulkinder, Knaben
und Mädchen in bunter Reihe, trugen Stellen aus Schillers unsterblichem „Lied
von der Glocke“ vor. Pfarrer Mücksch ergriff dann das Wort, indem er etwa
folgendes ausführte: „Freude dieser Stadt bedeute, Friede sei ihr erst
Geläute!“ Das sind die gewaltigen Grundtöne, die sich heute zu einem vollen
Zusammenklang vereinen und immer weiter
klingen sollen: Freude und Friede. Unter dem Zeichen der Freude steht heute
unsere Stadt...
Der eherne Mund der Glocke will unser Volk aufrütteln mit dem
Mahnen zum Worte Gottes. Die Glocke will unser Leben begleiten. Wenn wir unsere
Kinder zur Taufe tragen, wenn zwei Menschen ihre Hände zu gemeinsamem Lebensweg
ineinander legen, sie wird ihre Sprache vom Gotteswort und von seinem ewigen
Ernst sprechen. Sie will unsere Gemeinde am Sonntag zur heiligen Feierstunde
rufen. Und sie wird auch einmal über dem offenen Grabe ihre Stimme erheben, das
auf Deinen letzten Gang wartet. Wenn die Glocke läutet, so wollen wir bedenken,
was uns anvertraut ist. Ein Unterpfand zur Freude und zum Frieden. Darum: „Wach
auf, wach auf du deutsches Land, du hast genug geschlafen!“
(HG
9/1933).
Diese Glocke wurde 1944
wieder abgehängt, sie musste zu Rüstungszwecken abgegeben werden.
An ihre Stelle trat eine Glocke
aus Stahl, 1956 gefertigt, mit der Inschrift: „Lasst Euch versöhnen mit Gott!“
Dieses Wort des Paulus
war hineingesprochen in eine Zeit nach schlimmsten Kriegserfahrungen:
Deutschland hatte wiederum einen Weltkrieg entfacht und millionenfaches Leid in
viele Völker getragen, schließlich war es zurückgekommen bis in die Heimat,
nach Seyda. 1956 – das war auch die Zeit des Kalten Krieges, der
Unversöhnlichkeit zwischen den Machtblöcken in Ost und West. Und es war die
Zeit, als die Kirche mehr und mehr ins Abseits kam. Die Zahlen sprechen für
sich: 1950: 70 Konfirmanden. 1960: 3. Die Kirche wurde als Vertreterin des
Alten an den Rand gedrängt; sichtbares Zeichen dafür waren auch die großen
Putzschäden, die nach Jahrzehnten am Kirchturm entstanden, und das Abblättern
der Farbe im Inneren und an der Kirchtür.
Im
Jahre 1935 war die Kirche neu ausgemalt worden, so auch der Vorraum zur Kirche,
im Turm. „O Land, Land, Land höre des
Herrn Wort“ – das sind Worte aus dem Propheten Jeremia. Pastor Ostermann,
der die Sprüche für die Kirche wohl aussuchte, schrieb unter anderem im
Gemeindeblatt davon, dass sich durch die Abwendung von Gott und der Kirche die
Gefängnisse füllten, die Familien zerbrechen würden, viel Leid entstünde. Die
Buchstaben Alpha und Omega sowie CHi und Rho weisen daraufhin, dass CHRistus
der Anfang und das Ende von allen Dingen ist. Das ist eine sehr tröstliche
Mitteilung. Dietrich Bonhoeffer entwickelte in diesen Jahren den Gedanken von
dem „Letztem“ und dem „Vorletztem“: Jesus Christus spricht das letzte, das
endgültige, entscheidende Wort über unser Leben, zeitlich und qualitativ.
Unter der Treppe hat sich auch der Malermeister Richard
Mechel verewigt, damals, mit seinem Namenszug und der Jahreszahl: 1935.
Freilich
gab es auch in DDR-Zeiten Anstrengungen, die Kirche zu erhalten. Der Orgelmotor
mit dem großen Blasebalg, der die Luft ausgleicht, kam in die erste Etage des
Turmes, in den fünfziger Jahren. 1966 sollten die Ziffernblätter der Turmuhr
einmal erneuert werden, das war nicht möglich, 1981 wurde wieder ein solcher
Antrag gestellt. Schließlich blieb die Uhr stehen.
Einen
schönen Holzschnitt hat Diakon Solbrig in diesen Zeiten von der Kirche
angefertigt. Er fand und findet vielfältig Verwendung. Wenn der Kirchturm auch
äußerlich nicht gut aussah, so gab es doch auch in Seyda etliche Leute, die
ihre Kirche lieb hatten und am Glauben festhielten.
Die
Wende kam, 1990.
