„Stille Nacht,

heilige Nacht“

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Das Wunder

der Heiligen Nacht.

 

 

 

 

 

Weihnachten

in russischer Kriegsgefangenschaft,

erlebt und aufgeschrieben

von Erhard Schlüter aus Naundorf.

 

 

 

 

 

 

 

Es war bitterkalt. Obwohl die Rekordwerte des Winters 1941/42 noch längst nicht erreicht wurden, machte uns die Kälte schwer zu schaffen. 20 bis 25 Grad unter Null, dazu oft noch ein eisiger Schneesturm, das brachte für die 700 deutschen Kriegsgefangenen, die sich in diesem Lager südlich von Moskau befanden, zusätzliche Belastungen. Man hatte uns zwar inzwischen mit Winterbekleidung ausgerüstet, doch die meisten von uns befanden sich in einem derart schlechten Gesundheitszustand, daß ihre Körper der Kälte einfach keinen Widerstand mehr leisten konnten. Schuld war daran in erster Linie die völlig unzureichende Verpflegung.

Dazu kam, daß wir die Schikanen des sowjetischen Lagerkommandanten immer mehr zu spüren bekamen. Hilflos mußten wir seinen Haß auf alles, was mit Deutschem zusammenhing, über uns ergehen lassen. Ganz besonders schlimm wurde es, wenn er dem Alkohol kräftig zugesprochen hatte. Leider kam dies immer häufiger vor. Niemandem von uns waren die Ursachen seines „Deutschenhasses“ bekannt. Hatte er im Krieg Schlimmes erlebt? Hatte er Angehörige, womöglich seine ganze Familie, verloren? Keiner wußte es. Wir alle waren seinen Wutanfällen schutzlos ausgeliefert.

Mit dem Winter war auch die Weihnachtszeit gekommen. Das zweite Weihnachten nach Kriegsende. Für mich war es das zweite Weihnachten, das ich hinter Stacheldraht verbringen mußte. Für Millionen Menschen war es ein Fest des Friedens, ein Fest der Familie und ein Fest, das neue Hoffnung ausstrahlen sollte. Was war es aber für die fast 700 Kriegsgefangenen in diesem Lager, mitten im winterlichen Rußland? Friede, er war wohl hier noch weit entfernt. Von Freude konnte man wahrlich auch nicht sprechen, denn worüber sollten wir uns noch freuen? Ein Fest der Familie war es schon gar nicht, da keiner etwas von seinen Angehörigen wußte. Und Hoffnung, konnten wir noch hoffen? Es war schwer, und es gehörte schon Mut dazu, in dieser Situation die Hoffnung nicht aufzugeben.

Trotz allem versuchten wir doch eine etwas weihnachtliche Atmosphäre zu schaffen. Die deutsche Lagerleitung hatte erreicht, daß kleine Nadelbäume in den Unterkünften aufgestellt werden durften. Eine größere Fichte, die mitten auf dem Lagerplatz stand, wurde als Weihnachtsbaum hergerichtet. Statt Lametta und Glaskugeln dienten Eis und Schnee als Schmuck. Dazu wurde der Baum mehrmals mit Wasser übersprüht. Die Kälte besorgte das Ihrige. Es entstanden unterschiedlichste Eiszapfen in bizarren Formen. Danach wurde das Ganze mit Pulverschnee überstreut, und der Baum bekam ein beinahe märchenhaftes Aussehen. Nur die brennenden Kerzen fehlten noch. Obwohl sich einige viel Mühe machten, die gedrückte Stimmung konnte nicht beseitigt werden.

 

Es kamen zwei Ereignisse hinzu, die unsere Lage noch hoffnungsloser machten. Am Tag vor Heilig Abend, also am 23., hatte der sowjetische Lagerkommandant wieder mal einen Wutanfall. Er ließ acht Kriegsgefangene in den eiskalten Karzer sperren. Die Begründung war Sabotage. Sie würden nicht genug arbeiten, die Norm nicht erfüllen und die anderen aufhetzen. Der Karzer war kein festes Gebäude, sondern ein einfacher Bretterschuppen. Durch die Ritzen wehte der Wind nicht nur den Schnee, sondern auch die Kälte. Da jegliches Mobiliar fehlte, gab es keinerlei Sitz-, geschweige denn Liegemöglichkeiten. Konnte sich der Inhaftierte vor Erschöpfung nicht mehr auf den Beinen halten, so war er gezwungen, sich auf den steinhart gefrorenen Boden zu legen. Nur zu oft bedeutete dies ein grausames Ende.

