Eine Erinnerung an die Menschen,
die durch den Krieg ihre Heimat verloren.
„Gegen 5 Uhr früh klopfte es am 8. Mai 1945 an
unsere Haustür in Zuckmantel (Sudetenland). Es hieß: „Aufstehen, schnell, schnell,
zieht Euch an, Ihr müsst zur Arbeit! Ihr braucht nur Arbeitssachen!“ Vor uns
standen tschechische Soldaten mit Gewehren.
Meine
Mutter, meine Schwester und ich folgten den Anweisungen. Wir zogen unsere zwei
kleinen Kinder an und verließen unser Haus mit zwei Kinderwagen. Fast der ganze
Ort war auf dem Gerichtshof versammelt. Wir hatten nichts gegessen und
getrunken. Die Kinder hatten Hunger.
Meine
Schwester sagte zu einem Soldaten, dass wir noch einen Eimer Tabak im Haus
hätten. Er könnte ihn bekommen, wenn wir noch mal nach Hause gehen und etwas
Milch für die Kinder holen dürften. Er ließ sich überreden, und sie kam mit
einem Brot, einer Milchkanne voll Gries und für jedes Kind ein Kopfkissen
zurück.
Meinem
Bruder gelang es ebenfalls, noch einige persönliche Dinge, unter anderem ein
paar Fotos, aus unserem Haus zu holen. Am Nachmittag wurden wir in Viehwaggons
ohne Dach verladen und fuhren Richtung Dresden. In Bad Schandau war die „Reise“
zu Ende. Meine Mutter, meine Schwester, mein Bruder und ich gingen zu Fuß nach
Dresden, mit den Kindern in den Wagen. Es war eine Qual. Begleitet wurden wir von der Familie Völkel, die
wir aus Zuckmantel kannten. Wir übernachteten in einer Scheune.
Die
Transporte endeten meistens in den Flüchtlingslagern. Mein Bruder wollte nicht
ins Lager, er hatte davon viel Schlechtes gehört und meinte: „ Wir suchen uns
selbst eine Unterkunft!“ So liefen wir wohl mehrere Tage, bis wir nach
Schweinitz kamen. Wir waren erstaunt über die Pfirsichplantagen: so etwas
kannten wir aus unserer Heimat nicht. In Jessen bei der Ziegelei übernachteten
wir wieder in einem alten Schuppen. Es war inzwischen Juli/August 1945. Wir
liefen weiter bis Seyda und blieben vor der Fleischerei Stockmann stehen. Man
schickte uns in das Barackenlager hinterm Schützenhaus. Betten gab es auch dort
nicht. Wir schoben ein paar Tische zusammen und schliefen darauf. Meine Mutter
wollte nicht, dass wir dort bleiben. Aber ich erkrankte wie viele andere im
Lager an Typhus, und sie pflegte mich
gesund.
So
verbrachten wir mehrere Wochen im Lager, bis wir ein Zimmer bei
„Trommelschulze“ in der Neuen Straße zugewiesen bekamen. Wir wohnten zu fünft
in einem kleinen Zimmer, eine kleine Kammer diente als Küche. Das Holz, was wir
uns im Winter aus dem Wald holten, war meistens nass und taugte nicht zum
Heizen. Der Ofen hat geräuchert.
Nach
etwa einem Jahr wurde die Wohnsituation unerträglich. Wir konnten so nicht
weiter leben und fragten bei der Stadt nach einer anderen Wohnung. Ernst Dietz
war damals in der Stadtverwaltung. Er bot uns an, in eine Baracke des
ehemaligen Lagers zu ziehen, wenn wir uns die Wohnung selbst herrichten und dem
Hausmeister Bärwald bei seiner Arbeit helfen. Das Lager war inzwischen
aufgelöst, und in der oberen Baracke war die Berufsschule eingezogen.
Wir
quartierten uns gleich am Eingang rechts in die ehemalige Führerbaracke ein.
Zwei Zimmer und eine Küche – daraus bestand unsere neue Wohnung. Das Wasser
mussten wir von oben aus der Wirtschaftsbaracke holen. Im Winter war es
besonders beschwerlich. Zuerst musste der Schnee weggeräumt werden, erst dann
konnten wir Wasser holen. Dafür war es im Sommer sehr angenehm, dort zu wohnen.
Wir konnten uns sogar Ziegen halten. Es war herrlich, wenn im Juni die Akazien
blühten. Mein Neffe kletterte dann immer auf die Bäume und aß die Blüten.
Nach
einigen Jahren zogen wir in die Baracke gegenüber. Meine Arbeit war damals, die
Baracke, in der sich die Berufsschule befand, sauber zu halten, im Winter zu
heizen und das Gelände zu pflegen. Später erhielt ich Arbeit in der Küche des
Pflege- und Altersheimes. 25 Jahre habe ich in den Baracken des ehemaligen
Lagers gewohnt.“
Maria
Kosa aus Seyda, 1945 25 Jahre alt
Meine Großmutter musste im Frühsommer 1945
ihren Wohnort in Franzensbad, in den Sudeten, verlassen: an der Hand zwei
kleine Jungen, meinen Onkel, 3 Jahre alt, meinen Vater, knapp 5. Aus dem Haus,
was vor wenigen Jahren erst gebaut worden war, heraus auf die Straße. In großer
Eile fanden die notwendigsten Dinge Platz auf einem Kinderwagen, der jedoch
nach wenigen Metern aufgrund der großen Last zusammenbrach und die Räder
verlor. So wurde er hinterher geschliffen. Es ging in eine ungewisse Zukunft:
nach Westen. Mein Großvater war 1941 gefallen, als mein Vater ein Jahr alt war;
mein Onkel war noch nicht geboren.
Wohl keine Familie gibt es in unserer Stadt
und in den umliegenden Dörfern, in die nicht durch den Zweiten Weltkrieg großes
Leid gekommen ist. Viele Männer, Väter, Söhne und Brüder sind gefallen. Viele
haben auch die Heimat verloren.
Die Heimat – oft mussten sie innerhalb
kürzester Zeit Haus und Hof verlassen, den Ort, in denen ihre Familie über
Jahrhunderte zu Hause war, in dem sie verwurzelt waren in der Dorfgemeinschaft,
mit der Landschaft, wo sie jeden Stein und jeden Winkel kannten, den Ort, wo
die Vorfahren beerdigt liegen, wo die Kirche steht, in der sie getauft,
konfirmiert, getraut worden sind. Sie wurden herausgerissen aus dem vertrauten
Lebensumfeld – in eine grausame Wirklichkeit: auf die Straße, oft noch bei
winterlichen Temperaturen, in die Rechtlosigkeit – es war Krieg, und ein
Menschenleben zählte nicht viel, in die bittere Armut, verbunden mit Hunger und
der Rastlosigkeit, keinen Ort zu haben, wo man zu Hause ist, wo man hin soll.
So ist es vielen ergangen, Millionen; so geht es heute vielen Menschen auf dieser Welt. Hier soll an die erinnert werden,
die in unsere Stadt kamen, die hier Zuflucht und neue Heimat fanden.
Die ersten, die in unsere Orte kamen, waren
die „Bombenflüchtlinge“, aus den großen Städten. Sie flohen vor dem mörderischen
„Luftkrieg“. Die großen Bomberverbände waren auch über Seyda zu sehen, bei Tag
und bei Nacht flogen sie in den letzten Monaten des Krieges: nach Berlin, nach
Dresden. Man konnte aus der Ferne die
„Christbäume“ sehen, die sie zur Markierung der Ziele setzten; und wohl auch
den Feuersturm, den die Bomben auslösten.
Aus Düren bei Aachen wurden 1943 Familien in
Naundorf untergebracht. Es musste „zusammengerückt“ werden, verschiedene
Familien hatten – auf Anordnung – Zimmer zu räumen. Noch war der Krieg fern der
Heimat, aber jede Familie hatte Männer im Krieg, für die man hoffte, dass sie
auch da und dort Hilfe und gute Aufnahme fänden. Noch konnte sich keiner
vorstellen, selbst auch einmal hier an Leib und Leben bedroht zu sein.
Die
Familien waren meist unvollständig: waren doch Väter und Söhne im Krieg, die
Mütter trugen oft die ganze Last allein. An einen Vater erinnert man sich in
Naundorf, der die Seinen dort unterbrachte und wieder nach Hause musste: am
nächsten Tag kam er beim Bombenangriff in Düren ums Leben. Das heißt: Sein
Schicksal war ungewiss geblieben: erst Jahre nach Kriegsende, als das zerbombte
Haus abgetragen wurde, fand man ihn im Keller.
Mancher kam auch nach Seyda, der bereits sein
Heim im Feuersturm verloren hatte: So als junges Mädchen Frau Ursel Freidank
aus Berlin. Sie war gerade konfirmiert worden, 1943, und nun war alles in einer
Nacht verloren: die Habseligkeiten passten in ein paar Koffer. Aus der
Großstadt aufs Land: „Hier bleibe ich niemals!“ so waren ihre Gedanken,
als sie die ersten Häuser sah – oft hat sie es erzählt – und doch hat sie die
meiste Zeit ihres Lebens in Seyda verbracht und ist durch ihre treuen
Geburtstagsbesuche für ältere Mitmenschen gar nicht aus unserem Städtchen
wegzudenken.
