Z*
Eine Spurensuche.
In der Recherche zur Festschrift
zum 125. Jubiläum des Diest-Hofes vor 15 Jahren
tauchte sie auf, die Information über ein “Z*Lager in Seyda”.
Was verbirgt sich dahinter? Und warum steht hier “Z*”? Weil die alte
Bezeichnung jenes Volkes eine beschimpfende, herabwürdigende war – und auch
heute noch bei denen, die dazugehören, ist. Das Wort “Gauner” steckt darin, und
dahinter steht eine jahrhundertealte Geschichte des Misstrauens und der
Diskriminierung, die in der Verfolgung und Vernichtung einer halben Millionen
Menschen der Sinti und Roma im Nationalsozialismus gipfelte.
Sie gehörten und gehören
dazu, immer als kleine Minderheit, im Jahr 1407 werden sie erstmals in unserem
Land, in Magdeburg und zeitgleich in Hildesheim, erwähnt - 25.000 waren es
einmal in Deutschland, in der DDR nur noch 300 Sinti. Heute sind sie die
zahlenmäßig kleinste der anerkannten nationalen Minderheiten in Deutschland, neben
Sorben, Dänen und Friesen, sie werden nicht mehr staatlich erfasst, die
Verbände schätzen die Zahl auf 70.000 bis 150.000.
Zwei Gruppen sind es,
“Sinti und Roma”, durchaus verschieden – aber durch eine gemeinsame Sprache, das “Romanes” verbunden. Sie kamen
vor über 600 Jahren aus dem Gebiet des heutigen Pakistans und Indiens – die
Sinti aus dem Punjab. Warum sie sich auf den Weg gemacht haben, kann man nur
vermuten: Wie auch heute ziehen Menschen nicht einfach so aus ihrer Heimat weg,
sondern es gibt Gründe: Verfolgung, Kriege, Naturkatastrophen, wirtschaftliche
Not.
Auf ihrem Weg nach Europa
wurde eine große Gruppe der Roma auf dem Gebiet des heutigen Rumänien versklavt
– bis weit in das 19. Jahrhundert hinein, ähnlich wie in den USA gab es
Sklavenmärkte, und genauso wie dort setzte sich die Diskriminierung und die
prekäre soziale Lage nach der Sklavenbefreiung fort.
Sinti haben sich ihre
besondere Sprache und Kultur bewahrt. Dazu gehört, dass sie sich, wenn es
möglich ist, in ummauerten Gräbern bestatten lassen. Ein solches ganz kleines
Mausoleum steht in Halle-Osendorf. Ein
Familienoberhaupt, “Na-umi”, ließ es sich 1915 bauen
und wurde dort begraben, danach gab es weitere Bestattungen. Es war
offensichtlich eine Zeit, wo so etwas von der deutschen Mehrheitsgesellschaft
zugelassen wurde – was nicht immer der Fall war. Es gibt sehr wenige Quellen,
denn die “Z*” wurden nicht registriert. So ist fast nur aus Zeitungsartikeln
oder mündlicher Überlieferung etwas zu erfahren, etwa wird 1896 von einer
großen “Z*-Hochzeit berichtet, bei der viele Hallenser zuschauten. Anfang
August 2023 gab es eine Zusammenkunft in Halle, wo ein Urenkel von “Na-umi” anschaulich berichtete. Er ist Zahnarzt in Holland.
Seine Mutter überlebte Auschwitz – eine von wenigen - ,
in der Traueranzeige heißt es “Sie überlebte Auschwitz, aber wurde nie davon
befreit.” Nichts hatte sie mehr – ihre Familie war umgekommen, alle
Erinnerungsstücke vernichtet – kein
Foto, keinen Schmuck. Der Sohn beschrieb sie als eine fromme Frau, die jeden Tag
betete, und der wichtig war, ehrlich durchs Leben zu gehen und jeden Tag etwas
Gutes zu tun. Ihre Tochter starb mit 38 – danach hätte sie zwei Jahre nicht
gebetet, sagt er – aber sie sei doch ihr Leben lang “katholisch” gewesen: Wenn
auch nicht “registriert”. Die Hochzeit damals in Halle hätte nicht mit einem
Priester stattfinden können - da es ja keine standesamtliche Eintragung gab –
und so habe der Vater die Ehe geschlossen. Der Sohn berichtete anschaulich vom
Leben der Familie: In Osendorf bei Halle befand sich
das Winterquartier mit der Wagenburg, und in der anderen Zeit des Jahres wurde
mit den Wagen gezogen zwischen Bulgarien und Litauen, es wurde mit Pferden
gehandelt (das kann man auch auf dem Wappen am Mausoleum sehen) und zu Festen
musiziert.