Am 24. Dezember kam dann der nächste  Hammer. Diesmal war es Diebstahl. Die Betreffenden gehörten zu einem Arbeitskommando, das im Kartoffelbunker eingesetzt war. Es war ein barackenähnlicher Bau, der aber in die Erde versenkt war. Hier waren größere Mengen Kartoffeln, nicht nur für unser Lager, sondern auch für andere Betriebe eingelagert.

Die Gefangenen hatten die Aufgabe, diese Kartoffel zu verlesen. Eine recht angenehme Arbeit, denn sie waren nicht der grimmigen Kälte ausgesetzt. Doch Hunger tut weh und rohe Kartoffeln schmecken nicht besonders. So wollten sich einige ein paar Kartoffeln mit hinaus nehmen. Vier bis maximal acht Kartoffeln, wie wir später erfahren sollten.

Aber es ging schief. Vor dem Lager gab es eine große Razzia, und alle, die ein paar Kartoffeln bei sich hatten, landeten im Karzer. Es sollte noch schlimmer kommen. Der sowjetische Kommandant ließ ihnen die Pelze abnehmen mit der Begründung, daß diese nur für die Arbeit gedacht sind. So wurden sie ohne Pelz oder Mantel in den eiskalten Schuppen gesperrt. Verständlicher Weise war alle Weihnachtsstimmung auf dem Nullpunkt.

 

Es war schon fast Abend, als die deutsche Lagerleitung mit der Bitte, die Inhaftierten doch wenigstens zum Weihnachtsfest frei zu lassen, beim sowjetischen Kommandanten vorsprechen konnte. Mit wüsten Beschimpfungen warf er sie hinaus. Auch der Versuch des deutschen Hauptmanns, in einem persönlichen Gespräch von Offizier zu Offizier noch eine Wende zu erreichen, endete mit dem gleichen Ergebnis. Sichtlich niedergeschlagen teilte er es den Lagerinsassen mit. In dieser gedrückten Stimmung kam von ihm der Vorschlag, diesen Heiligen Abend im Freien, in der Kälte um den mit Eis und Schnee geschmückten Tannenbaum zu begehen. Er wollte damit ein Zeichen der Verbundenheit zu den Eingesperrten setzen. Es gab keine jubelnde Zustimmung, wir nickten nur stumm mit den Köpfen. Vielleicht würde der eine oder andere von uns demnächst in diesem Eisschuppen eingesperrt werden und dann das gleiche Schicksal, mit der Aussicht auf einen qualvollen Erfrierungstod, erleiden.

 

Schweigend gingen wir zu der verabredeten Zeit hinaus. Der Schnee knirschte vor Kälte. Immerhin waren es minus 25 Grad. Wir stellten uns im großen Halbkreis um den Baum, an dem sogar einige Lichter brannten. Freilich, es waren keine bunten Weihnachtskerzen, sondern eine Art Hindenburglichter. Der Name rührte schon aus dem Ersten Weltkrieg her. In einer Papp- oder Blechform stand ein Docht, der von einem kleinen Metallständer gehalten wurde. Dadurch konnte man alle Kerzenreste oder ähnlich Brennbares nutzen. Es wurde einfach in die Form  hineingekrümelt.

So flackerten die Lichter in der sternklaren, bitterkalten Nacht am Eiszapfenbaum. Irgendwie sah es romantisch aus. Doch es war alles andere als romantisch. Hier war es ein Aufbegehen der wehrlosen Gefangenen gegen die Macht der Gewalt. Der Kommandant rief sofort die deutsche Lagerleitung zu sich und fragte wütend, was das Theater bedeuten solle. Er erhielt vom deutschen Kommandanten die sachliche Antwort, daß am vorweihnachtlichen Abend unsere Angehörigen um den geschmückten Tannenbaum sitzen. Wir fühlen uns hier mit ihnen verbunden. Darüber hinaus wollen wir unsere Solidarität zu den im Karzer frierenden Kameraden bekunden und deshalb hier draußen in der Kälte das Weihnachtsfest begehen.

