Über Menschen aus Seyda und Umgebung, die auswanderten; und über die Verbindungen nach Amerika über die Zeiten.
Für
den Auswanderer aus Seyda 2007
Maik
Witkowski
mit
guten Wünschen
Vertraut
den neuen Wegen,
auf
die der Herr uns weist,
weil
Leben heißt: sich regen,
weil
Leben wandern heißt.
Seit
leuchtend Gottes Bogen
am
hohen Himmel stand,
sind
Menschen ausgezogen
in
das gelobte Land.
Vertraut
den neuen Wegen,
und
wandert in die Zeit!
Gott
will, dass ihr ein Segen
für
seine Erde seid.
Der
uns in frühen Zeiten
das
Leben eingehaucht,
der
wird uns dahin leiten,
wo
er uns will und braucht.
Vertraut
den neuen Wegen,
auf
die uns Gott gesandt!
Er
selbst kommt uns entgegen.
Die
Zukunft ist sein Land.
Wer
aufbricht, der kann hoffen
in
Zeit und Ewigkeit.
Die
Tore stehen offen.
Das
Land ist hell und weit.
Klaus Peter Hertzsch 1989, Evangelisches Gesangbuch Nr. 395.
Der Wunsch, ganz neu zu beginnen und neues
Land zu entdecken, steckt in jedem Menschen. Auch unsere Vorfahren kamen aus
der Ferne: die Flamen besiedelten um 1150 den Fläming, die Sachsen kamen über
die Elbe: auf der Suche nach neuem, guten Land und einem Auskommen.
Es ist und bleibt faszinierend: Das Alte
zurücklassen, mit eigener Kraft Neues entdecken und bauen.
Freilich
verlässt keiner die Heimat ganz freiwillig. Die Gründe, sie zu verlassen, waren
und sind vielfältig. Und wenn es zwischen 1840 und 1895 auch 5,5 Millionen
Deutsche waren, die in die USA einwanderten, so waren doch aus unserem Gebiet
nur relativ wenige dabei. Einzelne wagten den Schritt, alles zurückzulassen.
Die Zeiten liegen lange zurück und reichen
über den Erfahrungshorizont hinaus, der über das Erzählen von den Eltern und
Großeltern transportiert wird. Aus dem 19. Jahrhundert wissen wir nur von
einzelnen Bauernsöhnen, die ihr Glück in der Ferne suchten. Bei dem
Kinderreichtum war klar, dass nur einer den Hof erben konnte, und die anderen
zusehen mussten, wo sie bleiben. Da war es verlockend, eben doch zu größerem
Besitz zu kommen – wenn auch in weiter Ferne.
Ein US-amerikanisches Gesetz von 1862 machte es möglich, für eine Gebühr von 10 Dollar 800 acres (ca. 360 ha) Land als Eigentum zu erwerben, wenn man es fünf Jahre bebaute und ein Grundstück darauf errichtete. 360 Hektar – das war eine traumhaft große Wirtschaft, und so machte sich mancher auf den Weg. Die Reedereien, die zunächst per Segelschiff, ab 1880 überwiegend mit Dampfschiffen fuhren, warben für billige Überfahrten in den lokalen Zeitungen. Etwa zwei Jahresverdienste als Knecht musste man schon aufbringen für eine Fahrkarte: Aber möglich war es.
Einer hat mir berichtet, dass seine Uroma
schon – vor dem 1. Weltkrieg – die Schiffskarten für die Überfahrt bezahlt
hatte, ihr Mann aber (der Urgroßvater) war dagegen und verbrannte sie, weil er
nicht weg wollte. Später ging es dann nicht mehr, und das Leben lang hat sie
ihm das vorgehalten.
So ein Schritt war nicht einfach! Es war eben
nicht so leicht möglich, zurückzukehren. Man kannte die andere Seite nur vom
Erzählen, und gefährlich war die Überfahrt auch. Jeder 50. überlebte die
Schiffsfahrt 3. Klasse nach Amerika nicht. Sie dauerte um 1880 fünf bis acht
Wochen, auf engstem Raum war man beieinander; die Seekrankheit und andere
Infektionen taten ihr übriges; unter Deck war es dunkel; nur durch einen Spalt
konnte man vielleicht in die 1. Klasse herüberluken, in der es fröhlich zu ging
bei bestem Essen und Unterhaltungsmusik, von dem die meisten Auswanderer bei
der Überfahrt nur träumen konnten. Ihre Unterkunft waren umgebaute Lagerräume,
die auf der Fahrt von Amerika viele Waren nach Europa brachten, und auf der
Rückfahrt mit Menschen regelrecht „gefüllt“ wurden.
Man
war mit Leuten eng beieinander, die alles auf eine Karte setzten; auch mit
solchen, die einiges auf dem Kerbholz hatten und deshalb der Heimat den Rücken
kehrten; und man war vielen Beratern ausgesetzt, denen nicht immer zu trauen
war.
Die
Sprache musste mühsam gelernt werden – und das in Zeiten, wo es in der
Landschule nicht üblich war, in Englisch unterrichtet zu werden.
Hatte man die Strapazen der Überfahrt
glücklich überstanden, erwartete einen eine strenge Einwanderungskontrolle, die
mit den Jahren immer rigider wurde. Am Ende des 19. Jahrhunderts wurde
beispielsweise auf Elise Island in New York von einem Officer in zwei Minuten
entschieden, ob man nun in das Land hineinkam, oder ob man etwa wieder umkehren
musste. Da wurde gefragt nach der Gesundheit und der Leistungskraft, nach dem
Beruf und dem Vorhaben, nach der politischen Einstellung und moralischen
Grundsätzen („Sind Sie Polygamist?“ – „Waren Sie im Gefängnis?“), schließlich
nach dem Vermögen, was man mitbrachte. Doch kamen im 19. Jahrhundert die
meisten durch, nur etwas 2% wurden um 1900 tatsächlich zurückgeschickt, aber es
war möglich.