Pfarrer Podstawa, der früher Schlosser gewesen war, rüstete
selbst den Kirchturm ein. Frau Gertraude Lenz und Herr Otto Lehmann halfen ihm
dabei.
Der Kirchturm bekam neuen
Putz und frische Farbe, und die Turmkugel mit dem Kreuz wurden erneuert.
Pfarrer Podstawa schrieb für die Turmkugel:
„Am Mittwoch, den 1. Juli 1992, wird durch die Firma Paditz aus
Lommatzsch in Sachsen die Bekrönung des völlig renovierten Turmes der Seydaer
Kirche durchgeführt. Dies war seit 1933 die erste gründliche Erneuerung – also
seit fast 60 Jahren.
Was wurde alles getan, und welche Firmen beteiligten sich
daran? Der Turm erhielt ein neues, zugleich in Kupferblech eingefasstes,
Schieferdach. Er wurde verputzt und gestrichen, Fenster und Schallluken wurden
erneuert, eine vergoldete Turmkugel mit Kreuz hergestellt, neue Zifferblätter
für die Turmuhr.
Daran mitgearbeitet haben die Firmen: Baugeschäft Günter Sommer
– Seyda, Zimmerei Otto Werner & Sohn, Gadegast, Dachdeckerei Wilfried
Meusel – Morxdorf, Elektromeister Bittner – Elster (Blitzschutz), Malerei PGH
aus Jessen, Tischlereimeister Schudde – Seyda und die oben erwähnte
Kupferklempnerei Ernst Paditz & Sohn aus Lommatzsch bei Meißen.
Die Bauzeit war von März bis Juni 1992.
An vielen Kirchen wurde in dieser Zeit gebaut. Warum eigentlich
erst jetzt? Was war geschehen? Am 30. Januar 1933 wird Adolf Hitler zum Reichskanzler Deutschlands
gewählt. Seine Nationalsozialistische Deutsche Arbeiterpartei (NSDAP, „Nazis“)
wurde einzigste Partei in Deutschland - das „3. Reich“ war entstanden.
Deutschland sollte in der Welt etwas Einzigartiges darstellen. Viele glaubten
daran, hegten neue Hoffnungen nach Inflation und Niedergang. Aber die Nazis
hatten ein Programm: Ausrottung des Judentums, jeglicher Opposition und anderer
Rassen - Mißbrauch des Christentums. Um diese Ziele durchzusetzen, begann man
1939 einen Krieg, der sich zum 2. Weltkrieg entwickelte und 52 Millionen
Menschen das Leben kostete. 6 Millionen Juden wurden in Konzentrationslagern
ermordet und viele andere mit ihnen. Fazit: Die ganze Welt stellte sich gegen
Deutschland - 1945 wurde es besiegt. Unter den Siegermächten USA, England,
Frankreich und der Sowjetunion wurde Deutschland in 2 Gebiete aufgeteilt: Ost
und West. Der Osten wurde von Rußland und seiner Kommunistischen Partei
beherrscht, der Westen besonders von Amerika beeinflußt. Es entstanden zwei
wirtschaftspolitische und militärische Zonen: Die Bundesrepublik Deutschland
mit der „Nato“ und die Deutsche Demokratische Republik (DDR) mit dem Warschauer
Pakt. Es waren „2 Welten“ entstanden - die Zeit des Kalten Krieges. Die
Menschen in Europa - und besonders in Deutschland - litten darunter. Mitten durch
Deutschland ging eine Grenze. Diese Grenze wurde 1961 durch eine Mauer und
Stacheldrahtzäune befestigt und somit auch unüberwindbar. Auf flüchtende
Menschen wurde geschossen. Einwohner hüben und drüben konnten sich kaum oder
gar nicht begegnen. Sie lebten sich auseinander. Auch mit den Kirchen war es
ähnlich. Man versuchte, die Einheit zu wahren, aber es gelang auf Dauer nicht.
So gab es einen Bund der Evangelischen Kirchen in der DDR und die Evangelische
Kirche in Deutschland (West). Fast niemand glaubte, daß sich daran noch einmal
etwas ändern könnte. Doch Gottes Gedanken und Wege sind nicht unsere Wege. Da
tauchte im großen Rußland ein Mann auf - namens Michael Gorbatschow. Er übte
nicht nur harte Kritik an der Art des Kommunismus in seinem Land, sondern er veränderte
auch. So entstand eine Bewegung, durch die das Weltreich des Kommunismus, „die
große Sowjetunion“ auseinanderbrach.
Im November 1989 wurde die DDR - unter Beeinflussung dieser
Vorgänge - durch eine friedliche Revolution nach 40 Jahren verändert. Am 3.