Der sowjetische Kommandant tobte und gab den Befehl: „Sofort alle in die Unterkünfte!“ Wir rührten uns nicht von der Stelle. Unheimlich und doch seltsam schön flackerten die Lichter an dem in unserer Mitte stehenden Tannenbaum. Die Atemluft knisterte vor Kälte, kein Luftzug regte sich. „Sofort wegtreten oder die Wache wird alarmiert, dann wird geschossen!“ brüllte er weiter und kam dabei auf den Halbkreis zu. „Ich bin Kommandant und niemand anders hat hier zu befehlen. Die Gefangenen wurden bestraft, weil es Diebe und Verbrecher sind.“

„Wenn Sie schießen lassen, gibt es Tote. Die Männer im Karzer werden erfrieren. Tote und erfrorene Gefangene können nicht mehr arbeiten.“ ließ  der deutsche Kommandant übersetzen. Außer sich vor Wut rief er nach dem Leutnant von der Wache. Dieser alarmierte daraufhin seine Posten. 16 russische Soldaten nahmen außerhalb des Lagers, gegenüber des Halbkreises der Kriegsgefangenen, Aufstellung. Scharfe Kommandos erschallten. Unheimlich rasselten die Gewehrschlösser, als die Soldaten ihre Waffen scharf machten. Auf ein neues Kommando richteten sich ihre Gewehrläufe auf uns Gefangene.

 

Da standen wir nun. Frierend und vor Kälte zitternd sahen wir die Gewehre auf uns gerichtet. Jeden Augenblick konnte das uns vernichtende Kommando kommen. Nur eines Wortes bedurfte es. „Ogon!“ - das bedeutete „Feuer!“ Blitze würden aus den Gewehrläufen zucken, und im gleichen Moment würden sich viele von uns getroffen in ihrem Blut wälzen. Es war nur ein Moment, nur ein paar Sekunden, doch wieviel Gedanken entspringen in diesen paar Sekunden dem menschlichen Gehirn?

Jeder von uns sah die Mündung der Gewehre auf sich persönlich gerichtet. Es war wie bei einem Bild, von dem einen die Augen eines Menschen anschauen. Egal, ob du rechts oder links stehst, du fühlst immer die Blicke auf dich gerichtet. So glaubte hier jeder, daß auf ihn gezielt wird, egal, wo er stand.

Auch ich machte mir meine Gedanken. War das nun schon mein Leben? Ich war doch noch nicht einmal 20 Jahre alt. Wenn ich jetzt sterben sollte? Meine Angehörigen würden nie erfahren, wie und wo ich gestorben bin. Sollte ich einfach weglaufen? Nein, ich hatte mich zwar nie als Held gefühlt, aber ein Feigling war ich auch nicht. Vielleicht könnte man sich beim ersten Knall auf den Boden werfen und sich dann tot stellen? Andere, in erster Linie Ältere, dachten sicher an ihre Familien, an Frau und Kinder, die vergeblich auf ihren Vater warten würden. Dann der Gedanke: Es sollte vielleicht so kommen. Wir kommen sowieso nicht nach Hause, werden hier systematisch zu Tode geschunden. Was soll´s, ein Ende mit Schrecken ist besser als ein Schrecken ohne Ende. All dies und noch viele andere Gedanken gingen in diesen Sekunden durch unsere Köpfe.

 

Doch da geschah etwas Sonderbares, für alle Betroffenen völlig überraschend und unvorhergesehen. Ohne Übertreibung kann man es als ein Wunder bezeichnen. Aus der Mitte der vor Angst und Kälte zitternden Gefangenen stimmte ein Unbekannter ein Lied an. Es war „Stille Nacht, heilige Nacht“. Schon nach den ersten Worten schwoll es zu einem hundertfachen Gesang an. Wir waren nicht alle Christen, nicht jeder kannte den Text, aber hier war es eine unsichtbare Kraft, die einfach jeden zwang, mitzusingen. Es war kein geübter Chor. Es waren Stimmen von ausgehungerten Männern, die sich zu einem ergreifenden Chorgesang zusammenfanden. So standen wir in der eiskalten, klaren Nacht, geschart um einen mit Eis und Schnee geschmückten Baum, indem sich das flackernde Licht einzelner, primitiver Kerzen geheimnisvoll widerspiegelte. Und wir sangen:

 

„Stille Nacht, heilige Nacht!

Alles schläft, einsam wacht

nur das traute, hochheilige Paar,

holder Knabe im lockigen Haar.

Schlaf in himmlischer Ruh!