Das Flüchtlingselend des Zweiten Weltkrieges
begann viel früher, als es hier in unserer Gegend sichtbar und fühlbar wurde:
Am 1. September 1939 wurde Polen überfallen, der Hitler-Stalin-Pakt teilte
dieses Land auf, Millionen wurden umgebracht, vertrieben, als Arbeitssklaven verschleppt.
Auch in unseren Orten waren ja Polen und Serben, Franzosen und Russen als
„Fremdarbeiter“ beschäftigt, wenn auch Pastor Mauer 1960 in der Chronik der
Turmkugel von Gadegast darüber schreibt, sie seien meist menschlich behandelt
worden und hätten mit der jeweiligen Familie an einem Tisch – was verboten war
– essen können. Untergebracht waren sie jedenfalls oft schlechter – wie in
Gadegast beim Pfarrhaus auf dem Dachboden des Stalles, auf Stroh.
Einige Frauen aus Österreich und der
Slowakei, auch aus dem „Hultschiner Ländchen“, was 1919 von Deutschland
abgetreten werden musste, kamen in Kriegszeiten nach Mitteldeutschland, um hier
zu arbeiten. Ihnen wurde Arbeit in einer „Schokoladenfabrik“ versprochen – in
Wahrheit waren es Rüstungsbetriebe, die sie beschäftigten. Aus Seyda fuhren
dazu täglich Busse nach Treuenbrietzen, sie waren in einer Halle bei der
Gärtnerei Freyer in der Jüterboger Straße untergebracht.
Die ersten Flüchtlingstrecks erreichten Seyda
im Januar 1945. Die Stadt war „verdunkelt“ – es durfte in der Nacht kein Licht
zu sehen sein, um den feindlichen Fliegern keine Orientierung zu geben. In der
Gaststätte Pätz am Markt wurden sie untergebracht, mit Stroh auf dem Fußboden.
Die Einwohner waren über das Elend sehr erschrocken, viele halfen, wie sie
konnten; eine Bäckersfrau legte eine Sonderschicht ein und kochte Mehlsuppe für
alle. Diese „Schwarzmeerdeutschen“ hatten einen weiten Weg hinter sich, und oft
sind sie auch weitergezogen, wie viele, die hier Station machten. Der
„Ortsbauernführer“ Hennig vom Markt ging von Haus zu Haus und sammelte Hafer
für ihre Pferde; der alte Stellmacher Lootz aus Gentha musste helfen, kaputte
Räder an den Gefährten notdürftig zu reparieren, denn am Morgen schon sollte es
weiter gehen. Keiner wollte ja „den Russen“ in die Hände fallen, sondern sich
wenigstens zu den Amerikanern in den Westen Deutschlands retten. Damals wusste
noch keiner, dass sich beide einmal an der Elbe treffen würden, nur wenige
Kilometer von hier.
Die „Schwarzmeerdeutschen“ waren Russlanddeutsche,
oft seit Jahrhunderten in deutschen Dörfern im großen Russischen Reich oder in
der Österreich-Ungarischen Monarchie zu Hause. Katharina die Große, Zarin von
Russland, vorher Prinzessin aus Zerbst in Anhalt, hatte eingeladen, in ihr
Reich zu kommen: mit Versprechen für Steuerfreiheit und großen Landbesitz. Das
hat viele in Bewegung gesetzt: In Zeiten, wo eine Familie viele Kinder hatte
und nur einer den Hof erben konnte, war das eine glänzende Aussicht. Die
Russlanddeutschen haben meist in geschlossenen deutschen Gebieten gelebt: Alles
war deutsch: die Sprache, die Straßennamen, die Formulare; die Schule und die
Kirche. Das Elend dieser Menschen begann massiv in der Stalinzeit; es setzte
sich fort, als sie in den Machtbereich Hitlers kamen: Er schickte sie „heim ins
Reich“. Manchmal über Umwege – Sammellager in Bayern – wurden sie in Polen
„angesiedelt“, zum Beispiel im „Warthegau“ und bei Lodz. Dort sollten sie
anstelle der (vertriebenen, ermordeten, als Arbeitssklaven erniedrigten) Polen
die Bauernwirtschaften betreiben. Doch schon nach wenigen Monaten, mit
Heranrücken der Ostfront, waren sie wieder auf der Straße: auf der Flucht vor
der Roten Armee.
In
unsere Orte kamen Menschen aus Wolhynien (Ukraine), aus Bessarabien,
Siebenbürgen, der Bukowina und vom Schwarzen Meer (heute Rumänien, Moldawien,
Russland).
Als
dann die Rote Armee auch hier in Seyda einzog, wurden etliche von ihnen gezwungen, wieder nach
Russland zu gehen: so eine Lehrerin, die schon in der Seydaer Schule angefangen
hatte zu arbeiten. Diese Menschen kamen in Arbeitslager in Sibirien, wo sie
über 10 Jahre nicht ohne Sondergenehmigung ihre Orte verlassen durften; später
dann nach Kasachstan und Kirgisien an der chinesischen Grenze. Beim Zerfall der
Sowjetunion Anfang der 90iger Jahre wurden sie auch dort wieder als „Ausländer“
angesehen und sind dann in großer Zahl nach Deutschland gekommen, auch nach
Seyda. In der Sowjetunion waren sie als „Deutsche“ und „Faschisten“ beschimpft
worden. Es wurde bei Strafe verboten, die deutsche Sprache zu sprechen. Das ist
der Grund, warum die jüngere Generation erst wieder Deutsch lernen musste. Die
älteren sprechen oft auch einen schwäbischen Dialekt, der erinnert, dass ihre
Vorfahren einmal von dort ausgewandert sind.
Oft
blieben die Familien der Russlanddeutschen, die nach 1990 hierher kamen, in
Seyda nur einige Jahre – es gab eine Frist, in der sie in dem ihnen zugeteilten
Bundesland Sachsen-Anhalt bleiben mussten – sie zogen dann wegen der Arbeit gen
Westen. Es sind in den meisten Fällen Familien mit vielen Kindern gewesen, und
der Familienzusammenhalt ist sehr stark. Die kirchlichen Traditionen wurden oft
über Jahrzehnte im Untergrund, ohne Pfarrer und offizielle Kirche, mit
handgeschriebenen Gesangbüchern, weitergegeben. Nicht selten haben die
Großmütter die Kinder getauft, weil die Pfarrer ermordet worden waren und es
einfach keine in der Nähe gab.
In den Orten Gentha und später in Mark
Friedersdorf und Mark Zwuschen haben 1945 viele dieser Flüchtlinge aus weiter
Ferne eine neue Heimat gefunden: In Gentha wurde das alte Rittergut aufgelöst
und das Land verteilt, es gab eine neue Siedlung; in Mark Zwuschen und Mark
Friedersdorf war es ähnlich, ganz neue Dörfer entstanden.
„Nach Beendigung des grausamen Krieges im Jahre 1945
bestand Mark-Zwuschen also aus dem Herrenhaus, dem Speicher, dem Jagdhaus und 2
Landarbeiterkaten, in denen zusammengepfercht 9 Familien hausten.
Eine ehemalige Landarbeiterin des Gutes Norte berichtet:
„Wir waren aus allen Himmelsrichtungen nach
Mark Zwuschen gekommen, Schwarzmeerdeutsche und Deutsche aus Rumänien, Leute
aus dem ehemaligen Warthegau und aus den Sudeten. Unsere Sprache war
verschieden und wir hatten verschiedene Sitten und Gebräuche. Aber nie ließ
einer den anderen im Stich. Jeder half dem anderen, wo er nur konnte.“
Diese
fleißigen Menschen erhielten mit der demokratischen Bodenreform Land und
begannen mit viel Elan, den Ort Mark
Zwuschen aufzubauen.“ (Inge Malek in Heimatkurier 4/97, 5).
Auch hier ist die Frömmigkeit bemerkenswert:
Es wird etwa erzählt, dass die Morxdorfer Kirche von mehr „Zwuschenern“, also
Zugereisten, als von Einheimischen besucht wurde. Als nach der Bodenreform jede
Familie Land erhielt, gaben die Christen in Mark Zwuschen von dem wenigen ein
Stück Land ab: Dort sollte eine eigene Kirche gebaut werden. Eine eigene
Kirchengemeinde „Neuheim“ sollte entstehen. Die umliegenden Gemeindekirchenräte
unterstützten das; in Sitzungen vom 1. und 3. Mai 1949 wurde in Morxdorf,
Mellnitz und in Seyda beschlossen, Kirchenland als Existenzgrundlage für die
neue Kirchengemeinde abzutreten. Dann aber trat die Staatsmacht auf den Plan
und verhinderte massiv Kirchenbau und Gemeindeneugründung. Max Priedigkeit,
Maurer aus Ostpreußen, wurde noch in den fünfziger Jahren beim Bau eines
Pumpenhäuschens von fremden Männern in Schwarz aufgefordert: „Du baust hier
eine Kirche? Lass das sofort sein!“
Der
erste LPG-Vorsitzende von Mark Zwuschen, Hermann Schulz, war auch
Kirchenältester; durch den massiven Druck aber verließen viele Neubauern den
Ort wieder und suchten woanders (manchmal in weiter Ferne, zum Beispiel in
Kanada), ihr Glück.