Ab
1901 gab es eine Quotenregelung, die sich allerdings nach der bisherigen
Einwanderungsmenschenmenge richtete und daher die Deutschen bevorzugte, die in
den Jahrzehnten vorher den größten Teil gestellt hatten. So war es als
Deutscher fast immer möglich, eine Einreise zu bekommen. Die Gesundheit war da
schon ein größeres Hindernis. Von einem Seydschen wird erzählt, dass er mit
seinem behinderten Sohn lange Fahrradfahren und ähnliches übte, um ihn durch
diese Kontrolle zu bringen, was ihm dann auch gelang.
Der Beginn in der Neuen Welt war schwer und
gelang nicht immer. Die alten Beziehungen, die einen hier fast unsichtbar
tragen: Dass man Bekanntschaft und Familie hat – die sind in der Ferne nicht
da. Es kommt darauf an, was man kann, und wie man Kontakte knüpfen kann. Ganz
sicherlich ist auch ein großes Maß Glück dabei, und sehr viel saure Arbeit. An
der Ostküste hatte sich schon seit einigen Jahrhunderten eine amerikanische
Gesellschaft etabliert, in der viele ihr Glück versuchten.
Die
Urgroßmutter einer unserer amerikanischen Freunde heute war bei der Überfahrt
14 Jahre alt und kam aus der Slowakei
nach Amerika, gemeinsam mit ihrer 16 Jahre alten Schwester. Sie heiratete und
bekam 10 Kinder, der Mann starb. Sie gründete eine Wäscherei und „machte“ so
viel Geld, dass sie alle zehn Kinder auf Schulen und in höhere Ausbildung
schicken konnte. Solche sagenhaften Geschichten kann man viele in Amerika hören
und lesen. Aber es sind die Erfolgreichen, von denen berichtet wird. Die
anderen, gescheiterten, sind oft vergessen. Viele Träume platzten durch den
Bürgerkrieg: Die Verlockung von 100 Dollar Sold war groß, und viele unerfahrene
Einwanderer ließen ihr Leben beispielsweise auf den Schlachtfeldern von
Gettysburg: keiner in der Heimat erfuhr von ihrem Schicksal.
Wer
sich jedoch einmal entschlossen hatte, die Heimat aufzugeben, war oft auch zu
größter Hingabe und Anstrengung bereit. So waren gerade auch im Bürgerkrieg
1861 bis 1863 die „damn Dutch“ berüchtigt, jene Regimenter, die überwiegend aus
Deutschen (nicht aus Holländern) bestanden, die kaum Englisch sprachen, aber
äußerst verbittert kämpften.
Die
kriegerischen Auseinandersetzungen mit den Indianern nahmen nach 1850 sehr ab,
aber die Rechtlosigkeit an der „Frontlinie“, also an der Grenze zwischen dem
bereits in die Staaten eingegliederten Land und dem neu zu besiedelnden, war
natürlich da und kostete – neben den harten wirtschaftlichen und klimatischen
Verhältnissen – viele Menschenleben.
Die
Deutschen, die im 19. Jahrhundert nach Amerika kamen, besiedelten insbesondere
den Norden und die Mitte des Landes: Fast 80% der Bevölkerung dieser Gebiete
geben deutsche Vorfahren an. Das lag daran, dass die neuen Einwanderer nicht
mit der Sklavenarbeit im Süden konkurrieren wollten und auch allermeist nicht
selbst „Sklavenhalter“ werden konnten oder wollten, und sich deshalb vorwiegend
im Norden niederließen. Die meisten, gerade auch aus ländlicher Gegend, wollten
natürlich Land und Scholle besitzen und versuchten sich mit den lukrativen
Angeboten, von denen schon berichtet worden ist.
Von 3 Bauernsöhnen der Familie Letz waren
zwei in Amerika erfolgreich. Einer zog den anderen nach, und um 1910 kamen sie
auch einmal zurück und erzählten von ihrem Ergehen, etwa davon, dass sie nun
mehrere tausend Rinder ihr eigen nannten. Das war für die Hiergebliebenen
natürlich schlicht unglaublich, die „nur“ ein paar Dutzend im Stall hatten.
Baltimore war der Hafen, in dem die meisten
Deutschen im 19. Jahrhundert ankamen. Wenn die Schiffe in der Cheseapeake-Bay
einliefen, konnte man schon von Ferne – nach dem Passieren des Fort Henry, bei
dem im Unabhängigkeitskrieg erstmals die amerikanische Flagge gezeigt und
verteidigt wurde – Hochhäuser und große Hafenanlagen sehen, eine prosperierende
Stadt. Schon von Ferne grüßten auch die Kirchtürme, und zwar aller Konfessionen,
auch goldene „Zwiebel-Türme“ der Russisch-Orthodoxen Kirche waren dabei. Schon
auf dem Schiff mussten die Einwanderer Schiffskarten ausfüllen, in denen ihre
Herkunft, das Alter, der Beruf und der Wunsch des Zielortes angegeben war, auch
ihre Verbindung zu anderen Mitreisenden (etwa: Mann, Tochter usw.). Alle diese
Schiffskarten kann man sich heute im Historischen Museum in Baltimore
anschauen. Sie sind auch – leider nicht digital – in 67 dicken roten Bänden
registriert, nach Schiffen geordnet. Dort hat jeder Einwanderer einen
zehnstelligen Zahlen- und Buchstaben-Code, der eben genau über Herkunftsort und
–land, Alter, Beruf und Zielort informiert. Es ist eine schwierige Arbeit, aus
all den Bänden die Codes von Seyda und den umliegenden Orten herauszufinden,
bei 5,5 Millionen Einträgen, zumal es die alphabetischen Register nicht streng
geordnet, sondern nur einzeln zusammengesetzt in jedem Band gibt. Die
vorhandenen Computersuchsysteme sind auf Namenssuchen, aber nicht auf Ortssuche
eingestellt, so dass es ein großes Glück ist, wenn man jemanden aus unseren
Orten findet. Immerhin fällt auf, dass aus dem Nachbarort Zallmsdorf etliche
ausgewandert sind, vermutlich hat einer den anderen nachgeholt; und dass
natürlich „Seyda“ oft „Seida“ geschrieben ist, was aber meist einfach auch das
„Sayda“ im Erzgebirge meinen kann, was sich herausstellt, wenn man dann zuhause
die Daten mit den alten Kirchenbüchern vergleicht.