Schlaf in himmlischer Ruh!“

 

Der sowjetische Kommandant kam mit seinen Offizieren aus der Wache und rief die deutsche Lagerleitung zu sich. „Was soll das?“ fragte er. Der deutsche Hauptmann ließ seine Antwort übersetzen: „Es ist ein bekanntes Weihnachtslied, das heute in vielen Ländern der Erde erklingt. Wir singen es und denken dabei an unsere Angehörigen. Wir singen es auch, um unseren eingesperrten Kameraden Mut zu machen.“ Derweilen erklang die zweite Strophe, immer noch stärker werdend. Vielleicht wollten wir uns einfach die Angst von der Seele singen:

 

 

„Stille Nacht, heilige Nacht!

Hirten erst kund gemacht,

durch der Engel Halleluja

tönt es laut von fern und nah:

Christ, der Retter, ist da!

Christ, der Retter, ist da!“

 

Wir hatten vergessen, daß die Gewehre auf uns gerichtet waren. Der Dolmetscher mußte dem Kommandanten den Text übersetzen. Das Kommando „Ogon!“ blieb aus. Unwillkürlich schaute ich zu den Soldaten, die uns gegenüber standen. Ich sah, daß sich die Gewehre langsam nach unten senkten. Ohne Kommando, denn sie gingen nicht gleichmäßig nach unten. Die Soldaten blickten auf die nur 50 Meter von ihnen entfernt stehenden deutschen Kriegsgefangenen, die den Tod vor Augen hatten und jetzt ein Lied sangen, als ob sie damit in den Tod gehen wollten.

 

Was mögen die Gedanken dieser Soldaten gewesen sein? Sie standen außerhalb des Lagers, ihnen gegenüber im Lager einige hundert deutsche Kriegsgefangene. Nur ein Tor mit Stacheldrahtgeflecht trennte sie. Scharf geladen und entsichert hatten sie ihre Gewehre auf die Gefangenen gerichtet. Gleich würde das Kommando zum Feuern kommen, nur ein Wort, „Ogon!“. Dann mußten sie abdrücken, und sie mußten treffen, denn man konnte bei diesem Ziel gar nicht vorbeischießen. Die Getroffenen würden sich vor ihnen, im vom Blut rot gefärbten Schnee wälzen.

Wehrlos, vor Hunger und Kälte zitternd, standen ihnen die Gefangenen gegenüber. Im Krieg war das anders. Da schoß der Feind zurück, und man mußte sich wehren. Doch hier? Sie hatten sich teilweise in den Arbeitskommandos kennengelernt. Da waren Menschen, oft in ihrem Alter, manche auch im Alter ihrer Väter. Es waren fast alles ausgehungerte und ausgemergelte Gestalten, die teilweise mehr tot als lebend aussahen. Konnte man auf diese Menschen schießen?

Sie standen um einem mit Eis und Schnee behangenen Baum, an dem einige spärliche Lichter brannten. Dann plötzlich dieses Lied. Sie verstanden den Text nicht, aber die Melodie und die Art des Gesanges hatten etwas Ergreifendes an sich. Von Weihnachten hatten sie schon gehört, doch die meisten von ihnen hatten keine Beziehungen zu diesem Fest. Sie spürten, hier war es mehr als irgendein Fest. Langsam ließ einer nach dem anderen das Gewehr sinken. Das Kommando „Ogon!“ blieb aus, sie brauchten nicht zu schießen. Sicherlich waren die meisten von ihnen erleichtert und froh darüber.

Währenddessen hallte die dritte Strophe mit unverminderter Lautstärke in die klare Nacht hinaus:

 

„Stille Nacht, Heilige Nacht!

Gottes Sohn, o wie lacht

Lieb aus deinem göttlichen Mund,

da uns schlägt die rettende Stund:
Christ, in deiner Geburt!

Christ, in deiner Geburt!“

 

Dann war es still, unheimlich still. Nur die Wolke der Atemluft, vor Kälte gefrierend, schwebte noch über uns. Ein paar von den wenigen Lichtern war bereits erloschen. Kein Laut war zu hören. Der sowjetische Lagerkommandant unterbrach die spannungsgeladene Ruhe, indem er den deutschen Kommandanten zu sich rief: „Lassen Sie Ihre Leute wegtreten, die Gefangenen werden freigelassen.“ Der deutsche Offizier bedankte sich höflich. Er durfte die Chance jetzt nicht verspielen und den Kommandanten erneut verärgern. Deshalb bedankte er sich auch im Namen aller Kriegsgefangenen. Die Gunst der Stunde ausnutzend sprach er weiter zum Kommandanten: „Gewähren Sie mir noch eine Bitte. Wir haben hier die Heilige Nacht begangen. Lassen Sie uns hier unter dem geschmückten Baum unsere Kameraden in Empfang nehmen.“ Der russische Offizier nickte zustimmend. Beide genossen ihren Triumph. Der Russe fühlte sich als der Mächtigere. Nur er konnte entscheiden zwischen frei und wieder eingesperrt, er hatte es in der Hand, das Feuer eröffnen zu lassen. Er wußte, daß sich der deutsche Offizier vor ihm erniedrigen mußte. Innerlich als Sieger fühlte sich auch der Deutsche. Es schien so, als hätten sie durch ihre Standhaftigkeit über die Macht der Gewalt gesiegt. Doch er durfte seinen Triumph den Kommandanten nicht merken lassen, denn noch waren die Eingesperrten in seiner unmittelbaren Gewalt. Die Frage des Siegers oder des Triumphes war jetzt Nebensache, hier ging es um das Überleben von Menschen.