1938 verfügte das
nationalsozialistische Deutschland eine “Feststellung” - alle “Z*” mussten nun
an dem Ort bleiben, wo sie gerade waren, und durften nicht mehr im Land
umherziehen. Im Dezember 1942 wurde der Vernichtungsbeschluss gefasst, in den
nächsten Monaten transportierte man die etwa 23.000 in Deutschland verbliebenen
“Z*” nach Auschwitz. Dort kamen 20.078 um – 6000 in der Nacht vom 2. auf den 3.
August 1943, weshalb der 2. August ein besonderer Gedenktag dafür ist. In den
Polizeiakten dieser Zeit findet sich jene furchtbare Stigmatisierung, die aus
der Zugehörigkeit zu einer Volksgruppe minderwertige und kriminelle
Verhaltensweisen ableitet. Und das geschah und geschieht auch weiterhin: Nach
dem Krieg hatten es die Sinti und Roma schwer, als Naziverfolgte anerkannt zu
werden. Sie mussten als einzige Opfergruppe einen festen Wohnsitz und eine
“normale” Arbeit nachweisen, sonst bekamen sie keine Unterstützung. Eine
Rückkehr an ihre alten Wohnorte sowie eine Entschädigung wurde ihnen oft
verwehrt. Deshalb versteckten sie oft ihre Identität. Die Mutter des
holländischen Zahnarztes, Enkeltochter des „Na-umi“,
wurde ob ihrer Schönheit wohl oft nach ihrer Herkunft gefragt – und der Sohn
bekam gesagt, er solle sagen, sie stamme aus Ungarn. Auch in Seyda gibt es Menschen, die schon seit Kriegsende hier
wohnen und deren Vorfahren Sinti waren – keiner weiß es.
In Westdeutschland
erreichte stetiger Bürgerprotest die Anerkennung – 1982 durch Bundeskanzler
Schmidt -, in der DDR gab es Einzelkämpfer, die durch Eingaben in den 80iger
Jahren die Rücknahme einzelner Diskriminierungen, das Errichten von Gedenkorten
und die Erwähnung etwa im Konzentrationslager Buchenwald durchsetzten.
Die kirchliche Zeitschrift „Die Christenlehre“ nahm sich 1986 des Themas als
Unterrichtsinhalt an – ein Lichtblick in der Kirchengeschichte, wo es sonst
viele sehr schlimme Äußerungen gegenüber den Z* gibt, etwa bei Luther, der das
vorherrschende Vorurteil kritiklos übernahm – 1498 war dieses ganze Volk vom Reichtstag als „vogelfrei“ erklärt worden -, aber auch im
römisch-katholischen Konzil von Trient 1546, wo die Z* von der Mission
ausgeschlossen wurden – all das schwere Dissonanzen zum Evangelium Jesu
Christi.
Die etwa 300 Sinti in der
DDR sind fast nicht in Erscheinung getreten, zumal sie oft auch einen festen
Wohnsitz hatten. Nach der Wende sind Roma in unser Land gekommen – aus Rumänien
und Bulgarien, zuletzt aus der Ukraine. Einige davon sind heute im Straßenbild
großer Städte zu sehen – die meisten von ihnen aber befinden sich in prekären
Arbeitssituationen, so in großen Schlachtbetrieben. Einem Menschen als Menschen
zu begegnen und ihn nicht “einzuordnen” nach seinem Aussehen und Herkommen –
das ist weiter nicht selbstverständlich und macht es immer noch schwer, auch
für die nachwachsende Generation, über Bildung eine neue soziale Stellung zu
erwerben.
Anfang der 50iger Jahre
fuhren wohl zum letzten Mal jene Wagen durch unsere Orte – eine Frau, die
damals etwa 5 Jahre alt war und in Gadegast wohnte,
berichtet: „Wenn die Z* durchs das Dorf kamen, mussten die Rolladen
heruntergemacht werden, und wir Kinder haben neugierig durch die Schlitze
geguckt.“ Ich fragte sie: „Und was haben Sie gesehen?“ Und sie konnte sich nur
noch an mehrere Wagen erinnern. In Gentha wird von
einer zwei Jahre älteren Frau berichtet, dass die Kinder alle ins Haus mussten,
weil „die „Z* kamen, und es hieß: „Sie nehmen Kinder mit.“ Später, als junges Mädchen,
erzählte ihr ein Tanzpartner, er sei als kleiner Junge auf diese Weise
mitgenommen worden – nun ist sie sich heute nicht mehr sicher, ob er vielleicht
nur Eindruck machen wollte – fragen kann man ihn nicht mehr. Aus Leipa wird berichtet, dort sei tatsächlich ein kleines Kind
aus dem Dorf mitgefahren – bis nach Arnsdorf – das ist ein knapper Kilometer.
Zur gleichen Zeit sind auch
Z* in Morxdorf gewesen – an drei Wagen wird sich dort
erinnert, und dass sie um Geld und Waschmittel baten, und in Ruhlsdorf. Sie führten dort ein Theaterstück auf und
sammelten Geld. Einem Ruhlsdorfer sollen sie
vorhergesagt haben, er würde nicht lange leben. Das hat ihn sehr beschäftigt,
aber er lebt heute noch.