Es ist überwältigend, die große Zahl der
Namen und Schiffskarten zu sehen: So viel Hoffnung steckt dahinter, Menschen,
die den festen Glauben haben, eine bessere Zukunft zu finden.
In Baltimore angekommen findet man noch heute
verschiedene Stadtviertel: ein italienisches, wo man sich wie in Rom oder
Florenz fühlt; ein jüdisches mit Synagoge und jüdischem Leben; und auch die
Deutschen hatten ihre Orte, die Zionskirche dort hat noch immer einen deutschen
Pastor und auch deutschsprachige Gottesdienste und Heimatfeste.
Das
Hauptquartier der Evangelisch-Lutherischen Kirche in Amerika befindet sich in
Baltimore: auch dies lässt auf die sehr zahlreiche deutsche „Urbevölkerung“
schließen.
Sehr
schnell jedoch ließen die Einwohner ihre alte Sprache zurück. Es galt, nach
vorn zu schauen und alles zurückzulassen, was das wirtschaftliche Vorankommen
hindern könnte: Und so war es zuerst die Sprache, die die Kinder lernen
mussten, und es wurde so viel wie möglich und schließlich ausschließlich
Englisch gesprochen, um zurecht zu kommen und anerkannt zu werden in der neuen
Gesellschaft. Auch die Kirchen passten sich dem an, und es gab schon sehr bald
(meist zu Beginn des 20. Jahrhunderts) auch dort die Umstellung auf die
englische Sprache. Viele Pastoren kamen aus Deutschland, habe ich doch selbst
unter den Verwandten meiner Vorfahren zwei Brüder, die das Angebot der
amerikanischen Kirche nutzten und ihr Theologiestudium von dieser bezahlen
ließen. Dafür mussten sie sich verpflichten, für fünf Jahre in die USA zu gehen
und dort Dienst zu tun. Nun, die amerikanische Kirchenleitung wusste, dass ein
junger Pastor normalerweise nicht allein bleibt, und so kam es meistens, dass
sie heirateten – und blieben.
Einer
der beiden war Carl Burgdorf, sein Ölbild ist heute in der Jerusalem Lutheran
Church in Baltimore zu sehen, die Nachbarkirche der Epiphany Lutheran Church,
zu der wir seit 2004 Kontakt haben, und nun auch personell mit ihr verbunden
(ein Pfarrerehepaar ist bei beiden Kirchen angestellt, er in Epiphany, sie in
Jerusalem).
Dieser
Carl Burgdorf kam also mit seiner amerikanischen Braut nach Hause nach
Fürstenwalde bei Berlin, und seine Eltern waren skeptisch, wen er sich da wohl
geheiratet hätte in der Ferne. Sein Vater war der Begründer der
Samariteranstalten in Fürstenwalde (Mitarbeiter des Diest-Hofes kamen von
dort), und er hatte gerade große Geldprobleme, denn es war mitten in der
Inflationszeit. Die amerikanische Braut aber brachte einen Koffer voll harter
Währung mit, und mit diesem Geld baute Vater Burgdorf dann die Kirche der
Samariteranstalten, die heute noch steht, und konnte die Einrichtung
fortführen. Also war nicht nur der Familienfrieden gerettet; eine von vielen
segensreichen Verbindungen zwischen Deutschland und Amerika.
Aus den zwanziger Jahren sind aus Seyda als
Auswanderer Franz Ziehe und Hulda Dolezahl bekannt.
Franz
Ziehe war einer von vier Seydaer Männern, die in den Förstermord in der Heide
1921 verwickelt waren. Dort wurde im Morgengrauen des 9. Mai der Forstgehilfe
Sterz erschossen, der Wilderern auf der Spur war. Die Not nach dem Ersten
Weltkrieg war groß, und so lag es nahe, mit denen im Weltkrieg geübten
Schießkünsten den Kochtopf zu füllen.
Es
konnte nicht nachgewiesen werden, wer von den vieren der war, der den tödlichen
Schuss abgab; als aber Franz Ziehe dann nach Amerika ging, war für viele klar:
Der musste es gewesen sein.
Er
war es aber nicht, denn sein Kumpan beichtete dem Nachbarn auf dem Sterbebett
35 Jahre später seine Schuld, jener war es – und nicht Franz Ziehe.
Leider
ist nicht zu ermitteln, auf welchem Schiff er das Land verlassen hat.
Vielleicht hat er es auch unter einem anderen Namen versucht.
Fräulein Hulda Dolezahl aus Seyda war als
Dienstmädchen in einem Berliner Haushalt tätig. Als sich diese Familie
entschloss, nach Amerika auszuwandern, ging sie einfach mit. Man findet sie
dann wieder mitten in Amerika, wo sie weiter als Haushaltshilfe tätig war. Sie
kam nach dem Krieg dann auch kurz zurück nach Seyda und holte weitere
Familienglieder nach.
1927 ist Wilhelm Nies ausgewandert, aus unserer
Partnergemeinde in Ober-Seemen. Es wird erzählt, es habe ihn keiner leiden
können, und das wäre ein Grund für ihn gewesen, auszuwandern.
Niemand hörte mehr etwas von ihm. Dann aber, in den 80iger Jahren, kam ein Brief an die Kirchengemeinde in Ober-Seemen. Er hatte in Los Angeles großen wirtschaftlichen Erfolg gehabt und nun am Ende seines Lebens sein Erbe für seine Heimatkirche – eben nicht für seine Familie - bestimmt. Wir haben sehr davon profitiert, denn die hessische Kirchengemeinde konnte uns auch aus diesem Grund sehr unterstützen, besonders bei Bauvorhaben. So wurde die Sanierung des Gadegaster Pastorhauses 1998 möglich, weil uns die Partnergemeinde dabei finanziell „unter die Arme griff“. 1927 war das Haus letztmalig grundlegend renoviert worden, und nun geschah dies – auch mit amerikanischem Geld.