Die ersten Flüchtlinge wurden noch in relativ
geordneten Verhältnissen aufgenommen. Es gab die Regelung, dass am Abend jede
Gemeinde verpflichtet war, Unterkunft zu gewähren. Immer mehr kamen: meist in
Familienverbänden – jedoch ohne (junge) Männer, manchmal in Nachbarschafts- und
Dorfverbänden. Die Not schweißte zusammen.
In
Seyda wurde das alte Reichsarbeitsdienstlager zum Flüchtlingslager. An einem
Tag wurden bis zu 100 Neuankömmlinge registriert: die Namen mit Bleistift, das
Alter, der Herkunftsort. Meistens Mütter allein mit 3, 4, 5 und mehr Kindern,
ganz alte Menschen, hoch in den 80igern: sie waren zu Fuß unterwegs und wussten
meist nicht, wohin.
Furchtbares
hatten sie erlebt: oft waren sie „zwischen die Fronten“ geraten, hatten Kinder,
Eltern, Nachbarn, Freunde verloren; hatten schlimme Gewalttaten erlitten.
Wohin? Die Straßen waren voller Flüchtlinge,
die Häuser überfüllt. Wer sollte helfen? Eine Ordnungsmacht war nicht mehr da.
Die Welt war aus den Fugen.
Mancher
hatte das Ziel, entfernte Verwandte zu erreichen; mancher war – wie in Naundorf
und Gentha – in unserer Gegend „in
Stellung“ gewesen und hatte deshalb Bekanntschaften. Bisweilen wohnten
Großfamilien in einem
einzigen
Zimmer miteinander. Es gab Hunger und Not. Die Kinder wurden zum Betteln
geschickt, sie bekamen am ehesten etwas und mussten die Erwachsenen mit
ernähren. Alle, die konnten, mussten schwer arbeiten – auch die Städter, die
die Landarbeit nicht gewohnt waren.
Nach Seyda kam in diesen Tagen auch Pastor
Lent, selbst mit seiner Familie auf der Flucht. Frau Lent war schwanger. Sie
wurden zunächst im Pfarrhaus aufgenommen, und Pastor Lent versah seinen Dienst
in Vertretung für Pastor Hagendorf, der im Konzentrationslager war. Viele
Beerdigungen: Selbstmorde, tote Soldaten auch und erschossene Zivilisten! Als
er früh am 22. April vom Milchholen heimkam, sagte er seiner Frau: „Die Russen
sind da.“ Sie versteckte sich auf einem Heuboden in der Pfarrscheune. Auf dem
Kirchplatz hatten viele ihre alten Uniformteile abgelegt – fast alle waren ja
in einer nationalsozialistischen Organisation, Hitlerjugend oder Bund Deutscher
Mädchen, Reichsarbeitsdienst oder Wehrmacht.
Die
russischen Soldaten verübten auch in Seyda furchtbare Gräueltaten an der
Zivilbevölkerung. Von Pastor Lent wird erzählt, dass er sich zu den großen
Essgelagen der Russen hinschlich – wenn sie etwa Kühe und Schweine geschlachtet
und verspeist hatten - und dort die
Reste sammelte, um sie bedürftigen Familien zu bringen. In diesen Wochen kam er
auch einmal nach Zemnick zum Gottesdienst; die Bauern waren aufgebracht, weil
die Russen gerade alle ihre Rinder mitgenommen hatten. Der Pastor schloss die
Kirche wieder zu, ging – in diesen Zeiten, unter Lebensgefahr – zum russischen
Kommandanten, legte ihm dar, dass damit den Zemnickern die Existenzgrundlage
genommen sei und die Kühe zurück müssten. Sie kamen zurück! Zunächst wurden ihm
ein paar alte, kranke angeboten – die er jedoch zurückwies; und dann kamen sie
am Abend wieder nach Zemnick; die Leute konnten ihren Augen kaum trauen und
haben es noch Jahrzehnte später erzählt. Dieser „Flüchtlingspastor“ hat also
hier in diesen schweren Zeiten Dienst getan, bis Pastor Hagendorf wiederkam. In
der Neuen Straße, bei Deutsch, hat seine Frau im Juni ihr Kind geboren.
Ob es eine vergleichbare Begebenheit in
Russland mit einem deutschen Kommandanten gibt? Überliefert ist von mehreren
Soldaten, die auf „Fronturlaub“ zu Hause waren, dass sie (hinter vorgehaltener
Hand) sagten: Was da im Osten für schreckliche Dinge mit der russischen
Zivilbevölkerung geschehen – wenn die einmal zu uns kommen, dann gnade uns
Gott!
Alles hatten die „Flüchtlinge“ verloren – das
Wort klang wie ein verfluchtes, ein Schimpfwort! Die allermeisten hatten doch
zu Hause ein geregeltes Leben gehabt, mit Haus und Hof, und nun waren sie
Bettler mit leeren Händen. Die letzten kleinen Reichtümer waren schnell
eingetauscht in Brot oder andere Nahrungsmittel. Es kam darauf an, was man konnte.
Ein
„Flüchtlingsmaler“, Herr Bergemann, hat Seyda gemalt; sehr schöne Bilder sind
damals entstanden, die das alte Seyda zeigen; so vom Amtshaus und ein Blick in
den Haak oder aus der Triftstraße; in einem Kalender 2002 wurden einige davon
reproduziert, sie hängen heute noch in Seydaer Wohnzimmern.
Viele fanden in der Kirche eine Heimat: dort
hörte und sang man die vertrauten Melodien und Texte, dort gab es Trost und
Hoffnung. In Seyda entstand in diesen Monaten eine katholische Gemeinde! Bis
dahin gab es fast keine Katholiken in unserer Gegend; ja, „katholsch“ heißt im
flämischen Dialekt sogar „verkehrt“, „nicht von uns“ – nun aber wurden die
Kirchen geöffnet auch für die jeweils andere Konfession – in
anderen
Gebieten Deutschlands die katholischen Kirchen für die evangelischen Christen.
Hier, im Osten, wurde nicht nach dem Glauben der Ankömmlinge gefragt
(registriert wurde er freilich); im Westen soll es der Gedanke Adenauers
gewesen sein, Katholiken in evangelische Gebiete und Evangelische in katholische
Gebiete zu schicken, um die konfessionelle Spaltung des Landes aufzubrechen.
So fand in der Seydaer Kirche wie auch dann
in den 50iger Jahren im neuen Gemeinderaum im Pfarrhaus katholischer
Gottesdienst statt. Der Priester kam aus einem anderen Ort, lange Zeit aus
Elster, ein kleiner Tisch wurde als Altar aufgebaut und geweiht, ein Marienbild
daran befestigt. Es gab kleine – heute noch vorhandene – Hocker für die
Messdiener, Jungen aus Seyda. In den 50iger Jahren kam auch der katholische
Bischof zur Firmung (vergleichbar der Konfirmation) der katholischen
Jugendlichen aus Seyda und Umgebung. Die katholische Gemeinde hatte in der
Sakristei einen eigenen Schrank, darin lagen die Messformulare (noch in
lateinischer Sprache), die Handzettel für die Caritas-Sammlung (für
Bedürftige), auch noch (1993) das Rauchwerk
des Priesters. Einen eigenen Kirchenschlüssel bekamen die Katholiken,
1994 wurde er zurückgegeben: Der einzige, der uns noch von den originalen
Schlüsseln erhalten ist, mit einem feinen Stern im Bart. Alle anderen sind über
die – auch für die evangelische Gemeinde nicht einfachen - Jahre verloren
gegangen!
Um 1970 kam ein junger katholischer Pfarrer
nach Elster, und die Zusammenarbeit zwischen den Kirchen intensivierte sich,
wohl auch in Folge des Zweiten Vatikanischen Konzils. Nun sprachen alle im
Gottesdienst deutsch, und es wurden Ökumenische Gottesdienste miteinander
gefeiert. Die Zahl aber der katholischen Christen nahm immer mehr ab: Viele
waren weiter, in den Westen, gezogen; viele der jungen Generation „heirateten“
in alte, evangelische Familien ein – und wurden evangelisch, mancher auch
beendete seine Kirchenmitgliedschaft.
Erst nach der Wende 1990 wurde es der katholischen Gemeinde, die nun ihren Sitz in Elster hatte, erlaubt, eine Kirche zu bauen. Schwester Dietgarda, auch als Flüchtling gekommen, baute sie mit eigener Hand, aus einer Garage in der Molkereistraße in Elster, sie bietet ca. 40 Menschen Platz.