Der wachhabende Offizier bekam den Befehl, das Tor zum Karzer zu öffnen und die Insassen frei zu lassen. Diese konnten es am Anfang gar nicht fassen, daß doch noch alles ein gutes Ende nehmen sollte. Sie waren ja Zeugen des Geschehens geworden. Jeder hatte sich einen Spalt in der Bretterwand gesucht, um die Ereignisse verfolgen zu können. Sie sahen die Kameraden um den Eisbaum stehen, an dem sogar ein paar ärmliche Lichter brannten. Waren es Lichter der Hoffnung? Dann kamen die Posten. Sie sahen, wie sie die Gewehre entsicherten und auf die frierenden Kameraden anlegten. Gleich kommt das Kommando „Feuer“, dachten sie, und es gibt eine Katastrophe. In diesem Moment erklang das Lied von der „Stillen Nacht“. Ergreifend hörten sie den hundertfachen Chor ihrer Kameraden. Danach Stille, dann näherkommende Schritte - und das Tor öffnete sich. Gab es tatsächlich ein göttliches Wunder?

 

Die Posten forderten sie auf, herauszukommen. Immer noch ungläubig, folgten sie zögernd der Aufforderung. Es war keine Fata Morgana, es war Wirklichkeit. Einige schafften es nicht mehr allein und mußten von den anderen Insassen gestützt werden. So wankten sie durch die Tür an der Wache vorbei. Auf der anderen Seite standen schon die Kameraden mit den Pelzen bereit. Wortlos fielen sie sich in die Arme. Die letzten Lichter am Baum erloschen langsam, so als wollten sie zum Ausdruck bringen: „Die Hoffnung hat sich erfüllt, nun allen eine friedliche Nacht.“

Mit steifgefrorenen Gliedern gingen wir langsam in unsere Unterkünfte. Obwohl jene bei diesen Temperaturen nicht besonders warm waren, empfanden wir es als angenehm. Zwei einfache Ziegelöfen strahlten doch etwas Wärme aus. Denjenigen, die im Karzer gesessen hatten, wurden natürlich die warmen Plätze am Ofen überlassen. Sie nahmen die Wärme genußvoll in sich auf, die sie so lange entbehren mußten. Immer wieder bedankten sie sich für die Solidarität aller Kameraden.

Die letzten, die den Platz verließen, waren die Mitglieder der deutschen Lagerleitung. Der Hauptmann ging noch einmal zu dem sowjetischen Kommandanten und bedankte sich bei ihm mit einem höflichen Händedruck. Es war noch immer sternenklar, die Kälte mußte noch zugenommen haben. Die Lichter waren erloschen, doch der Baum glitzerte im Mondschein. Draußen standen nur noch die in dicken Pelzen eingehüllten Wachposten auf ihren Türmen. Auch sie waren, wenn auch im gewissen Abstand, Zeugen der weihnachtlichen Handlung geworden. Das Wunder der „Heiligen Nacht“ hatte alle, sicher jeden auf seine Weise, tief beeindruckt.

 

In den Öfen der Unterkünfte brannte ein helles Holzfeuer. Obwohl die ausstrahlende Wärme nicht in jeden Winkel kam, empfanden wir es heute als mollig warm. Nachdem wir über zwei Stunden in der eisigen Kälte gestanden hatten, entwich diese nur langsam unseren Körpern. Mit der Wärme kehrte die Hoffnung und somit der Lebenswille zurück.