Noch vorher muss es eine Auswanderung aus
Mellnitz gegeben haben, denn in der Mellnitzer Kirche steht bis auf den
heutigen Tag ein Harmonium, was in „Woodstock“ in „Canada“ gefertigt wurde. Es
wäre wirtschaftlich unsinnig, ein solches Harmonium vor 100 Jahren in Amerika
zu bestellen, da es in unserem Land auch zahlreiche solche Firmen gab. So lässt
sich die Existenz des Instrumentes nur damit erklären, dass es eine Spende aus
Amerika ist, aus alter Heimatverbundenheit. Und richtig: Nach dem Aussprechen
dieser Vermutung stellte sich heraus, dass es noch heute Briefverkehr von
Mellnitzern zu „alten Verwandten“ in Kanada gibt.
Ein Ruhlsdorfer Lehrer, Fritz Ulrich, war
Junggeselle, hatte sich auf seiner Stelle sehr eingesetzt (unter anderem für
den Schulneubau, dem heutigen Dorfgemeinschaftshaus), geriet aber wegen einer
erzieherischen Maßnahme in Konflikt mit Bewohnern des Ortes und zog es vor,
Lehrer in Mexiko zu werden. Seinen Namen kann man auf einer Passagierliste nach
Vera Cruz 1935 finden, und auch ein Grenzübergang in die Vereinigten Staaten
1937 ist nachweisbar. Immerhin ist er damit dem Krieg entgangen – sein
Nachfolger in Ruhlsdorf ist gefallen.
Der Seydaer Stadt- und Landbote wurde zuerst
im Amtshaus, später auf dem Grundstück, was Franz Ziehe an Klappers verkaufte,
gedruckt, und er ist früher auch nach Australien, in die USA und nach
Deutsch-Südwestafrika verschickt worden, an Auswanderer. Dies geschah
monatsweise, in einer Rolle zusammengefasst. In den 70iger Jahren war ein
Besucher aus den USA in Seyda und erzählte das.
Es ist nicht einfach, alle zu ermitteln, die
aus unserem Städtchen und den umliegenden Dörfern nach Amerika gegangen sind.
Viele sind verschollen oder haben ihre Namen geändert, und selbst von denen,
die man dann gefunden hat, fehlen die genauen Schiffsdaten. Die Registrierung
fand im Hafen oder auf hoher See statt, und nicht jeder Beamte wusste gleich,
wie „Seyda“ richtig zu schreiben ist; auch hat nicht jeder Auswanderer genaue
Daten über seine Herkunft angegeben, denn es galt, nach vorn zu schauen: Das
alte war nicht mehr wichtig.
Der älteste derzeit bekannte
Amerika-Auswanderer aus Seyda ist Friedrich Hermann Schoene. Er wurde am 4.
Juni 1841 in Seyda als Sohn des Schneiders Christoph Schoene geboren und war
der älteste Sohn von 6 Geschwistern. Schon seine Eltern waren zugezogen: der
Vater aus Klöden, die Mutter aus Annaburg, 1840 heirateten sie in Seyda. Am 13.
Juni 1841 ließen sie ihren ersten Sohn taufen. Viel Verwandtschaft gab es hier
nicht, nur einen Onkel, der auch Schneider war: Es wird ihn also nicht viel
hier gehalten haben.
Wir
finden ihn wieder als „Herrmann Schaine“ aus Seyda, „Kingdone of Prussia,
Germany“, am 15. Juni 1898 in San Francisco, Kalifornien – dort hat er einen
Pass beantragt.
Er ist alt geworden, im „Census“, in dem alle
zehn Jahre alle US-Amerikaner gezählt werden, wird er 1920 vermerkt (San
Francisco Assembly District 29, California), da war er 79 Jahre alt und heißt
nun wieder „Herman Schoene“, ist verheiratet mit „Mary“, und es heißt, dass er
1868, also mit 27 Jahren, ausgewandert sei. Lesen und Schreiben kann er auch –
in der Seydaer Schule hatte er es gelernt - , das wurde fest gehalten. Auch im
Jahre 1900 bestätigen sich diese Angaben in der Meldeliste. Da kann man dann
lesen, dass seine Frau 8 Jahre jünger war, und sie eine Tochter „Triene“
(vielleicht Katharina?) haben, die 16 Jahre ist. Es kostete Zeit, eine neue
Existenz aufzubauen, dementsprechend verschoben sich die Zeiten zur
Familiengründung; und sicher war es auch nicht einfach, ein „passendes“ Mädchen
zu finden (ein deutsches), also ist es kein Wunder, dass die Frau jünger ist.
Die
Berufe wechseln, 1889 war er in San Francisco Fotograf; es dürfte nicht zu
schwer sein, noch ein paar Bilder von ihm aufzutreiben.
Ein anderer mit Namen bekannter Auswanderer
ist Moritz Otto Tüllmann. Er wurde am 12. oder 13. August 1854 in „Seyda,
Prussia“ geboren, auch seine Eltern waren in Seyda Zugezogene, der Vater
katholisch „Magistratsassessor und Schnitthändler“. 1920 finden wir ihn als
Otto Tullmann (weil es das „ü“ im Englischen nicht gibt) in San Luis Opispo in
Kalifornien, mit 65 Jahren, da beantragt er am 10. Mai einen Reisepass,
offensichtlich will er eine große Reise antreten. Er hat es geschafft, nennt
ein eigenes Haus sein eigen. 1872, also mit 18 Jahren, ist er ausgewandert, und
seine Frau Lizzie (Elisabeth) ist 13 Jahre jünger.