Oktober 1990 hörte sie auf zu existieren. Es gab eine einheitliche Währung, die
D-Mark, und Deutschland erlangte wieder seine Einheit und Souveränität. Vieles
hat sich verändert: zum Guten wie zum weniger Guten - Menschen sind
erleichtert, aber auch verängstigt und unsicher. Viele Menschen haben keine
Arbeit, soziale Nöte greifen um sich.
Im Rahmen eines großen Bau- und Erneuerungsprogramms in den 5
neuen Bundesländern konnten auch die Kirchen in Seyda und Morxdorf teilweise
renoviert werden.
An der friedlichen Revolution hatten die Kirchen großen Anteil
- heute ist die Kirche weithin nicht gefragt.
Wir hoffen aber, daß wir nicht „Museen“ ausbauen, sondern
Kirchen, in denen sich die Gemeinde trifft und nach dem Evangelium lebt.
Seyda, im Juli 1992
Wo der Herr nicht das Haus baut,
so arbeiten umsonst, die daran bauen! Psalm 127,1
Podstawa, Pfarrer.“
Der
Kirchturm kostete 1992 ohne Uhr insgesamt 122.000 DM, davon waren 71.500 DM Fördermittel.
Von der Stadtverwaltung Seyda und die Sammlung der Abgeordneten kamen 18.404
DM, die Kirchengemeinde steuerte Geld und Sachleistungen (Gerüst!) in Höhe von
32.096 DM bei.
Die Stadtverordneten waren persönlich mit der Sammelbüchse
unterwegs gewesen und sammelten dabei 3.404 DM!
An der Kirchturmbekrönung nahm auch Bürgermeister und
Schuldirektor Benesch mit der 9. Klasse der Seydaer Schule teil. Es war
übrigens die letzte Schulklasse, die ihren Abschluss in Seyda absolvierte.
Im
März 1993, in Zeiten der Vakanz, schrieb der Gemeindekirchenrat Seyda unter
Federführung von Superintendent Sommer aus Jessen folgenden Brief:
„Wann wird der
Seydaer Kirchturm schlagen?
1992 wurden die
Arbeiten am Seydaer Kirchturm fortgesetzt und bis auf kleinere Restarbeiten
abgeschlossen – so stellt sich einem Betrachter, der den Turm anschaut, die
Lage dar. Sogar die Ziffernblätter sind schon angebracht. So viel kann doch gar
nicht mehr fehlen...
Genau hier aber liegt
das Problem.
1. Die Zifferblätter
und auch schon die Zeiger sind von der Kirchengemeinde aus Spenden und
Gemeindebeiträgen bezahlt worden 10.600,-
DM
2. Die offenen Kosten
für das Uhrwerk einer Funkuhr, das Schlagwerk und die Antriebe mit Zubehör und
Montage betragen
laut Kostenangebot
10.106,20 DM.
Elektroinstallation
für Uhr ca. + 2.000 DM
Unvorhergesehenes +
1.400 DM.
Summe der noch
entstehenden Kosten: 13.500 DM.
Abzüglich schon
vorhandener Uhrspenden: 7.300 DM.
Ungedeckt und noch zu
sammeln sind: 6.200 DM.
Damit sich der Wunsch
vieler Seydaer erfüllt und die Turmuhr wieder geht und schlägt, muss das
Sammlungsergebnis vom Herbst noch einmal nachgebessert werden. 6.000 DM müssten
doch gemeinsam in der Stadt aufzubringen sein.
Da in den Häusern
erst kürzlich gesammelt wurde, richtet sich unsere Hilfsbitte heute direkt an
die Geschäftsleute, Firmen, Vereine, Verbände und Institutionen von Seyda. Wir
wissen wohl, dass sich einige bereits an den Sammlungen beteiligt hatten. Doch
der für Seyda lohnende Zweck und auch die Überschaubarkeit der Aufgabe ermutigen
uns, die Hilfsbitte zu stellen...“
Der
Wunsch wurde Wirklichkeit. Im Frühjahr 1994 kam auch noch eine Läuteanlage
dazu. Der Gemeindekirchenrat konnte eine neue Läuteordnung beraten. Das
Abendläuten um 18 Uhr wurde wieder eingeführt!
Thomas Schudde, damals Konfirmand, baute den Kasten zur
Steuerung der Läuteanlage.
Im
Jahre 1994 kam eine Gruppe von Handwerkern und Studenten aus Mainz zu Besuch,
um beim Kirchenbau mit anzupacken. Eine umfassende Sanierung der Kirche war
geplant. Der Anfang waren die Arbeiten am Turm, und der einwöchige Einsatz der
Mainzer, die zusammen mit Seydaer Jugendlichen den Vorraum zur Kirche
renovierten.