Noch heute kann man die Spuren des Wirkens von
Frau Anna-Maria Hor aus Mellnitz sehen. Sie stammte aus Schlesien, war und
blieb ihr Leben lang katholisch. Als sie Anfang der 90iger Jahre nach Mellnitz
kam, besuchte sie, so oft es ging, katholische Gottesdienste in Zahna – aber
immer auch
den
evangelischen Gottesdienst in Mellnitz. Viele Jahre sorgte sie für den Schmuck
der Kirche mit Blumen. Sie stiftete einen bunten Wandteppich, auf dem das
Abendmahl Christi mit seinen Jüngern dargestellt ist, und der heute mitten in
der Kirche am Altar hängt. Regelmäßig besuchte sie auch den Gemeindenachmittag
in Seyda, von ihren Spenden für das Fahrgeld wurden die Leitern in den
Mellnitzer Kirchturm besorgt.
Beim Gemeindenachmittag in Seyda waren über
die Jahre wie selbstverständlich katholische Christen dabei: Sie gehörten dazu
und brachten ihre Lebensgeschichte und ihre Tradition ein. Regelmäßig kommt
auch heute Besuch von der katholischen Schwester bzw. der Gemeinde dort aus
Elster, zum Beispiel die Sternsinger, die über die Tür den Haussegen 20 + C + M
+ B + 06 schreiben.
Eine
der katholischen Frauen beim Gemeindenachmittag war die bisher älteste Frau in
Seyda: Maria Brill. Sie wurde 101 Jahr alt. Im Januar 1946 ist sie mit ihren
Geschwistern aus Zoppot bei Danzig an der Ostsee in das Lager in Seyda
gekommen.
Beim Gemeindenachmittag ist es üblich, dass
sich, wer Geburtstag hatte, ein Lied wünschen darf. Ich fragte Frau Anna
Trollmann, welches Lied wir ihr denn singen könnten zum 88. Sie nahm das
Liederheft und schlug eins vor, was ich aber nicht kannte und – Noten standen
nicht dabei – deshalb auch nicht singen konnte. „Geben Sie doch einmal ihre
Gitarre, ich mache das!“ – so forderte sie mich auf – und spielte und sang
zu unser aller Erstaunen das Lied vor. „Ja, in Ostpreußen, da hatten wir
doch einen Jugendchor!“ Das Lied:
Ich
bin durch die Welt gegangen,
und
die Welt ist schön und groß.
Und
doch ziehet mein Verlangen
mich
weit von der Erde los.
Ich
habe die Menschen gesehen,
und
sie suchen spät und früh.
Sie
schaffen und kommen und gehen,
und ihr Leben ist Arbeit und Müh.
Sie
suchen, was sie nicht finden
in
Liebe und Ehre und Glück,
und
sie kommen belastet mit Sünden
und
unbefriedigt zurück.
Es
ist eine Ruh vorhanden
für
das arme, müde Herz!
Sagt
es laut in allen Landen:
Hier
ist gestillet der Schmerz.
Es
ist eine Ruh gefunden
für
alle fern und nah:
In
des Gotteslammes Wunden
am
Kreuze auf Golgatha.
(Worte:
Eleonore Fürstin Reuß; In: Zu guter Stunde. Geistliche Volkslieder. Hrsg. Von
Erika Schreiber und Theophil Rothenberg, Berlin 1982, 105.).
Aufgrund der schrecklichen Erlebnisse haben
viele ihren Glauben verloren. Sie fragten sich: Wo hat Gott mir geholfen? Wo
war er? Warum hat mich dieses Leid getroffen?
Etliche
aber gab es auch, die sagten und sagen: Durch den Glauben hatte ich Halt, durch
all das hindurchzukommen.
Im
Seydaer Kirchenbuch ist die Spalte „Bemerkungen“ bei den Beerdigungen selten
ausgefüllt; es fällt deshalb auf, dass insbesondere bei denen, die durch den
Krieg nach Seyda kamen und ihre Heimat verloren hatten, öfter etwas da steht:
„Kam
auch bei schlechtem Wetter regelmäßig von Lüttchenseyda zum Gottesdienst.“ - „...kam regelmäßig zu den
Bibelstunden“ – „Sie war sehr kirchlich.“ (zweimal) – „War sehr
kirchlich, ...“ – „Der Herr ist mein Hirte, mir soll nichts mangeln. Ps 23,1
(selbst von ihr ausgewählt) ... hielt sich treu zur Kirche.“
Im
Schicksal des auch aus der Heimat vertriebenen Gottesvolkes und im Leiden und
Sterben des Herrn Jesus fanden sie ihr Leid wieder: Den Gott, der mitgeht und
hinaus- und hindurchführt.
Heute ist es keine Seltenheit, dass man
seinen Heimatort verlässt – wegen der Ausbildung oder der Arbeit in der Ferne.
Vor 60 Jahren jedoch war das nicht die Normalität. Man lebte in seinem Ort, von
der Geburt bis zum Tod; und nicht selten war man nicht weit über den Kreis
Schweinitz oder bis nach Wittenberg hinausgekommen, es sei denn durch
Kriegsdienst.
Im
Zemnicker Kirchenbuch ist 1899 ganz besonders ein Zugereister vermerkt worden:
Ein Eisenbahner aus Ostpreußen heiratete ein Zemnicker Mädchen: Das gab es bis
dahin nicht oder sehr selten. So hat sich durch den enormen Zustrom von
Menschen zum Kriegsende auf unseren Orten viel verändert: auch an Weltsicht,
Erfahrungen, bis hin zu Kochrezepten. Die Neuankömmlinge haben sich mit ihrem
Erfahrungsschatz, ihrer Arbeitskraft, ihrem Leben eingebracht in die
Gemeinschaft. Viele Namen sind aus der Geschichte unserer Stadt gar nicht
wegzudenken, so die Bürgermeister Karl-Heinz Benesch und Emil Motl, der
langjährige Heimatvereinsvorsitzende Dr. Alexander Bauer – Menschen, die viel
für Seyda getan haben und auch einmal aus den Sudeten hierher kamen. Wie
gesagt, fast keine Familie gibt es, in der es nicht auch ein
Flüchtlingsschicksal gibt: Durch den Lauf der Zeit, durch Heirat auch haben
sich Alteingesessene und Dazugekommene miteinander verbunden.
Der Improvisationskunst von Herrn Biber, der
in Glückstal im Odessagebiet geboren
wurde, verdanken wir es zum Beispiel, dass die Löcher in der Kirchendecke
geschlossen werden konnten. Im heißen August 1994 hat er das getan – eine mühevolle
Arbeit, für die sich sonst keiner fand.
Ein besonderer Ort in Seyda bei der Aufnahme
von Flüchtlingen war der Diest-Hof. Dort kamen besonders alleinstehende und
hilfsbedürftige Menschen unter, und der Charakter der Einrichtung wandelte sich
zu einem Kirchlichen Alters- und Pflegeheim, später zu einem Wohnheim für
Menschen mit geistiger Behinderung. Viele der älteren Bewohner dort sind aus
dem Osten, und manche haben ihre Behinderung auch durch unmittelbare
Kriegseinwirkungen.
Ein
Zeitzeuge: „Nach der Einnahme Seydas durch die sowjetische Besatzungsmacht
wurde im ersten Gebäude der Arbeiterkolonie ein zentrales Krankenrevier
eingerichtet. In den oberen Räumen wohnten die pflegebedürftigen Heimbewohner.
Im zweiten Gebäude befand sich die Küche, darüber wohnte das Küchenpersonal.“
(Heinrich Hanns, Erinnerungen; In: Bärbel Schiepel, Heimatgeschichte(n), Seyda
2001).
Die Aufnahme und Integration so vieler
Menschen war eine schwere Aufgabe. In den Häusern wurde jeder Raum genutzt, man
lebte sehr beengt. Zeitweise musste jeder Hausbesitzer Wohnraum geräumt haben
und bereit halten, falls Unterkunft (meist noch über Nacht, später für längere
Zeit) gebraucht wurde. In der Schule waren die Klassen überfüllt, die Liste der
Bedürftigen war lang. Die Bevölkerungszahl Seydas war von 1.600 (1945) auf
1.704 (1946; am 29.10.: 737 männlich; Gemeindebuch Sachsen-Anhalt 1948) und
2.075 (1947) gestiegen, durch die Aufnahme von Umsiedlern, die noch bis 1948
kamen. (Heimatbuch 52).
74
Flüchtlingskinder besuchten die Seydaer Schule.