1880
war er schon an gleicher Stelle, aber alleinstehend, und lebte mit 8 Personen,
die nicht mit ihm verwandt waren, in einem Haushalt.
1900
wird er als „Liquer Dealer“ geführt, also als Verkäufer von Schnaps, 1880 ist
er „Bartender“, also in ähnlicher Branche, 1920 verkauft er Soda, und seine
Frau ist ein „Bookkeeper“.
Und dann hat er wohl eine Reise nach Hause unternommen, denn zum 16. Oktober 1920 ist im Seydaer Kirchenbuch vermerkt, er sei hier gestorben, in der Heimat, mit 66 Jahren. Seine Frau Lizzie muss allein heimreisen, kommt am 24. November in New York an, dort wird eingetragen, dass sie in der Nipomo Street Nr. 1015 in San Luis Opisco, Kalifornien, wohnt, nun Witwe ist und eine Bürgerin der USA seit 1886, weil sie da „eingeheiratet“ hat.
1910 begibt sich Bertha Pawlikowski auf große
Überfahrt nach Amerika, mit 23 Jahren. Als Wohnort gibt sie unser Seyda an, bei
der Abfahrt trägt sie auch noch die Nationalität „Deutsch“ ein, bei der Ankunft
zwar als Geburtsort Seyda, die Volkszugehörigkeit allerdings „Polnisch“: Es ist
zu vermuten, dass sie aus einer Landarbeiterfamilie aus Polen stammte, die
schon damals regelmäßig zum Broterwerb in unsere Gegend kamen.
Eine Familie Ortheil wohnte noch nach dem
Ersten Weltkrieg in Gentha, die Kinder sind noch dort zur Schule gegangen. Sie
wanderten in eine deutsche Kolonie nach Südbrasilien aus, und so kam mancher
Brief mit exotischer Briefmarke nach Gentha.
Begegnungen ganz anderer Art zwischen
Amerikanern und Deutschen gab es dann im Zweiten Weltkrieg. Amerikanische
Tiefflieger hatten in den letzten Kriegstagen die Lufthoheit und jagten auch
der hiesigen Bevölkerung Angst und Schrecken ein. Der Bauer Lindemann wurde auf
dem Feld von einem solchen Flugzeug aus erschossen. Verschiedene Piloten
stürzten ab, so ist in der Heide ein Gedenkstein an Max Miller errichtet
worden: auch ein Auswanderer, der nun „auf der anderen Seite“, aber eben gegen
Hitler und damit auch für ein freies Deutschland kämpfte.
Drei
Tage, nach dem der Krieg auch in Seyda beendet war – und die sowjetischen
Soldaten die Stadt besetzten – trafen sich Amerikaner und Russen nicht weit weg
von hier an der Elbe.
Es
war eine schlimme Zeit für die Bevölkerung hier. Eine Frau berichtet, dass es
dabei eine Nacht „Ruhe“ gab, wo sie endlich wieder einmal in ihrem eigenen Bett
friedlich schlafen konnte: Da kamen ehemalige amerikanische Kriegsgefangene
durch Seyda auf dem Weg „nach Hause“ und machten hier Quartier, sie schützen
die Hausbewohner vor den Russen.
Für
die Männer war es noch ein Glück, in amerikanische und nicht in russische
Kriegsgefangenschaft zu geraten, wiewohl es manchem dort – insbesondere in den
ersten Wochen – auch sehr schlecht gegangen ist. Dann aber kamen viele mit
Schiffen in die „Neue Welt“ und arbeiteten dort, etwa auf Baumwollplantagen im
Süden der USA. Sie berichteten, dass sie gut behandelt worden seien – an Essen
und Trinken fehlte es nicht.
Auch
nach Seyda kamen nach dem Krieg die bekannten „CARE“-Pakete aus Amerika, die
die notleidende Bevölkerung unterstützten. Eine große Geste der Versöhnung nach
dem mit größter Härte geführten Krieg, angestoßen durch die Quäker, eine
Friedenskirche in Amerika. Diese Pakete wurden natürlich nur in den Westzonen
ausgeliefert, aber man konnte sie sich dort abholen. Der ostdeutsche
Sicherheitsdienst bekam die Namen heraus, und so gab es Veröffentlichungen der
Staatsmacht mit grober Verunglimpfung verdienter Seydaer Bürger, die ein
solches Paket in Empfang genommen hatten. Man war mitten im Kalten Krieg!
Das amerikanische Leben rückte näher durch
West-Berlin, was natürlich von Seyda aus gut erreichbar war. Der „Rundfunk im
Amerikanischen Sektor“, RIAS, war ein Radiosender, der bis zur Wende neben
Musik auch viele Informationen brachte.
Gleichzeitig
wurde in der DDR ein Feindbild „USA“ aufgebaut, was sich gegen aggressive
Tendenzen des amerikanischen Imperialismus richtete und durch Ereignisse wie
den Vietnamkrieg viel neue Nahrung erhielt. Im Bewusstsein der Bevölkerung
wurde es angeknüpft an die Feind-Propaganda des Krieges, in dem das
amerikanische Leben schon damals als dekadent beschrieben wurde.
Natürlich
regte sich gegen hier und da Protest; ich werde nicht der einzige Jugendliche
gewesen sein, der eine Karte der USA in seinem Zimmer an der Wand hängen hatte;
aus Morxdorf ist mir in Erinnerung, dass wir Anfang der 90iger Jahre im
Jugendklub Bibelstunden gehalten haben: unter Tarnnetz und Amerika-Fahne. Die
Neue Welt hatte ihre Faszination trotz allem nicht verloren, wenn sie auch nur
sehr gefiltert und verschoben wahrgenommen werden konnte. - Immerhin hießen die
wohlschmeckenden kleinen Kuchen auch in
Seydas Bäckereien weiterhin „Amerikaner“.