Vertreter der deutschen Lagerleitung gingen durch die Unterkünfte und unterhielten sich mit den Männern. Der Hauptmann bedankte sich bei allen für die bewiesene Standhaftigkeit: „Wir müssen zusammenhalten, nur so können wir es schaffen und die schwere Zeit überstehen. Frohe Weihnachten kann ich Euch leider nicht versprechen. Denkt an Eure Angehörigen. Dann legt Euch hin, wir haben alle die erholsame Ruhe verdient.“ Einer von denen, die im Karzer gesessen hatten, trat noch einmal zu ihm. Wortlos fiel er ihm um den Hals. Dann sagte er leise: „Ich weiß nicht, wie wir Ihnen danken sollen. Sie haben uns das Leben gerettet.“ „Danken mußt Du schon allen,“ erwiderte er gerührt, „auch ich stand der Gewalt machtlos gegenüber. Ich glaube, uns hat eine höhere Macht geholfen.“

Er bemühte sich, uns ruhig gegenüberzutreten, doch diese übermenschliche nervliche Anspannung war auch ihm ins Gesicht geschrieben. Schließlich hatte das Erfrieren und Erschießen von ...zig Kriegsgefangenen an einem ganz dünnen Faden gehangen. So saßen wir noch lange Zeit in kleinen Gruppen beisammen, bis wir dann irgendwann, von der Müdigkeit übermannt, erschöpft auf unsere Pritschen sanken.

 

Der nächste Tag war Weihnachten. Doch es war kein Sonntag, und so warteten wir schon am Morgen auf das Kommando zum Raustreten. Auf einmal kam der sowjetische Kommandant in Begleitung der deutschen Lagerleitung in unsere Unterkunft. Er frug uns im freundlichen Ton, ob wir gut geschlafen hätten. Dann ließ er uns durch den Dolmetscher übersetzen, daß er uns heute nicht zur Arbeit schicken werde. Wir sollten unser Weihnachtsfest feiern. Er wolle auch dafür sorgen, daß es mehr zu Essen gäbe. Wir konnten es gar nicht glauben, trauten unseren Ohren kaum. War denn der Kommandant, der uns nur seinen Haß spüren ließ, doch ein Mensch? Der deutsche Hauptmann nickte uns ermunternd zu. Darauf begannen einige, Beifall zu klatschen. Andere riefen „Danke“ oder „Spasiwa Towarisch Kommandant“. Es war kein tosender Beifall, aber der sowjetische Offizier genoß ihn als Triumph und lächelte uns beim Verlassen der Baracke freundlich zu.

Früh blieb es noch bei der Standardverpflegung. Es gab eine dünne Wassersuppe, dazu ein Stück Brot. Mittags aber zeigte es sich, daß der Kommandant Wort gehalten hatte. Die Suppe war etwas dicker, also nicht wie gewohnt „Bodenseh“. Auch im Geschmack war sie besser. Dazu gab es noch ein paar Löffel Kascha, bestehend aus dickem Hirsebrei, und noch eine Scheibe Brot zusätzlich. Außerdem die doppelte Ration Tabak, also 10 statt 5 Gramm. Es war also doch noch Weihnachten geworden. Wir wurden zwar nicht satt, aber wir spürten, daß wir etwas mehr im Magen hatten. Damit erhellten sich auch die Gemüter und wir unterhielten uns in einer aufgemunterten Atmosphäre.

Gemeinsam mit meinem gleichaltrigen Kumpel saß ich auf der Pritsche. Beide genossen wir unser Festtagsmenü. Erst schlürften wir die Suppe hinunter, dann ließen wir uns den süßen Kascha schmecken; dazu eine Scheibe Brot, die wir ebenfalls mit etwas Zucker bestreut hatten. Wir hatten davon eine kleine Feiertagsreserve, da wir regelmäßig unseren Tabak gegen die süße Kostbarkeit eintauschten.

Nicht weit von mir lag ein älterer Mann, mit dem ich mich ebenfalls angefreundet hatte. Ich hatte mich öfter mit ihm unterhalten, denn er kam auch aus der Landwirtschaft und hatte selbst einen größeren Bauernhof zu Hause. Er wollte mir Brot und Zucker für meine doppelte Tabakration geben. Ich gab ihm die Scheibe Brot zurück und nahm nur den Zucker. „Heute, zu Weihnachten, sollst Du auch nicht hungern.“ sagte ich nur. So hatten wir jeder eine Scheibe Brot zusätzlich. Ich spendierte noch etwas von meinem eingetauschten Zucker, und wir konnten beide unsere Scheibe Brot damit versüßen. Ein paar Krümel blieben sogar noch für den Tee übrig. Andächtig kauten wir die mit ein paar Krümel Zucker bestreute Scheibe Brot und hatten sogar noch leicht gesüßten Tee dazu. Wer kann es ermessen, und auch kann es heute kaum mit Worten schildern, wie uns zumute war. Über eineinhalb Jahre war der Hunger unser täglicher Begleiter. Nun, zum Weihnachtsfest, hatten wir eine Scheibe Brot zusätzlich, und diese war sogar mit Zucker bestreut. Heute ist das sicher schwer zu verstehen. Nur, wer selbst Hunger erleben mußte, wird es nachempfinden können.