Über wie viel Generationen
Nachrichten – und Gerüchte – weitergegeben werden können, zeigt dieser Bericht:
Die Urgroßmutter, aus Naundorf stammend, war „in Stellung“ in Mellnitz. Eine Z*frau kam auf den Hof und wollte Geld, und
sie konnte ihr keins geben. Da stieß sie einen Fluch aus: „Deine Eltern werden
dieses Jahr sterben!“ Tatsächlich starb Ende März 1893 der Vater – mit 45
Jahren – und im Mai 1893 die Mutter mit 49 Jahren, beides ist im Kirchenbuch festgehalten.
– Wie geht man mit so einer Geschichte um? Wie bei vielen Dingen werden wir nie
ganz dahinter kommen. Natürlich kann es so sein, dass
die Eltern starben und sich das Mädchen hinterher erinnerte: Da war eine Frau,
und die hat etwas Unfreundliches gesagt – und wie schnell wird es dann beim
Weitererzählen „in den Mund“ geschoben. Freilich gibt es auch Dinge zwischen
Himmel und Erde, die wir nicht erklären können. Aber was man auf keinen Fall
machen darf – und das geschah und geschieht jedoch immer wieder: Dass man einem
Angehörigen der Sinti heute eine böse Absicht oder böses Verhalten zuschreibt,
es gewissermaßen daraus ableitet.
Ebenso kann man auch nicht
von jedem Sinti heute erwarten, dass er super musikalisch ist oder sich bestens
mit Pferden auskennt – oder etwa nur richtig glücklich „beim Reisen“ ist. Der
Zentralrat der Sinti und Roma hat die übliche Fahne –
rot und grün mit einem roten „Rad“ (eigentlich ein indisches Symbol) abgelehnt,
weil das Vorurteil des „fahrenden Volkes“ damit transportiert würde.
Nun, es gab also in Seyda relativ wenig Berührungsflächen mit Sinti und Roma –
manche Worte ihrer Sprache aber werden häufig gebraucht: Zum Beispiel das Wort
„Bock“ haben („Lust auf etwas verspüren“), das Wort „Kaff“ für einen kleinen
Ort – oder das Wort „Zaster“ für Geld.
Das Bild von dem
„Z*-Lager“, was im Archiv des Diest-Hofs gefunden
wurde, könnte aus den 50iger Jahren stammen. Die „Feststellung“ in der Nazizeit
kann Seyda nicht betroffen haben, denn dann wären sie
über längere Zeit hier gewesen und hätten mehr Spuren hinterlassen; und
Sammelstellen zur Überführung in ein Konzentrationslager waren an Orten, die
einen Eisenbahnanschluss hatten.
Wer noch etwas zu diesem Thema
berichten kann, sei herzlich darum gebeten.
2. Oktober 2023 / 29. Oktober 2023
Quellen: Romano Sumnal:
Roma und Sinti in Sachsen. Eine vergessene Minderheit? 2023. // Markus Hawlik-Abramowitz und Simone Trieder:
Sinti in der DDR. Alltag einer Minderheit. 2020.// www.welt.de (Rolf Bauerdick: „So sind
sie halt, die Z*“, 2011). // www.scriptum-geschichte.de (Seminararbeit von Miriam
Breß: „…wie die Z*“ – das Feindbild „Z*“ bei Luther,
2013). Das Foto ist aus dem Archiv des Diest-Hofes Seyda.
Auf die Frage, was er von den Z* gelernt habe,
sagt der siebenbürgische Pfarrer und Schriftsteller Eginald
Schlattner: "Lebenslust und Gottvertrauen".
Ein besonderes Volk ist es, oft verachtet, gefürchtet,
vertrieben. Sie gehörten und gehören dazu: In unserer Geschichte, und in der
Gegenwart Europas.
Auch zu Jesu Zeiten gab es eine Gruppe von
Menschen, um die die meisten einen Bogen machten: Die Samariter. Es ist
bemerkenswert, dass Jesus auch auf sie zuging und sie oft in seinen Geschichten
vorkommen, wie in einem der bekanntesten Gleichnisse:
„Ein
Samariter aber, der auf der Reise war, kam dahin; und als er ihn sah, jammerte
es ihn; und er ging zu ihm, goss Öl und Wein auf seine Wunden und verband sie
ihm, hob ihn auf sein Tier und brachte ihn in eine Herberge und pflegte ihn. Am
nächsten Tag zog er zwei Silbergroschen heraus, gab sie dem Wirt und sprach:
Pflege ihn; und wenn du mehr ausgibst, will ich dir´s bezahlen, wenn ich
wiederkomme.“
(Lk
10,33-35)