Eigene Anschauung gab es wenig durch die
Trennung des Landes und der Welt mit der „Mauer“; es war nicht möglich, zu
reisen, und die Kontaktaufnahme schwierig. In den 50iger Jahren holten
Dolezahls noch einige ihrer Verwandten nach, dann gab es keine Auswanderer mehr
– bedingt durch die politischen Verhältnisse.
Es war deshalb ein Erlebnis besonderer Art,
als 2004 Pastor Hardy für fünf Wochen mit seiner Frau Liz Seyda besuchte. Dies
geschah im Rahmen eines Austauschprogrammes zwischen der amerikanischen
Evangelisch-Lutherischen Kirche und unserer Landeskirche. Unser Bischof hatte
damals bei einem Besuch in Amerika gesagt: „Es ist doch langweilig, dass sich
immer nur die Bischöfe besuchen. Das könnten doch auch einmal die Pfarrer tun.
Lassen Sie uns drei Pfarrer von uns und drei Pfarrer von Ihnen auf die Reise
schicken!“ Diese Idee wurde in die Tat umgesetzt, wenn auch nur einmal, weil
sich nicht so viele sprachkundige fanden, insbesondere in den USA. Pastor Keith
Hardy ist sehr sprachtalentiert, hatte sich schon in seinem Studium mit
Muehlenberg, dem Gründer der Lutherischen Kirche in Amerika, der aus Mitteldeutschland
kam, beschäftigt, und konnte sich gut verständigen.
So standen denn in der Lokalzeitung große
Artikel von den beiden Amerikanern: Noch nie hatte unser Städtchen einen solch
intensiven Besuch aus den USA erlebt. Es wurde registriert, dass er zum Friseur
ging, ebenso wie zahlreiche Besuche in den Häusern und Gemeindekreisen. Im
Englischunterricht der Grundschule waren sie zu Gast, sogar bei der Fahrt zum
Ministerium nach Magdeburg saß er mit in der Delegation aus Seyda, die wegen
des Erhaltes der Schule vorsprach, und sorgte für eine aufgelockerte
Atmosphäre, in dem er zum Schluss kurzerhand seine Visitenkarte zog und alle
nach Amerika einlud. An seinem letzten Sonntag hier predigte er in fünf
Kirchen, und es schien, als ob Heilig Abend mitten im Jahr wäre: Die Kirchen
waren gut gefüllt. Er predigte von den „lebendigen Steinen“, die die Gemeinde
ausmachten, und sein bildhafter und lebendiger Predigtstil machte einen großen
Eindruck.
Er
verrückte die Vorurteile über Amerikaner, die gerade in dieser Zeit durch
kriegerische Auseinandersetzungen im Nahen Osten und die deutliche
Distanzierung der deutschen Regierung davon sehr im Schwange waren: Er war
nicht kriegerisch, sondern sehr kritisch gegenüber dieser Politik, und war
selbst in den sechziger Jahren als Kriegsgegner auf der Straße gewesen. Dabei
sah er aus wie ein richtiger Amerikaner: Mit Cowboyhut, Lederanzug und bunten
Ringen von seiner indianischen Verwandtschaft.
Er
sang den Konfirmanden seinen selbstgedichteten „10-Gebote-Rap“ vor, genauso,
wie er die Gottesdienstgemeinde auch auf ganz kleinen Orten mit seinem
großartigen Gesang begeistern konnte.
Sein
Besuch öffnete uns den Blick für die weltweite Kirche, die Verbundenheit mit
Schwestern und Brüdern auf der ganzen Erde. Mit seiner Verwunderung, dass bei
uns die Kirchen ja ganz zentral mitten im Ort stehen – immer „lutherisch“ sind
und eine reiche Geschichte in sich tragen machte uns deutlich, was wir auch für
Schätze haben.
Der
Gegenbesuch in Baltimore war herzlich. Täglich war von den Erlebnissen unter www.seyda.de zu lesen. Danach gab es dann
weiter wechselseitige Besuche in den Jahren 2005, 2006 und 2007 auch von
Gemeindegliedern; im Seydaer Pfarrgarten wurde zur Erinnerung an die Verbindung
ein Apfel- und ein Birnenbaum gepflanzt. Im Sommer 2007 fuhr eine sechsköpfige
Delegation aus Seyda nach Baltimore, dort wurde ein „Deutsches Fest“, mit
Bratwurst, Sauerkraut und bayrischen Volksliedern, auch mit „Root-Beer“ und
Hüpfeburg gefeiert.
Der erste Amerika-Kontakt der Kirchengemeinde
aber fand am 11. September 2001 statt. An jenem Tag geschah der schreckliche
Terroranschlag in den USA, der die Welt verändert hat und bis heute nachwirkt.
Gegen halb drei Uhr Nachmittag unserer Zeit rammten entführte Passagierflugzeuge
die mächtigen Hochhäuser des World Trade Centers, und sie fielen nach einigen
Stunden in sich zusammen. Tausende Menschen kamen grausam um; die Vereinigten
Staaten waren in ihrem Herzen getroffen: noch nie hatten sie derartige
kriegerische Zerstörungen von einer fremden Macht in ihrem Land erlebt.
Diese
Nachricht erschütterte die ganze Welt. Auch ins Pfarrhaus kamen Menschen mit
der Frage: „Gibt es jetzt Krieg?“
Und
genau in diesen Stunden erwarteten wir Besuch von Amerikanern. Pastor Louis
Platt aus Seattle, ein gebürtiger New Yorker, bereitete mit seiner Frau und
einer Verwandten eine Reise seiner Gemeinde zu den Stätten der Reformation in
Europa vor. In Mainz hatten sie Freunde, weil sie lange in Deutschland als
Studentenseelsorger tätig waren, und diese hatten ihnen gesagt, sie könnten
doch auf dem Weg nach Berlin in Seyda Station machen und hier einen Kaffee
trinken.
So
kamen sie kurz nach den Ereignissen hier in Seyda an, und – es war schon auf
der Straße und in allen Radios und Fernsehapparaten vermeldet worden – wir
sahen uns die Bilder im Fernsehen gemeinsam an. Der Schock war groß.