 

Es gab noch eine freudige Weihnachtsüberraschung. Sie bewirkte, was der eigentliche Inhalt dieses Festes sein sollte: den Menschen neue Hoffnung zu geben. Wir hatten gerade das etwas reichlichere Mittagessen hinter uns, als ein Vertreter der deutschen Lagerleitung in Begleitung eines sowjetischen Offiziers unsere Unterkunft betrat. Der Deutsche, er war als Dolmetscher tätig, hielt auf seinem Arm einen Pappkarton, in dem ein Stapel Karten lag. Es war Kriegsgefangenenpost, für uns die erste Nachricht seit dem Ende des Krieges. In der Baracke war es mäuschenstill geworden. Jeder war auf das Äußerste gespannt, ging es doch darum, ob für ihn eine Nachricht aus der Heimat dabei war. Dann wurden die ersten Namen verlesen. Jedesmal kam als Antwort „hier“ oder „ja“. Immer wieder ein Name, der aufgerufen wurde, immer wieder eine Antwort. Der Stapel war schon recht dünn geworden. Vergeblich wartete ich auf meinen Namen, er wurde aber nicht genannt. Sollte ich leer ausgehen? Ich hatte doch schon mehrmals geschrieben, hatte jede sich bietende Gelegenheit genutzt, um eine Nachricht abzuschicken. War auch meine Heimat, vor allem meine Angehörigen, Opfer des Krieges geworden?

Enttäuscht und mit schlimmen Gedanken belastet verkroch ich mich auf meine Pritsche. Plötzlich hörte ich meinen Namen rufen. Oder hatte ich mich verhört? Dann aber klang es laut: „Schlüter, willst Du Deine Post nicht?“ Jetzt gab es keinen Zweifel mehr! Ich eilte zur Mitte des Raumes und nahm mit zitternden Händen eine Karte entgegen. Graues Papier, darauf ein rotes Kreuz. Darunter las ich meinen Namen, Kriegsgefangener Erhard Schlüter, UdSSR, Lager 7406/6. Ich war schon fast auf meinem Platz, als ich noch ein zweites Mal aufgerufen wurde. Gerade als ich mich umgedreht hatte, erklang mein Name zum dritten Mal.

Fast zwei Jahre hatte ich auf diesen Moment gewartet, hatte jeden Tag ein Lebenszeichen von meinen Eltern und Schwestern herbeigesehnt. Nun hielt ich es in meinen Händen. Ich hatte gleich drei Karten bekommen. Auf der ersten las ich als Absender die Anschrift meiner Eltern. Ich erkannte die Handschrift meines Vaters. Dann drehte ich die Karte langsam um. Es muß ausgesehen haben, als ob ich Angst hatte, daß ein Wort oder auch nur ein Buchstabe herunterfallen könnte. Nun hatte ich die Nachricht vor mir, auf die ich so lange mit Sehnsucht gewartet hatte. Es waren nur sechs Zeilen, aber ich habe sie immer wieder gelesen. Jedes Wort, jeden Buchstaben, so, als ob ich einen Strich übersehen könnte.

Ich weiß nicht, wie ich mich ausdrücken soll, um meine damaligen Gefühle zu schildern; und ich schäme mich heute noch nicht, daß mir damals beim Lesen die Augen feucht wurden. Über fünf Jahrzehnte sind seitdem vergangen, aber ich habe die Worte von meiner ersten Karte noch im Gedächtnis, und ich werde sie bis an mein Lebensende in Erinnerung behalten:

 

Lieber Erhard!

Endlich ein Lebenszeichen von Dir.

Wir haben schon fast verzweifelt. Wir sind gesund und hoffen von Dir das gleiche. Mit Sehnsucht erwarten wir Deine Heimkehr.

Herzliche Grüße, Deine Eltern und Deine Schwestern.