Der
Rat der Stadt Seyda richtete einen Umsiedlerausschuss ein. Es ging um den
Wohnraum, um die tägliche Versorgung. So wurden am 6. August 1946 40 Kochtöpfe
verteilt (59 Anträge waren gestellt). Holzklötze für Pantoffeln und Schuhe
wurden 1947 bis 1949 zugeteilt. Dazu mussten in allen Schulen der Umgebung
Bedarfslisten aufgestellt werden. Für Seyda sah sie so aus: Größe 20 cm – 35
Stück; Größe 21 cm – 39 Stück, Größe 22 cm 46 Stück, Größe 23 cm – 32 Stück,
Größe 24 cm – 36 Stück, Größe 25 cm – 46 Stück, Größe 26 cm – 54 Stück, Größe
27 cm 36 Stück, Größe 28 cm – 24 Stück, Größe 29 cm- 12 Stück, Größe 30 cm 5
Stück. Hinter diesen Zahlen stehen viele kleine Kinderfüße, die dringend
Schuhwerk brauchten!
In den Wintern 1945/46 und 1946/47 wurde in
Seyda eine Winterküche eingerichtet. Immer noch kamen Menschen aus den
ehemaligen Ostgebieten. Wer nicht rechtzeitig weggekommen war, musste dort
unter schwersten Bedingungen leben und arbeiten – viele sind umgekommen. Die
letzten kamen in größeren Gruppen 1948, bei einem Mann im Kirchenbuch heißt es
unter „Bemerkungen“: „kam erst in den 50er Jahren aus Polen“.
Aus den Sudeten, also den Gebieten der
Tschechei, in denen viele Deutsche lebten, kamen zunächst im Sommer 1945
versprengte Gruppen, Opfer der „wilden Vertreibung“. Die Tschechen rächten sich
grausam für das ihnen zugefügte Leid, viele wurden umgebracht. Ein Datum ist
zum Beispiel das „Blutbad von Aussig“ am 31. Juli 1945. In den Kirchenbüchern
von Aussig (heute Usti) bis Dresden wurden über 80 Eintragungen über Tote
gefunden, die an diesem Tag dort in die Elbe geworfen worden sind.
Im
August 1945 tagten in Potsdam die Siegermächte, dort wurde endgültig
beschlossen, dass die deutsche Bevölkerung aus den ehemaligen Ostgebieten und
den Sudeten ihre Heimat verlassen sollte. 1946 wurden so in den Sudeten
Eisenbahnzüge zusammengestellt. Sie gingen fast alle in den Westen
Deutschlands, nur wenige fuhren in den Osten, einer nach Falkenberg, ein Teil der Waggons davon
nach Elster. Es waren Viehwaggons, in denen die Menschen zusammengepresst mit
ihren wenigen Habseligkeiten ausharrten. Die meisten von ihnen kamen nach
Seyda.
Darüber
gibt es einen Erlebnisbericht, aufgeschrieben von Helmut Klaubert aus Asch am
28. Juni 1956: „Nachdem bereits 1000 Ausgewiesene Asch in Richtung Osten
verlassen hatten, verstärkte sich das Gerücht immer mehr, dass mit weiteren
Transporten in die sowjetische Zone zu rechnen sei... Über die nahe Grenze und
durch den Rundfunk wurden ja damals Dinge über die Sowjet-Zone bekannt, die
jeden von den dort herrschenden Zuständen abschreckten. Da waren die nie
stillstehenden Demontagen der Betriebe, die Vergewaltigungen und die große
Hungersnot. Am Vormittag des 23.7.1946 erhielten wir auf eigene Initiative
unsere Ausweisungsbefehle für acht Familienmitglieder. Am selben Tage noch
übergaben wir unser Geschäft an einen tschechischen Nationalverwalter, der sehr
gnädig mit uns verfuhr. In der kommenden Nacht wurde in drei Haushalten eifrig
gepackt. Mutter und Schwester nähten große Säcke, mein Bruder schrieb die
vielen Schilder, die dann daran befestigt wurden. Zu dieser Zeit hatte es sich
bereits herumgesprochen, wie es am besten sei, mit den wenigen Habseligkeiten
vor den Gewalthabern zu erscheinen.
Schuhe,
Anzüge und alle Paardinge wurden sorgfältig getrennt in verschiedenen Säcken
untergebracht. Und was noch an neuer Wäsche zu Hause war, denn das meiste
befand sich ja, auf Pascherwegen nach Bayern gebracht, bereits an sicherem Ort,
wurde zerknittert, verdreht und unansehnlich gemacht. Dann stopften wir die
Säcke voll mit allem Hausrat, nur um ein rechtes Kunterbunt zu erreichen. Dies
und jenes sollte mitgenommen werden, und manchmal stand man vor Rätseln, was
nun wirklich notwendig sei. Zum Ende zeigte sich alles unentbehrlich, und als
wir unser Bündel und Packen mit einer Waage kontrollierten, ergaben sie ein
Gewicht, das weit über den gestatteten 400 kg (pro Kopf = 50 kg) lag...
Am
24. Juli 1946, vormittags 11 Uhr, nahmen wir Abschied von den noch verbliebenen
Bekannten und von der Wohnung. Auf einem großen Pferdewagen lag unser Hab und
Gut aufgeladen. Nicht allein waren wir..., unterwegs reihte sich so mancher
rollende Unglückshaufen ein. Drei Stunden harrten wir mit unserem Gepäck vor
den Untersuchungsbuden. Als wir an die Reihe kamen, füllte man gerade einen
neuen Transport auf. Die kontrollierenden Tschechen waren zu dieser Zeit
bereits stark betrunken, und wir wussten nicht, wie wir uns auf sie einstellen
sollten. Nach eine weiteren Stunde lag auch dies hinter uns.... Bis zum
30.7.1946 kamen noch täglich mehr Menschen mit ihren Habseligkeiten, so dass am
1.8.1946 vormittags ca. 1.200 Vertriebene aus Asch, Wernersreuth, Nassengrub,
Thonbrunn, Hastau u.a. mit ihrem Gepäck in die am Aschener Hauptbahnhof
bereitstehenden Güterwagen verladen wurden. Bei der Verladung selbst gab es
erneute Fragen, denn was sich als Gerüchte die vergangenen Tage halten konnte,
bestätigte sich an den vorgefundenen Waggons, die alle Hammer und Sichel sowie
die Aufschrift „UdSSR“ (=Union der Sozialistischen Sowjetrepubliken, =
Sowjetrussland) trugen. Nach Befragen der offiziellen tschechischen
Stelle verwarf man unsere Feststellung und sagte: Dies wäre der letzte
Transport nach Westdeutschland! Um 13 Uhr setzte sich der Zug in Bewegung, und
es gab Tränen über Tränen. Nach kurzer Zeit erreichten wir Franzensbad, wo sich
der Zug etwa 20 Minuten aufhielt. Die Lokomotive wechselte an das Ende. An den
Waggontüren, die verschlossen wurden, zeigten sich tschechische Soldaten mit
Maschinenpistolen. Erneutes Rätselraten über das Wohin. Man sprach von
Umleitung über Tirschnitz. Aber als wir Voitersreuth durchfuhren, war es jedem klar, dass man uns
belogen hatte. Wer kann sich wohl heute noch die große Enttäuschung vorstellen?
Bad Brambach war die erste Station auf deutschem Boden... Ich selbst lag
bereits von Asch aus mit hohem Fieber im Waggon und sch lief am Vormittag ein.
Als ich aufwachte, war es ca. 2 Uhr in der Nacht, draußen regnete es. Trotz der
Dunkelheit und der nassen Witterung musste schleunigst der volle Zug geräumt
werden... Die Beladung des neuen Zuges war mit zwei Stunden befristet.
Beschämend zeigte sich das Benehmen einiger Landsleute, die glaubten, besondere
Privilegien zu besitzen, denn mit einem nicht zu bekehrenden Egoismus nahmen
sie ganze Waggons für sich selbst in Anspruch, so dass kurz vor Abgang des
Zuges viele Vertriebene mit ihrem Gepäck nicht untergebracht waren. Es gab viel
Geschrei und sogar Handgreiflichkeiten... Um 8 Uhr des 3. August erreichten wir
den Bahnhof Herzberg/Elster – West. Das dortige Lager dürfte wahrscheinlich
überfüllt gewesen sein, denn nach kurzem Warten ging es die ca. 20 km zurück
nach Falkenberg. Ca. drei Stunden stand der Transport auf dem dortigen
Verschiebebahnhof, um danach in Richtung Lutherstadt Wittenberg den Kurs zu
nehmen...
Um 14 Uhr desselben Tages hielt der Zug am Bahnhof Elster/Elbe, ein verlassenes Nestchen inmitten der märkischen Streusandbüchse. Ebene so weit das Auge zu schauen vermag, spärlicher Kiefernwald und nichts als Sand. Ein unüberwindlicher Übergang für die Bergmenschen aus der Aschener Heimat. Bei unserer Einfahrt versammelten sich auf dem Bahnhofsgelände eine Menge Bauerngespanne. Sie nahmen in mehreren Fahrten Gepäck und Menschen auf und schafften diese in das 16 km entfernte Dörfchen Seyda bei Zahna im Kreise Schweinitz, wo Quarantänelager bezogen wurde. Die Unterbringung erfolgte in acht ausgedienten Arbeitsdienstbaracken sowie im Saal des nahen Schützenhauses.