Die
erste Reaktion war: „Wir haben zu sehr auf unsere Macht und Stärke vertraut.
Wir haben die anderen Völker an den Rand gedrängt. Wir müssen umkehren.“ Gemeinsam
haben wir gebetet und gesungen. Die Orgel erklang: „Ein feste Burg ist unser
Gott“. Am Abend trafen wir uns mit Jugendlichen aus der Gemeinde im CVJM-Haus,
dann fuhren sie wieder weg.
Aber
nach einem Tag kam ein Anruf: „Das hat uns so gut gefallen bei Euch: Können wir
noch einmal kommen?“ So haben sie einen Tag Berlin „gestrichen“ und waren noch
einmal hier. Mit der Videokamera wurde alles aufgezeichnet. Sie sagten: „Das
ist Deutschland: Die kleinen Orte, die Kirchen, die Bauernhöfe, die Häuser. Hochhäuser
haben wir genug selbst in Amerika.“ Wir fuhren über die Orte und zeigten unsere
Kirchen mit ihrer Schönheit, die uns selbst durch das Erstaunen der Amerikaner
auch erst wieder deutlicher hervortrat. So kamen Grüße per Video nach Seattle,
auch mit dem Wort Gottes, doch auch in solch schwieriger Lage keine Furcht zu
haben, sondern auf Gott zu vertrauen und seinen Frieden zu suchen. Da begann
es, dass wir miteinander und füreinander beteten.
Schließlich
kam der Vorschlag: „Wenn Ihr eine Reise macht, dann kommt doch und besucht eine
Gemeinde und Menschen von hier. Das ist doch viel spannender als die üblichen
Hotelzimmer, die ihr auch in Amerika habt!“ Pastor Louis war zunächst
skeptisch: Wie würde das sein, wenn er seine Gemeindeglieder zu ganz fremden Leuten
im fremden Land bringen würde, zum Schlafen und Essen?
Schließlich,
ein Jahr später, versuchten es die mutigsten der Reisegruppe: 15 an der Zahl,
und für eine Nacht, von Sonnabend auf Sonntag. Es wurde eine sehr herzliche
Begegnung. Auf den Orten waren sie untergebracht, und etwa in Naundorf
unterhielt man sich bis weit nach Mitternacht – obwohl weder Gäste noch
Gastgeber die Sprache des Gegenübers konnten. Es war eine großartige Erfahrung
von christlicher Gemeinschaft, über große Distanzen hinweg. „Das war das
Schönste an der Reise durch Europa!“ – dieser Satz war und ist immer wieder von
den Gästen aus Amerika zu hören – unser kleines Seyda mit Naundorf, Ruhlsdorf,
Mellnitz, Mark Friedersdorf, Lüttchenseyda, wo die Gäste 2003 und 2005
untergebracht waren.
Seattle liegt ganz auf der anderen Seite der
Welt, am Pazifischen Ozean. Es ist das Gebiet, was erst sehr spät besiedelt
wurde. Erst in den letzten Jahrzehnten ist die Stadt so angewachsen und berühmt
geworden: mit dem Space Needle (dem Fernsehturm, der dort „Nudel“ genannt wird,
und der das Vorbild für unseren Fernsehturm in Berlin ist; 1963 zur
Weltausstellung gebaut und mit einem drehenden Kaffee in der Kuppel, der
Berliner Fernsehturm wurde 1969 eingeweiht). In Seattle ist Microsoft zu Hause,
ebenso wie das Hauptquartier von „Amazon“, Boeing und Starbucks. Und wir
lernten nun ganz liebe, freundliche Menschen von dort kennen, Christen der West
Side Presbyterian Church, die uns Schwestern und Brüder wurden. Ein „Presbyter“
ist ein Kirchenältester (also jemand aus der Gemeinde, der Leitungsfunktion
hat, ein Wort aus dem Neuen Testament), es ist also auch eine Kirche der
Reformation.
Wohl kaum jemand hier hat die herzliche
Begegnung im Sommer des Jahres 2005 vergessen, wo nun eine ganze Gruppe aus
Seattle kam, um 14 Tage bei uns zu sein. Gemeinsam auch mit dem Ehepaar Jakob
aus Mainz haben sie uns besucht: Pat und John, schon Rentner; Betty und Wendy,
Becky und Tom, Betty und Megan, Joyce, Susan und Lyle, Louise, Louis und
Glenda; Dave, Christin, Natalie, Abraham
und Ben, die Studenten; eine ganz fröhliche Schar: Automechaniker und Lehrerin,
Baumeister und Pastor, Manager und Hausfrau, Banker und Katechetin, Schülerin
und Rentnerin, Künstlerin und Ärztin, Verkäuferin und Geschichtsstudent: Sie
packten alle mit an, gemeinsam mit Menschen von hier und dem Restaurator Schulz
aus Dresden und seinen Mitarbeitern, die kleine Kirche in Mellnitz zu
renovieren, und das Jugendhäuschen in Seyda mit neuer Fassade und einem neuen
Treppenaufgang zu versehen. Da wurde Lehm selbst gemischt, der Lehm kam aus
Naundorf, das Stroh aus Mellnitz; da wurden Schablonen angefertigt – alles mit
denkmalrechtlicher Genehmigung, die Behörden waren selbst erstaunt ob solcher
großartigen Hilfe, dass alles sehr reibungslos und schnell ablief. Es wurde
gearbeitet bis tief in die Nacht, und 10 Minuten vor der Einweihungsfeier wurde
der letzte Farbtopf aus der Kirche getragen.
Es
gab fröhliche Gottesdienste, auch mit den Kindern der Kinderkirchenferientage,
es gab dazu schöne Ausflüge nach Dresden, Mansfeld, Eisleben, Eisenach, Erfurt,
Leipzig, Wittenberg, Jüterbog... in großem Konvoi mit 11 PKWs; es gab herzliche
Begegnungen und neue Freundschaften.