 

Dann fiel mir ein, daß ich ja noch zwei Karten erhalten hatte. In meiner quälenden Ungewißheit hatte ich auch an Verwandte geschrieben. Einfach für den Fall, daß zu Hause etwas Schlimmes passiert sein könnte. Eine Karte schickte ich nach Leipzig, wo ein Onkel und eine Tante von mir wohnten, die andere an Familie Müller, unsere engsten Verwandten in meinem Heimatort. Nun hatte ich von beiden eine Antwort, die sinngemäß lautete: Lieber Erhard, Deine Eltern und Schwestern leben. Sind alle gesund und hoffen auf Deine baldige Heimkehr. Danach die üblichen Grüße. Erleichtert nahm ich alles in mir auf. Es waren zwar nur ein paar Sätze, aber diese Sätze gaben mir wieder Lebensmut. Ich hatte noch Angehörige, die mit Sehnsucht auf mich warteten. Ich hatte noch Verwandte, die an meinem Schicksal teilnahmen. Ich hatte noch eine Heimat und ein Zuhause. Von der Ungewißheit erlöst richtete ich mich befreit auf. Meine Kameraden freuten sich mit mir. Zwei gute Freunde, einer aus Tirol, der andere aus dem westlichen Deutschland, hatten ebenfalls Post von ihren Eltern erhalten. Wir hatten uns viel zu erzählen, so, als ob wir seitenlange Briefe erhalten hätten.

 

Bei diesem heiteren Gespräch fiel unbeabsichtigt mein Blick auf meinen älteren Freund Richard Hagen. Erst jetzt wurde mir bewußt, daß sein Name nicht gefallen war. Still saß er auf seiner Pritsche, denn er war, was Post betrifft, leer ausgegangen. Ich konnte nachfühlen, was in ihm vorging und ging deshalb zu ihm, um ihn zu trösten. „Nun wird ja öfter Post kommen. Beim nächsten Mal wirst Du schon dabei sein. Komm, ich hab ein bißchen Tabak mitgebracht. Steck Dir eine selbstgedrehte an und freu´ Dich ein wenig mit mir.“ Er wollte mit der Begründung ablehnen, daß er nichts als Gegenleistung zu bieten hatte. „Laß man gut sein“, sagte ich, „die Karte von meinen Eltern war mit so viel wert wie ein großes Paket. Freu´ Dich mit mir, Du bist mein Freund, und ich gebe es Dir gerne.“

So saßen wir beieinander. Ich, ein neunzehnjähriger Jüngling, den der Krieg zum Mann gemacht hatte, und er, ein vierzigjähriger Familienvater. Unser Gespräch führte uns in die Heimat. Er erzählte wieder von seinen beiden Söhnen, die jetzt 14 und 16 Jahre waren, und von seinem schönen Bauernhof, den er in Mitteldeutschland besaß. „Ein Glück, daß meine Jungen nicht mehr in den Krieg mußten, aber mit 12 und 14 waren sie Hitler doch noch etwas zu jung.“ Ich schwärmte von meinen Eltern und von meinem Zuhause. Dabei genoß Richard die Zigarette, auch wenn der Tabak nicht von besonderer Qualität war. So verging der Weihnachtsnachmittag, wie wir es an den Vortagen nicht mal zu träumen gewagt hätten. Auch wenn ein Teil von uns keine Post erhalten hatte und somit weiter in Ungewißheit blieb, sie freuten sich mit denen, die heute zum ersten Mal Post bekommen hatten.

So wie mein Freund Richard Hagen, der mit mir zusammensaß, und dem ich meine Karten zum Lesen gegeben hatte. Er war dankbar für meine Anteilnahme, obwohl ich nicht viel älter als seine Söhne war. Ich hatte ihm an meiner Freude teilhaben lassen und damit auch ihm Mut und neue Hoffnung gegeben.

 

Ein Nachdruck ist nur mit Genehmigung des Verfassers,

Herrn Erhard Schlüter aus Naundorf, gestattet.

 

 

 

 

Erhard Schlüter wurde in den letzten Kriegsmonaten 1945 im Alter von 17 Jahren noch Soldat und kam in russische Kriegsgefangenschaft. Über das Erlebte und Erlittene mußte er viele Jahrzehnte schweigen, obwohl er es nie vergessen konnte. Sehr oft hing sein Überleben an einem seidenen Faden, nur durch viele große und kleine Wunder konnte er die Heimat wiedersehen. Eines der ergreifendsten Erlebnisse hatte er zu Weihnachten 1946.