Meines
Wissens hing man bereits in Falkenberg in der Früh ein Drittel des Transportes ab,
und die Unterbringung dieses Teiles nahm man im Quarantänelager
Herzberg/Schwarze Elster vor.
Der
zweite Tag im Lager Seyda brachte schon die erste Sensation. Ein Stab von
sowjetischen Offizieren aus dem Hauptquartier in Jüterbog besuchte das Lager,
und es gab heftige Diskussionen. Immer wieder brachte man von unserer Seite den
Einwand, wonach dieser Transport überhaupt nicht hierher gehörte, sondern dass
er nach unserem ausdrücklichen Wunsch sofort nach Westdeutschland
weitergeleitet werden solle. Ich glaube, man gab uns Zugeständnisse, zumindest
versprach die sowjetische Delegation Hilfe.
In
den vorhandenen Lager-Duschräumen unternahm man Großreinemachen. Verschiedene
Frauen halfen in der Lagerküche. Alle Lagerinsassen unterzogen sich einer
strenggehaltenen Typhusimpfung. Alle kranken Personen bettete man in eine
eigens vorgesehene Isolierbaracke. Des öfteren hielt ein Ascher Landsmann unter
sehr großer Anteilnahme Gottesdienst im Freien. Die Erwachsenen fanden die
ersten schwierigen Kontakte mit der Bevölkerung, und der materielle Nachschub
stand dabei immer im Vordergrund. Das Essen im Lager selbst war für die
damalige Zeit nicht schlecht und ausreichend.
Als
sich keine Anzeichen für eine Übergabe des Transportes nach Westdeutschland
zeigten, im Gegenteil, sich die Behauptung immer mehr durchsetzte, der
Transport verbleibe in der russischen Zone, unternahmen so manche Familien auf
eigenes Risiko die Fahrt nach dem Westen. Der Abgang betrug ca. 200 Personen.
(Im
Anschluss schildert der Vf. die Aufteilung des Transportes auf die Gemeinden
des Kreises Bad Liebenwerda und das weitere Schicksal der Ausgewiesenen.)“
(Aus
einer Dokumentation: „Die Vertreibung der deutschen Bevölkerung aus der
Tschechoslowakei, hrsg. vom ehemaligen Bundesministerium für Vertriebene,
Flüchtlinge und Kriegsgeschädigte, Band 2, 473 – 476, Augsburg 1993.).
In Seyda und den umliegenden Ortschaften
wurden alle Möglichkeiten der Versorgung und des Zuverdienstes ausgelotet, um die Not zu lindern. 1948 gab
es eine Heilkräutersammlung in ganz Sachsen-Anhalt, bei uns war der Initiator
Kaufmann Alfred Suckow aus Lüttchenseyda, auch ein „Flüchtling“. Der Rat des
Landkreises Schweinitz schrieb: „Zu dieser Sammelaktion müssen alle Alten nicht
Arbeitseinsatzfähigen gewonnen werden. Insbesondere soll den
Unterstützungsempfängern Gelegenheit gegeben werden, durch Sammeln von Kräutern
ihre finanzielle Lage zu verbessern.“ In der Heide wurde Brennholz und Streu
für die Tiere gesammelt, neben Beeren, Pilzen und allem, was es an Essbarem
dort zu finden gab.
Noch
in den fünfziger Jahren gab es große Engpässe in der Versorgung. So wurde zum
Beispiel 1954 durch die „Volkssolidarität“ und den „Rat der Stadt“ eine
Bürgeraktion für Bedürftige initiiert: über eine Liste konnte man entweder Geld
geben oder ein Päckchen packen, für Familien in der Stadt, die wenig oder fast
nichts hatten, zu Weihnachten.
Das Lager in der Jüterboger Straße, am
Schützenhaus, war Hauptwohnort der Umsiedler aus dem Osten. Jeder
Quadratzentimeter wurde zum Wohnen genutzt. Sogar Eisenbahnwohnwagen dienten
als Unterkunft. In den Stadtakten kann man lesen: „Zwei Wagen sind zu einer
Wohnung vereinigt worden, während der dritte als Stallung benutzt wird. Bereits
im Zeitpunkt des Zusammenbauens der Wagen befanden sich diese in einem derart
verbrauchten Zustande...“
Im
Oktober 1947 heißt es: „Der frühere Gendemarie-Wachtmeister Wilhelm
Jendrosch bewohnt seit 15. September des Jahres zwei Räume (Stube und Küche) in
einer der beiden Wohnbaracken in der Jüterbogerstrasse, die die Stadtgemeinde vom
Kreis erworben hat. In den Baracken sind eine Anzahl Flüchtlinge untergebracht.
Jendrosch obliegt es, die Ordnung sowohl in den Baracken, wie auf dem Gelände
sicherzustellen und sich um die übrigen Liegenschaften (Speicher-Baracke mit
Küche, Baracke, in der sich die Waschanstalt und die Entlausungsanstalt
befindet, und die beiden noch abzutragenden Baracken) zu kümmern.“
Das
Lager wird im Januar 1950 so beschrieben: 1 Wohnbaracke an der Straße, 1
Sanitätsbaracke, 1 Küchenbaracke, 1 Wirtschaftsbaracke (alles Holzbauten);
Entlausung (drei massive Wände), Aborte (Holz), Stallung (massive Wände).
Im
Januar 1949 heißt es: „Da durch die wohl auf Jahre hinaus noch anhaltende
Wohnungsnot auch die o.a. Baracken als Unterkünfte zum dauernden Aufenthalt von
Menschen dienen werden, müssen Rauchabzugsrohre der Baracken nach der gültigen
Bauordnung für das platte Land der Provinz Sachsen durch Schornsteine aus
feuerbeständigem Mauerwerk ersetzt werden.“
Zu einem Zwischenfall kam es im Sommer 1947:
„Ferndurchsage
7.6.1947, 12.15 Uhr
An
den Bürgermeister in Seyda.
Sobald sich bei Ihnen russische Offiziere einer außer dem Kreise liegenden Einheit vorstellen, um nunmehr gewaltsam die Baracken des jetzigen Quarantänelagers abbrechen zu wollen, weise ich Sie darauf hin, sich diesem Abbruch in jeder Art und Weise zu widersetzen. Der Abbruch darf nur dann erfolgen, wenn ein Vertreter der Herzberger Kreiskommandantur oder eine schriftliche Anweisung an Sie ergangen ist. Der Kreisrat, Vermögensverwaltung i.A. gez. Krüger.“
Am 12.6.1947 schreibt der Bürgermeister an
den Landrat, persönlich:
„Quarantänelager
Seyda
Mitte
voriger Woche sprachen bei mir ein russischer Oberst und ein Major wegen des
Abbruchs der Baracken vom Quarantänelager vor. Da mir von einem Abbruch der
Baracken bis dahin nichts bekannt war, versuchte ich in Erfahrung zu bringen,
welche Stelle eine derartige Entscheidung getroffen habe und in wessen Auftrage
der russische Oberst und der Major nachhier kamen. Die russischen Offiziere
ließen sich aber auf meine Fragen nicht ein, erklärten vielmehr, dass ich unter
allen Umständen Arbeitskräfte bereitstellen müsste, um die Baracken zerlegen zu
lassen. Der Forderung auf Bereitstellung von Arbeitskräften konnte ich indes
nicht nachkommen; ich verwies darauf, dass die dafür in Frage kommenden
Arbeitskräfte im Wald, im Sägewerk
und in Jessen in Beschäftigung stünden. Daraufhin nötigte mich der Major mit
zum Dampfsägewerk Seyda, wo er mit dem Betriebsleiter über den Abbruch und die
dadurch entstehenden Kosten verhandelte. Vorher hatte der Major das Lager
besichtigt. Der russische Major und der Betriebsleiter des Dampfsägewerks Seyda
legten das Nähere über den Abbruch der Baracken und die dadurch entstehenden
Kosten schriftlich fest. Das Geld für den Abbruch hinterlegte der Major bei dem
Leiter des Sägewerks. Am Abend des gleichen Tages – es war gegen 18 ½ Uhr –
sucht mich der Major abermals eilig auf und verlangte die Abstempelung dieser
Vereinbarung sowie meine Namensunterschrift. Meine Einwendungen, dass ich mit
der Angelegenheit nicht zu tun hätte, erkannte der Major nicht an, sondern
bestand unter Druck darauf, das Schriftstück zu unterstempeln... Ich
muss Sie, Herr Landrat, dringend bitten, mich in Schutz zu nehmen und die
Angelegenheit beim Sozialministerium entsprechend aufzuklären.“
„Ferndurchsage
18.6.1947, 7.45 Uhr
Der
Abbruch der Baracken des Quarantänelagers Seyda ist nicht mehr zu vermeiden. Es
besteht eine Anordnung von Merseburg, dass dem Drängen der russischen Einheit nachgegeben
werden muss. Ich bitte Sie, hiervon Kenntnis zu nehmen. Der Kreisrat,
Vermögensverwaltung i.A. gez. Krüger“
„27.6.1947
Kreisrat
an Rat der Stadt
„Der
Oberstkommandierende der Provinz Sachsen-Anhalt, General Schlachtschenko, hat einen
Befehl den Kreiskommandanten von Schweinitz gegeben, nach welchem jede
Veränderung (Demontage oder Abtragen von Baracken) im Lager zu unterbleiben
hat. Eventuell begonnene Abtragungen sind sofort zu unterbrechen. Alle
eventuellen Zweifel sind demnach nur noch mit dem Oberkommandierenden der
Provinz Sachsen-Anhalt zu klären.“
(Aus
der Akte 30/498 Stadtarchiv Seyda.)