Im Liedheft der Kirchengemeinde steht ein Lied aus Mainz:
“Ich will einziehn in sein Tor mit dem
Herzen voller Dank,
ich will treten in
den Vorhof mit Preis! Denn ich weiß: Dies ist der Tag, den der Herr gemacht!
Ich will mich freu´n, er hat mich froh gemacht!“
Der
Pfarrer war zu einem Geburtstagsbesuch und fragte den Jubilanten nach seinem
beruflichen Leben. Er antwortete, eigentlich wäre er ja mit 14 am liebsten
Kirchenmaler geworden, aber das hätte nicht geklappt. „Kann ja noch werden!“
sagte der Pfarrer. Und so kam es, dass Herr Harald Freiwald aus der Triftstraße
die Schriften und Symbole im Vorraum der Kirche erst abzeichnete und dann fein
neu wieder aufbrachte, so dass sie jetzt wieder gut zu lesen sind.
Die Kirchtür wurde bereits 1993, im Zusammenhang mit den
Türen im Pfarrhaus, gestrichen. Der Maler kam dazu extra eine Stunde früher als
sonst, um diese Sonderarbeit zu erledigen. (Halb fünf!) Meister Bernhardt
besserte die Engel aus, und Meister Hirsch jun. die Holzknöpfe. Der
Originalschlüssel fand sich an, wie schon berichtet. Nun schmückt die Tür auch
wieder oft eine Girlande, zur Konfirmation, zu den Hochzeiten und zur Goldenen
Konfirmation.
1998
wurde der Kirchturm auch von innen renoviert. ABM, von der Stadt Seyda unter
maßgeblichem Einsatz von Herrn Bürgermeister Benesch zur Verfügung gestellt,
taten diese Arbeit –wie auch die Verschönerung des ganzen Kirchplatzes.
Eine Ausstellung zur Stadt- und Kirchengeschichte wurde von
Frau Irmgard Grützbach aus Ruhlsdorf angefertigt. Der Turm konnte nun ohne
Weiteres besichtigt werden – und das taten und tun viele: Seydaer, Besucher,
Schulklassen, Touristen.
Man muss nur beachten, dass die Uhr zu jeder Viertelstunde
schlägt, so dass man dann nicht genau neben der Glocke steht!
Der
Turm ist in seinem unteren Bereich der
Vorraum zur Kirche. Schön, dass er oft auch durch Blumen geschmückt ist. Was zeigt
dem Besucher sonst, dass er willkommen ist – und dass es hier eine gute
Nachricht für das Leben gibt?
150
Jahre nach seiner Errichtung feiert die Kirchengemeinde ein kleines
„Kirchturm-Fest“, mit Gästen aus Naundorf, Seehausen, Blönsdorf, Mügeln, Jessen
– und aus Polen. Wir wollen Gott Dank sagen, dass er uns Zeichen seiner Treue
schenkt, wie diesen Turm. Wir wollen Gott Dank sagen, dass er mitten unter uns,
in unserer Nähe ist, wie dieser Turm.
Eine Kaffeetafel gibt es, dazu ein kleines Theaterstück um
die Geschichte vom Turmbau zu Babel und die Pfingstgeschichte. Dann ein kleines
Kirchturm-Quiz, und eine Dankandacht in der Kirche, mit Chorgesang und
Orgelspiel.
In
diesem Jahr hat unser Kirchturm „Geschwister“ bekommen: Im April wurde ein 27
Meter hoher Turm im Bereich des Agrarbetriebs errichtet. Er dient der
Herstellung von Alkohol für Treibstoffe. Daneben ist wenige Wochen später ein Mast für Telefondienste errichtet
worden. So ist der Kirchturm mit seinen 30 Metern auch nach 150 Jahren immer noch
der höchste Turm in Seyda. Gott will auch, dass wir unseren Blick erheben
können, neuen Mut bekommen. Daran kann uns der Kirchturm auch erinnern.
Bilder:
Auf
dem Titelblatt: Holzschnitt von Diakon Solbrig.
In
der Mitte: Der Entwurf des Kirchturms 1813, aus einem Kostenangebot
Altes Ölgemälde, zeigt die Kirche vor 200 Jahren: Der Turm
ist noch auf dem Dach.
Vorletzte
Seite: Zeitungsartikel MZ 2.7.1992, Lokalausgabe
Letzte
Seite: Ansicht aus der Triftstraße 14, von G. Bergemann um 1948.
Bilder:
Altes Bild: Kirche vor
1854.
Solbrig-Holzschnitt
Entwurf Kirchturm 1813