Zum
Schluss wurde in einer Parade dreimal mit dem Spielmannszug um die Mellnitzer
Kirche gezogen, die Straße gesperrt und ein großes Fest gefeiert. Bürgermeister
und Superintendent kamen zur Einweihung, und viele, viele Menschen dazu. Der
Seydaer Heimatverein hatte im Gemeindeblatt von dieser Veranstaltung gelesen,
an dem der „Heimatverein“ beteiligt sein sollte, es war der gerade gegründete
Mellnitzer Heimatverein gemeint, den man in Seyda noch nicht kannte; aber
dieser Umstand brachte es mit sich, dass die Seydaer sagten: Da müssen wir mit
unserer Trachtengruppe hin – was das Fest fein ausschmückte und den Geist
dieser Tage zeigt: viele trugen fröhlich bei.
Gemeinsam
feierten wir das Abendmahl in der Kirche, und saßen oft an gedeckten Tischen.
Ein großes Erlebnis, ein Stück vom Reich Gottes: Jesus Christus, der Herr, mit
seinem Geist in unserer Mitte – über alle Grenzen und Unterschiede hinweg ein
großer Frieden, eine große Freude.
Nach diesem großen Ereignis gab und gibt es
vielfältige Kontakte. Mancher ist herübergeflogen, bis nach Seattle, und wurde
dort herzlich aufgenommen. Mehrmals gab es auch kleinere erneute Besuche in
Seyda. Die Zeitung registrierte, dass die jungen Leute aus Amerika, die nach
dem Bauen in Seyda noch eine Europatour vorhatten, statt Paris einfach zurück
nach Seyda fuhren, weil es ihnen hier so gut gefallen hatte.
Der Nikolaus in dem kleinen Theaterstück zur
Lichterstunde in der Zemnicker Kirche am
6. Dezember war im Jahr 2006 Ben aus Seattle, der wieder zu Besuch war, und von
dem auch das erste Bild von Seyda mit den Pferden im Vordergrund auf dem
Seyda-Kalender für das neue Jahr 2008 ist.
Zustande gekommen ist alles auf wunderbare
Weise: Der 11. September 2001 ist für uns heute nicht nur ein Tag, der an
Furchtbares erinnert, sondern er zeigt auch, dass sich in manchem großen
Schweren auch mit Gottes Hilfe etwas zum Guten wenden lässt und Neues entsteht.
Die Freunde aus Seattle hörten von dem Partnerschaftsaustausch mit Baltimore,
riefen dort kurzerhand an und meinten: „Komm doch herüber, wo Du schon so nah
dran bist!“ So flog ich über die ganzen Staaten hinweg, bis nach Seattle, und
alles konnte gut miteinander vorbereitet werden. Ein Manager von Boeing, Dave,
hatte den „Hut“ auf, und wie er sein Handwerk versteht, war zu merken bei der
Organisation der Arbeit in Seyda und Mellnitz. Die Gemeinde in Seattle
gestaltete einen Deutschen Abend, Pastor Platt zog sich dazu Lederhosen, seine
Frau Glenda ein Dirndl an, es wurde deutsch gekocht und getanzt: und für das
Unternehmen gesammelt. Ein ganz herzlicher Dank für all diese Mühe und
Freundlichkeit soll auch hier gesagt werden!
Die Begegnung mit den amerikanischen Christen
hat uns neu die Größe Gottes vor Augen geführt: „Nähme ich Flügel der
Morgenröte und bliebe am äußersten Meer, so würde auch dort Deine Hand mich
führen und Deine Rechte mich halten.“
„Vom
Aufgang der Sonne bis zu ihrem Niedergang sei gelobet der Name des Herrn.“ – 9
Stunden Zeitverschiebung sind es, aber doch sind wir verbunden durch diesen
Herrn.
Seit
einiger Zeit gibt es in unserem Gottesdienst einen kleinen Punkt mittendrin
„Mit den Kindern“, das haben wir dort gelernt. Der Kindergottesdienst in Seyda
wird mit vielen Materialien von der „Sonntagsschule“ aus Seattle gestaltet.
Ganz viel Unterstützung haben wir bekommen, mit dem großen Werk im Sommer 2005,
aber noch auf viele andere Weise. Auch für den Erhalt der Schule in Seyda wurde
in Seattle und Baltimore gebetet!
So schließt diese kleine Geschichte über die
Beziehungen nach Amerika mit einem fröhlichen Ausblick. Auch in der Ferne kann
man liebe Menschen und eine gute Gemeinschaft finden. Und der Abstand macht
auch neu deutlich, was für einen Schatz wir mit unserer Heimat hier haben.
„Wir
haben hier keine bleibende Stadt,
aber
die zukünftige suchen wir.“
Aus
der Bibel, Hebr 13,14
-
Herzlichen Dank allen, die mir und uns
miteinander die Erfahrungen mit der „Neuen Welt“ ermöglicht haben:
Zuerst
der West Side Presbyterian Church in Seattle und der Epiphany Lutheran Church
in Baltimore mit ihren Gemeindegliedern und Pastoren; dem Ökumene-Referat der
Evangelischen Kirche der Kirchenprovinz Sachsen; den Gemeindegliedern und
–kreisen, die von ihren Erinnerungen und Erlebnissen berichtet haben; der
Maryland Historical Society Baltimore, dem Deutschen Auswandererhaus
Bremerhaven (Museum Europas 2007), www.ancestry.com.
Korrekturen und Ergänzungen sind jederzeit willkommen.
Die Faszination der Freiheit und Weite
Amerikas – sie ist durch die Zeiten geblieben.
In
diesem Heftchen wird über die vielfältigen Beziehungen zwischen unserem
Städtchen und der „Neuen Welt“ berichtet: in Vergangenheit und Gegenwart.
Spenden für dieses Heft sind bestimmt für die
Sanierung der Ostwand der Mellnitzer Kirche, in der bereits vieles auch durch
die Hilfe amerikanischer Christen geschah, wie man hier lesen kann.