Schon 1949 wurden wieder bewaffnete deutsche
Einheiten in Ost und West gebildet. 1956 sollte es zur Gründung der „Nationalen
Volksarmee“ kommen. Auch der Seydaer Bürgermeister hatte einen
Informationsbericht an den Rat des Landkreises Jessen zu geben: (28. Januar
1956:) „Durchgehende Ablehnung ist bei den Frauen zu hören, ganz besonders
bei Kriegswitwen und solchen Frauen, die Söhne im letzten Krieg verloren haben.
Im Jahre 1945 schwor das deutsche Volk, nie wieder eine Waffe in die Hand zu
nehmen. Daraus sahen fasst alle, dass wir Deutschen aus der Vergangenheit
gelernt haben und Militär und Krieg verdammen. Bedauerlicher Weise hat das deutsche
Volk seine Chance nicht genutzt, sich von allem fernzuhalten..., (es)
erscheinen die ganzen militärischen Maßnahmen den meisten Menschen zu sehr im
Aspekt eines kommenden Krieges. Wir haben im Obenstehenden hier nur die
Erforschung der Meinung sehr breiter Kreise der Bevölkerung wiedergegeben,
woraus hervor geht, dass eine allgemeine Friedensliebe vorherrscht und eine
große Abneigung gegen Soldatentum im breitesten Sinne zu verzeichnen ist. Eine
andere Frage ist es jetzt, die Notwendigkeit der Nationalen Streitkräfte der
DDR zu popularisieren. Hier werden die übrigen Aufklärungsgruppen der
Nationalen Front nicht in der Lage sein, die Menschen zu überzeugen.“
(4. Februar 1956:) „Die Stimmungen unter
der Bevölkerung über die Aufstellung und Bildung von Nationalen Streitkräften
in der DDR sind weiterhin zum größten Teil als negativ zu bezeichnen. Einige
angesprochene Personen erklärten, uns hat man 1945 gefragt, warum habt ihr ein
Gewehr in die Hand genommen und Soldat gespielt? Hättet ihr dieses nicht getan,
dann wäre kein Krieg möglich gewesen. Unter den Jugendlichen wird die Meinung
vertreten, wer Lust hat, Soldat zu spielen, der kann ja gehen. Es handelt sich
bei diesen Angaben wohlgemerkt nur um tatsächlich aufgetretene Tendenzen, die
wir wiedergeben. Bedauerlicher Weise hat sich bis heute der Mangel an
Glühbirnen noch nicht geändert, so dass die Bevölkerung hierüber Klage
führt...“
(Aus
der Akte 30/498 Stadtarchiv Seyda.)
Zu dieser Zeit gab es die Baracken des
„Umsiedlerlagers“ in der Jüterboger Straße noch. Heute ist davon noch eine zu
sehen, die vom Schützenverein Seyda genutzt wird.
Registriert in Seyda wurden – auf
Formblättern, mit Bleistift - am 21. Juli 1945 11 ankommende Erwachsene und 16
Kinder, untergebracht zunächst in der Arbeiterkolonie Seyda, aus den Sudeten
(Aussig, Bilin, Bodenbach, Niederkoblitz, Neulitschen, Maria-Ratschütz). Am 23.
Juli kamen aus Freystatt Kreis Sprottau, Niederschlesien, 5 Personen, sie
zogen, wie die meisten folgenden, in das ehemalige Reichsarbeitsdienstlager in
der Jüterboger Straße ein. Am 26. Juli kamen 3 Erwachsene und 2 Kinder aus
Trebnitz in Schlesien. Am 6. August eine einzelne Frau aus Jägerndorf in den
Sudeten. Am 11. August wurden einhundert Menschen registriert, darunter 38
Kinder, die meisten aus den Sudeten und aus Schlesien. So füllte sich das
Lager, manche starben auch dort, viele zogen weiter; und noch mehr waren wohl
„privat“ in den Häusern der Stadt untergebracht.
Ein
Beispiel von vielen: Mutter Rothbart in der Triftstraße 14 nahm eine Mutter mit
9 Kindern auf. Man stelle sich das vor: Plötzlich muss man Zimmer der eigenen
Wohnung räumen, und es ziehen dort bislang fremde Menschen ein, Küche und
Waschgelegenheit werden gemeinsam genutzt oder müssen provisorisch geschaffen
werden. So geschah es in den meisten Häusern.
Oftmals
hatten die Angekommenen eine lange Odyssee hinter sich: schon im Januar
„herausgeschmissen“, aus Schlesien über Tschechien bis in unser Gebiet,
manchmal noch einmal zurück und wieder vertrieben.
Die Liste der Registrierungen im Lager geht
bis zum 28.2.1946; vom 29. Dezember 1945 an kamen Umsiedler aus einem Lager in
Wittenberg nach Seyda. Aber noch 1948 wurden Menschen aus Ostpreußen (eine
Mutter mit 7 Kindern, 2 weitere waren auf der Flucht umgekommen) im Lager
aufgenommen.
In den Kirchenbüchern des Pfarrarchives und
jener Liste zur Registrierung sind die Herkunftsorte vermerkt, daraus ist diese
(sicher unvollständige) Aufstellung entstanden.
In
Klammern sind die Orte vermerkt, aus denen auch Menschen kamen, die aber nicht in
diesen Quellen enthalten sind.
Niederschlesien:
Barschdorf
Birkkretscham
Bunzlau
Burau
Kreis Sprottau
Breslau
Dambritsch
Kreis Neumarkt
Dammern
Deutsch-Wehr
Drachenberg
Dürrkunzendorf
Eckersdorf
Eichdorf
bei Hochrode
Falkenhain
Frankenstein
Frauenwaldau
Freiburg
Freiwalde/Oder
Freystadt
Kreis Sprottau
Georgental
Kreis Goldberg/Schlesien
Giersdorf
Kreis Löwenberg
Giersdorf
Kreis. Giestkau „(?)“ (bei Hirschberg?)
Glogau
Groß
Hammer Kreis Trebnitz
Groß
Kotzenau
Großmärtinau
Kreis Trebnitz
Großzauche
Kreis Trebnitz
Grünberg
Heidewilxen
Heinzendorf
Hermsdorf
Höfel
Kreis Löwenberg
Juppendorf
Kr. Guhrau
Kaiserswaldau
Ortsteil Rudchen
Kipper
bei Sagan
Klein
Hehnsdorf
Klein
Räudchen Kreis Guhrau
Klein-Wilkawe,
jetzt Friedensruh
Konradswaldau
Kortopp
Kreis Grünberg
Kottwitz
Kunerin
Kreis Strehlen
Lättnitz
Kreis Grünberg
Lättwitz
Kreis Grünberg
Langenau
Kreis Löwenberg
Langhermsdorf
Lauban
Laubendorf
Kreis Militsch
Lauterbach
Leutsch
Liegnitz
Lindau
Lissen
Kreis Neumarkt
Mariendorf
Kreis Groß Wartenberg
Maserwitz
Meseritz
Netschütz
Kreis Freystadt
Neubatzdorf
Kreis Habelschwerdt
Neudorf
Kreis Lüben
Niederlesten
Kreis Guhrau
Niedersalzbrunn
Ober-Stradam
Kreis Groß-Wartenberg
Obersiegersdorf
Parschdorf
bei Liegnitz
(Perschitz)
Petersdorf
Plohe
Prieswitz
Kreis Sprottau
Primkenau
Kreis Sprottau
Redendorf
Reichenau
Kreis Zittau
Rodetal
Kreis Glogau
Rosenig
Kreis Liegnitz
Rosenthal
bei Breslau
Saabe
Kreis Namslau
Sagan
Scheibsdorf
Schloin
Kreis Grünberg
Schmolz
Kreis Breslau
Seitendorf
Kr. Waldenburg
Spalitz
Kreis Oels
Sprottau
Steinersdorf
Kreis Namslau
Sterzendorf
Strehlitz
Kreis Oels
Tiefensee
Kreis Strehlen
Tschiebsdorf
Waren
Welkersdorf
Kreis Löwenberg
Zedlitz
Kreis Breslau
Zerbau
Kreis Glogau
Zerben
Kreis Glogau
Oberschlesien:
Beuthen
Birkental
Groß
Strehlitz
Klingebeutel
Kreis Ratibor
Kunzendorf/Oberschlesien
Leobschütz
Neiße-Neuland
Wittgenau
Kreis Grünberg/Oberschlesien
Sudeten:
(Asch)
Aussig
Bilin
Blauendorf
Böhmisch-Leipa
Bodenbach
Dittersbach
Dumbitz-Neudanbitz
Kreis Rumburg
Freudental
Großborowitz
Kreis Hohenelbe
Hilgersdorf
Jägerndorf
und Komrise bei Jägerndorf
Kesselsdorf/Ostmähren
Ketzelsdorf
oder Kesselsdorf bei Zwittau
Limbach/Böhmen
Lobenstein
Mährisch
Ostrau
Maria-Ratschütz
Marschendorf
IV Kreis Trautenau
Neulitschen
Niederkoblitz
Niederottendorf
Oberadersbach
Oberhohenelbe
Kreis Hohenelbe
Plauenhof
Podiwin
Kreis Leitmeritz
Römerstadt
Sagan/Sudeten
Schluckenau
Sucha
Teplitz-Schönau
Trappau
Trauschkowitz
bei Komotau
Wedlitz
Wegstädtl
Weißkirchlitz
bei Tepl.-Schönau
Welsotta
bei Lobositz
Wesseln
Kreis Aussig
Wscherau
bei Pilsen
Zuckmantel/Freiwaldau bei Tepl.-Schönau
Ostpreußen:
Ahrenswalde
Antoniew
Bartenhof
Baydritten
Kreis Königsberg
Behlaken
(Bilaken)
Bekarten
Kreis Preußisch Eylau
Birkbruch
Kreis Friedeberg
Birstonichken
Kreis Tilsit
Brendleben
Carlsdorf
Kreis Insterburg
Elbing
Fischhausen
German/Samland
Groß-Sudnicken/Samland
Grünhof
Hubnicken
Kreis Fischhausen/Samland
Insterburg
Klein
Dirschheim Kreis Samland
Klein
Junkeln Kreis Angerburg
Kleindürschheim
Königsberg
Kogen Kreis Königsberg
Kumenen
Labiau
Linken
Kreis Königsberg
Lubishof
Kreis Preußisch Eylau
Memel
Memento
Kreis Preußisch-Holland
Mosecken
(Neukuhren)
Paballen
Pekallnischken
Kreis Gumbinnen
Perwinnen
Perwissau/Memelland,
Pitzkendorf
Kreis Marienburg
Podewitten
Preußisch
Eylau
Rastenburg
Reggen
Kreis Westernburg
Rositen
Stum
Thomareinen
bei Allenstein
Tulinsterburg
Wanghausen
Wilkau
Westpreußen:
Dirschau
Forsthausen
Kreis Straßburg
Graudenz
Leinefelde
Liebenau
Kreis Wongrowitz
Nakel
Rheinsberg
Pommern:
Alt-Damerow
Barzwitz
Damerko
Kr. Bütow
Elisabethtal
Kr. Bütow
Greifenberg
bei Stettin
Groß
Garde (Hinterpommern)
Groß-Pomirke
Kr. Bütow
Großenhagen
Kreis Naugard
Kalis
Kleingade
Klein
Ristow Kreis Schlawe
Morgenstern
Kr. Bütow
Platenheim
Kr. Bütow
Rügenwalde
Stettin
Wittstock
Kreis Stolp
Posen:
Arnswalde
Kr. Wirsitz
Elsenau
Kreis Eichenbrück
Gollin
Kreis Deutsch Krone
Kempen/Posen
Kolmar
Kreuz
Latschin
Langolin
Leisen
Kreis Lissa
Märkisch
Friedland
Moorschütz
Kreis Kempen
Pottlitz
Kreis Flatow
Rotschin
Strzpzemin
Kreis Birnbaum
Brandenburg (jenseits der Oder)
Christophswalde
bei Landsberg
(Kunzendorf bei Sorau)
Landsberg
Morsan
Kreis Züllichau
Mosau
Kreis Züllichau
Rentschen
Kreis Züllichau
Soldin
Sorau
Neumark:
Bealien
Groß
Latzkow
Hescht
Kreis Friedeberg
Hohenwutzen
Mohrin
Neudamm
Neu-Lipke
Riegersdorf
Danzig:
Danzig
Einlage
Konitz
Neufahrwasser
Oliva
bei Danzig
Schuddelkau
Tiegendorf
(Obertiegendorf)
Tralau
Zoppot
bei Danzig
Polen:
Belsien
Kreis Scharnikau (Warthegau)
Blota
Krupinskie
Buszcanowice
Kreis Lask
Faustinow
bei Lodz
Filehne
(Warthe)
Gnasdorf
Golgow
Huta
bei Lodz
Jagenau
Kreis Wreschen (Warthegau)
Jasinek
Kalisch
(Warthegau)
Kamien
(Warthegau)
Kamin
bei Lodz
Kamin
Kreis Belchatow
Karolin
Kleszczow
bei Belchatow
Klestau
(Warthegau)
Klesterem
Kuzow
Kreis Lask
Langoslin
Marianowka
Neu-Wola
(Umsiedlerlager für Bessarabiendeutsche)
Petrikau
Pozdzenice Kreis
Lask
Radom
Ratschin
(Warthegau)
Rogowic
Kreis Lask
Stawek
Landkreis Dietfurt/Wartheland
Stronie
Slaskie
Teofilow
bei Lodz
Teresin
Tuchingen
Warschau
Baltikum:
Bijoten
Riga
Rumänien:
Bustenie
Lichtenburg/Bukowina
Kronstadt/Siebenbürgen
Russland
Glücksthal,
Odessa-Gebiet
Dombrowene
Kreis Rowne
Klepatschow
Maraslienfeld,
Bessarabien
Ukraine:
Alexandrowka/Wolhynien
Alt-Lubomirka
Antonjew/Wolhynien
Johannesfeld
Konstantinow
Luzk/Wolhynien
(Rovno)
Nicht zugeordnet:
Alt-Lizke
Beyersdorf
Klein-Sturndorf
Lipa
Rauno
Richardswalde
Wie viele Schicksale stehen hinter diesen
Namen!
Die Vorbereitung des schrecklichen Krieges begann
intensiv in den 30iger Jahren. Unsere Heide wurde zum Militärobjekt, ein großer
Militärflugplatz bei Jüterbog wurde gebaut. Dörfer verschwanden vom Erdboden:
Die Menschen wurden umgesiedelt. Ein solches Dorf war Felgentreu, von dort kam
eine Familie nach Gentha.
Der Krieg brachte großes Leid über die
Völker, insbesondere auch im Osten, über Russen, Polen, Tschechen, Slowaken,
Rumänen, Balten. Die Liste der Ermordeten ist lang (Sowjetunion: 22
Millionen!), auch der dem Erdboden gleichgemachten Orte: „Allein in Weißrußland wurden von 9.200
Dörfern 4.885 während des Krieges verbrannt, 627 von ihnen mitsamt der
Bevölkerung, welche man vorher in einer Scheune, einer Kirche o. ä.
zusammengetrieben hatte.“ (Nolte, Hans-Heinrich: Kleine Geschichte
Rußlands, S. 256).
Im Jahre 1995, 50 Jahre nach Kriegsende, gab
es in der Seydaer Kirche eine Deutsch-Polnische Andacht. Im Rahmen des
Deutsch-Polnischen Jugendaustausches waren Jugendliche aus Zary (früher Sorau)
nach Seyda gekommen. Gemeinsam wurde für den Frieden gebetet und gedankt für
die Zeit des Friedens. Das Besondere war, dass evangelische und katholische
Christen verschiedenen Alters beieinander waren,
Deutsche
und Polen, die zum Teil in der gleichen Gegend, im gleichen Ort aufgewachsen
waren. Eine solche Andacht gab es von da an jedes Jahr. Auch am Volkstrauertag
und mit einer Tafel an der Friedhofshalle wird in Seyda an die Menschen
gedacht, die damals ihre Heimat verloren.
Es bleibt eine wichtige Aufgabe, den Frieden
zwischen den Völkern zu suchen.
***
Jesus Christus spricht:
„Selig sind, die da Leid tragen,
denn sie sollen getröstet werden.
Selig sind die Sanftmütigen,
denn sie werden das Erdreich besitzen.
Selig sind, die Frieden stiften,
denn sie werden Gottes Kinder heißen.“
„Meinen Frieden gebe ich Euch.
Nicht gebe ich Euch, wie die Welt gibt.
Euer Herz erschrecke nicht und fürchte sich nicht!“
(Schriftlesung
beim jährlichen Gedenken der Opfer von Krieg und Gewaltherrschaft zum
Volkstrauertag in Seyda.)
***
Vielen Dank der Stadtverwaltung Jessen,
Außenstelle Seyda, und dem Seydaer Heimatverein für die Erlaubnis, in
Unterlagen zu diesem Thema Einsicht zu nehmen. Besonderen Dank auch Frau Kosa
für ihren Erlebnisbericht.
Die Karte ist aus dem Schulatlas meiner Großmutter: Diercke-Schulatlas für höhere Lehranstalten, Grosze Ausgabe, 67. Auflage, Braunschweig 1928, Seite 154.
Seyda,
12. November 2006.